Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Die Erstürmung des Kegels

Als der Kapitän den Schuß hörte, glaubte er, daß sein Flibustier auf ein Tier gefeuert hätte.

Er rief nochmals seinen Namen. Ein leises Zischen wie von einer Schlange antwortete ihm. Das machte ihn stutzig. Hinter einem großen Simarubebaum verborgen, spähte er nach allen Seiten.

Da sah er, wie sich die Gräser drüben leicht bewegten. Das Ohr auf die Erde geduckt, hörte er ein Rascheln, das der Boden deutlich übertrug.

Carmaux kroch vorsichtig näher. Er hatte weder seine Büchse noch seine Fische losgelassen.

»Bist du getroffen worden?« fragte ihn der Korsar besorgt.

»Ich bin lebendiger denn je. Aber wo mag der Kerl geblieben sein, der auf mich geschossen hat?«

Da sich niemand zeigte, kletterten sie eiligst den steilen Abhang wieder hinauf. Einer von ihnen ging immer rückwärts, den Gewehrlauf auf den Wald gerichtet.

»Sie werden uns erst die Nacht angreifen. Inzwischen bereiten wir unser Essen! Für uns den Fisch – für sie das Blei! Wir wollen sehen, wer besser verdaut!«

Kaum hatten die Flibustier den ersten Bissen im Munde, als ein mächtiger Kanonenschuß vom Meer her dröhnte. Eine zweite Kugel großen Kalibers traf den Felsgipfel über ihnen und zersprang mit großem Getöse.

»Sie wollen uns pulverisieren und wie die Rochen zerquetschen!« rief Carmaux. »Aber wenn die Karavelle uns beschießt, so beschießen wir die Spanier!«

»Hat dir ein Sonnenstich dein Gehirn verbrannt?« fragte Stiller. »Wo hast du denn die Kanonen her?«

»Wir rollen einfach die Steinblöcke den Abhang hinunter! Der ist so steil, daß diese großen Geschosse kaum unterwegs haltmachen!«

»Die Idee ist gut! Verteilen wir uns!« rief jetzt der Kapitän. »Jeder auf seinen Posten! Nehmt euch in acht, daß ihr keine Kugelsplitter bekommt!«

Inzwischen versuchten die Matrosen der Karavelle von zwei Seiten aus, die steilen Abhänge des Kegels zu erklimmen.

Man hörte, wie sie sich durch Zerschneiden der Lianen und Wurzeln nur schwer im Dickicht Bahn brachen. Die einen gingen durch eine Art Cañtildeon, die andern nahmen den Weg um den Teich.

»Halten wir den Trupp zuerst auf, der uns im Rücken bedroht!« befahl der Korsar.

Und auf seinen Wink rollten die Flibustier nun eine Anzahl Blöcke den Abhang hinunter. Diese stürzten lawinenartig in die Tiefe, Bäume und Sträucher mit sich reißend. Bald hörte man unten Schreckensrufe und Gewehrschüsse.

»Ich glaube, sie haben genug!« rief Stiller, der von seinem Standpunkt aus beobachten konnte. »Ich sehe schon wieder viele absteigen und unter den Bäumen verschwinden. Andere aber klettern die Cañonwände hoch!«

»Noch eine Ladung!«

Und wieder wälzten sie Felsstücke den Hang hinab. »Nun zu den andern!«

»Wenn die nicht schon inzwischen bei der Hitze ihren Durst im Teich gelöscht haben, Kapitän! Dann sind sie von der Kolik erfaßt worden und belästigen uns nicht mehr!« Alle drei horchten angestrengt nach jener Seite. Sie hörten keinen Laut mehr.

»Entweder sind sie stehengeblieben aus Furcht vor den verheerenden Wirkungen unserer Artillerie, oder sie schleichen leise wie die Schlangen an uns heran«, meinte der Kommandant.

Stiller, der am Rand des Felsens stand, duckte sich und schoß in den Wald hinein. Der Schall hallt lange unter den Bäumen wider. Aber nichts erfolgte darauf. Nun feuerte man nach allen Richtungen, auch diesmal ohne Antwort zu erhalten.

»Diese Stille beunruhigt mich«, sagte Carmaux.

Auch der Korsar war unruhig geworden. Er befürchtete einen Hinterhalt der Spanier.

»Hoffentlich gibt es keine unangenehme Überraschung!«

»Mir wäre auch ein ordentliches Gewehrfeuer lieber!«

Plötzlich schrie Stiller von oben belustigt herab: »Dort unten am Ufer benehmen sich die Soldaten wie Verrückte! Sie halten sich alle den Bauch.«

»Ah, der Niku hat seine Schuldigkeit getan!« lachte Carmaux. »Könnten wir ihnen nicht ein Beruhigungsmittel durch Flintenpillen schicken?«

»Nein, laßt sie in Ruhe! Wir müssen unsere Munition für den entscheidenden Augenblick aufsparen. Außerdem tötet man nicht Menschen, die sich nicht verteidigen können.«

»Kapitän, da der erste Angriff der Feinde mißlang, wollen wir den Waffenstillstand mit der Fortsetzung unseres Mahles ausfüllen! Wir haben noch Schildkröte und Fisch.«

Während sich die beiden Seeleute wieder am Herdfeuer beschäftigten, um den Rochen fertigzubraten, begab sich der Korsar auf seinen Beobachtungsposten. Die Karavelle hatte ihren Ankerplatz noch nicht verlassen, doch herrschte auf der Brücke eine ungewöhnliche Bewegung. Es schien, als ob man sich dort um eine große Kanone zu schaffen machte, die auf der Schiffsschanze mit dem Lauf nach oben stand, als ob das Feuer gegen die Kegelspitze wieder eröffnet werden sollte. Die vier Schaluppen segelten längs des Strandes hin. Man befürchtete wohl einen Fluchtversuch der Belagerten. Diese hatten aber doch weder Boote zur Verfügung, noch konnten sie die große Entfernung schwimmend durchmessen!

Nach einiger Überlegung schlug der Kapitän seinen Leuten vor, den Durchbruch der Blockade zu wagen und sich einer der Schaluppen zu bemächtigen.

»Wie lange braucht ihr bis zur Catatumbomündung?«

»Vielleicht eine Stunde kräftigen Ruderns. Es sind jedoch viele Sandbänke davor, so daß man Gefahr läuft, bei zu schneller Fahrt zu stranden.«

»Wird uns aber nicht die Karavelle verfolgen?« fragte Stiller.

»Wenn auch! Wir wollen es, sobald der Mond aufgegangen ist, unternehmen!«

Während des ganzen Tages gaben weder van Gould noch die Matrosen der Karavelle ein Lebenszeichen von sich. Sie waren so sicher, die drei auf der Spitze des Kegels nistenden Flibustier früher oder später zu fangen, daß sie einen Angriff für überflüssig hielten.

Sicherlich dachte man, sie durch Hunger und Durst zur Übergabe zu zwingen, um so mehr, als der Gouverneur den berühmten Korsaren lebend haben wollte, um ihn, wie dessen Brüder, auf der Plaza von Maracaibo zu hängen.

Als der Abend kam, trafen die Flibustier ihre Vorbereitungen zum Abmarsch. Sie verteilten die Munition, so daß auf jeden ungefähr dreißig Schüsse kamen, und verließen in völliger Stille ihr kleines befestigtes Lager.

Wie Reptilien krochen sie den Abhang hinunter. Sie tasteten den Erdboden mit den Händen ab, damit die trockenen Blätter nicht raschelten. Auch mußten sie acht geben, daß sie nicht in eine Spalte oder Schlucht fielen.

»Ich habe in der Nähe einen Zweig knacken hören!« flüsterte Carmaux plötzlich.

Alle drei lauschten, im Grase ausgestreckt, mit verhaltenem Atem.

»Glaubst du, daß wir sie fangen werden, Diego?« fragte eine Stimme.

»Ja, aber sie werden sich tüchtig verteidigen! Der Schwarze Korsar soll für zwanzig kämpfen!«

»Warum brennen die Lagerfeuer noch unten?«

»Um die Flibustier zu täuschen. Der Gouverneur wollte es so. Er ist listig.«

»Er ist ein Kriegsmann!«

»Eine schöne Summe hat er uns ausgesetzt: zehntausend Piaster zum Essen und Trinken! Carrai!«

Der Schwarze Korsar und seine beiden Leute hatten sich nicht gerührt. Sie lagen unbeweglich zwischen den Gräsern, hielten aber die Gewehre im Anschlag, um im Notfall zu feuern.

Mit ihren scharfen Augen sahen sie die beiden Matrosen behutsam durch Laub und Lianen streichen. Sie waren schon an ihnen vorüber, als der eine stehenblieb: »Hast du nichts gehört, Diego?«

»Nein, Kamerad!«

»Mir war, als ob ich einen Atemzug vernahm!« »Es wird ein Insekt oder eine Schlange gewesen sein!«

Nach diesem kurzen Gespräch verschwanden die beiden im Schatten der Pflanzen.

Die drei Flibustier warteten noch einen Augenblick, dann schlichen sie weiter.

»Ich hätte keinen Heller mehr für unsere Haut gegeben«, bemerkte Stiller. »Einer von ihnen ist so nahe an mir vorübergegangen, daß er mich beinahe getreten hätte!«

»Das wird eine böse Überraschung, Carmaux, wenn sie nur Dornen und Steine finden!«

»So werden sie diese statt uns dem Gouverneur bringen!«

»Vorwärts!« mahnte der Korsar.

Der Abstieg erfolgte ohne Hindernis. Sie nahmen den Weg durch den Cañon, möglichst weit von der Karavelle entfernt. Noch vor Mitternacht gelangten sie an den Strand.

Vor ihnen lag eine der vier Schaluppen. Ihre aus zwei Matrosen bestehende Mannschaft war an Land gegangen und schlief, in Sicherheit gewiegt, an einem halberloschenen Feuer.

»Sollen wir die beiden Matrosen nicht töten?« fragte Carmaux.

»Nicht nötig«, antwortete der Korsar. »Schnell! Schiffen wir uns ein! In wenigen Minuten werden die Spanier unsere Flucht bemerkt haben.«

Mit einem leichten Stoß stießen sie die Schaluppe ins Wasser, sprangen hinein und ergriffen die Ruder.

Sie waren schon eine Strecke weit und hofften bereits, ohne Störung entfliehen zu können, als plötzlich Gewehrschüsse oben von der Kegelspitze ertönten. Die Spanier hatten das Lager erreicht.

Die beiden Matrosen erwachten jedoch von den Schüssen. Als sie sahen, daß ihre Schaluppe fort war, stürmten sie an den Strand und brüllten wie besessen: »Halt! Halt! Wer da!... Zu den Waffen!«

Dann knallten Gewehrschüsse.

»Der Teufel hole euch!« brach Carmaux los, als ihm eine Kugel das Ruder dicht am Bootsrand zerschmetterte.

»Nimm ein anderes Ruder!« rief der Korsar. »Siehst du denn nicht, es verfolgt uns schon ein Boot!«

Inzwischen wurde immer noch auf der Bergkuppe geschossen.

Die Schaluppe mit den Flibustiern durcheilte pfeilschnell das Wasser und hatte nur fünf bis sechs Meilen noch bis zur Mündung des Catatumbo. Die Entfernung war immer noch erheblich, doch bestand die Möglichkeit, den Verfolgern zu entfliehen, wenn die wachthabenden Mannschaften der Karavelle nichts von dem bemerkten, was am Südstrand der Insel vor sich ging.

Das Boot der Spanier hielt am Ufer, um die beiden Matrosen aufzunehmen, was für die Flibustier einen Gewinn von weiteren hundert Metern bedeutete.

Der Alarm am Ufer war auch auf der Nordseite der Insel gehört worden.

Zwei andere Schaluppen eilten herbei. Die eine war sogar mit einer kleinen Feldschlange bewaffnet.

»Wir sind verloren«, rief der Korsar, »aber wir wollen unser Leben teuer verkaufen!«

Drei mit vielen Matrosen bemannte Schaluppen kamen in immer bedrohlichere Nähe.

»Ergebt euch, oder wir bohren euch in den Grund!« rief eine Stimme. »Niemals!« erwiderte der Korsar.

»Der Gouverneur verspricht, euch das Leben zu schenken.«

»Hier meine Antwort darauf!« rief der Korsar.

Er hatte die Büchse erhoben und einen der Ruderer niedergeschossen.

Ein Wutgeschrei erhob sich aus den Booten.

»Feuer!« befahl eine Stimme.

Die Feldschlange entzündete sich mit großem Getöse. Einen Augenblick später neigte sich der Bug der verfolgten Schaluppe, und das Wasser drang in Strömen ein.

»Ins Meer hinein!« schrie der Korsar und warf die Flinte fort.

Die beiden Flibustier entluden noch ihre Gewehre gegen die Verfolger, dann stürzten sie sich ins Wasser. Die Schaluppe, deren Bug von der Geschützkugel zerschmettert worden war, hatte sich umgelegt.

»Nehmt die Säbel zwischen die Zähne!« rief der Kapitän. »Wir wollen auf dem Wrack sterben!«

Das Wasser drang in die Stiefelschächte und Kleider der drei Piraten, so daß sie sich nur mühsam an der Oberfläche halten konnten. Dennoch versuchten sie zu dem umgelegten Boot zu schwimmen.

Die Spanier wollten sie lebend fangen, denn sonst wäre es ihnen ein leichtes gewesen, sie im Schwimmen zu erschießen. So aber erreichten sie sie mit wenigen Ruderschlägen, trafen sie aber so ungeschickt mit dem Schiffsbug, daß die Flibustier untersanken.

Sofort wurden die Fliehenden aber mit einem eisernen Griffe erfaßt und an Bord der Schaluppe gezogen. Man band sie fest, noch ehe sie sich von dem Schlag erholen konnten, der sie unter Wasser gebracht hatte. Als der Korsar inne wurde, was geschehen war, befand er sich liegend am Hinterdeck der Schaluppe, die Hände rückwärts gebunden, während man seine Gefährten unter die Bänke des Bugs geworfen hatte.

Ein vornehmer Mann in kastilianischer Kleidung saß neben ihm, das Steuer in der Hand.

Der Korsar fragt erstaunt: »Ihr seid es, der mich verhaftet?«

»Ich, Herr von Ventimiglia!« antwortete lächelnd der Kastilianer.

»Hat Graf Lerma vergessen, daß ich ihn im Hause des Notars in Maracaibo hätte töten können, aber es nicht tat?«

»Ich habe es nicht vergessen«, erwiderte der Graf leise.

»Und doch habt Ihr mich zum Gefangenen gemacht und werdet mich zum flämischen Herzog führen. Erzählte ich Euch, daß van Gould meine beiden Brüder erhängt hat?«

»Ja, Cavaliere.«

»Wißt Ihr nichts von dem schrecklichen Haß, der zwischen ihm und mir herrscht?«

»Auch das weiß ich.«

»Und daß er mich erhängen wird?«

»O nein!«

»Ihr glaubt es nicht?«

»Möglich, daß der Herzog so bestimmt, aber es hängt noch von einem andern Willen ab, dem meinigen, den ich durchsetze. Wisset, die Karavelle gehört mir, und die Matrosen folgen mir!«

»Van Gould ist Gouverneur von Maracaibo, und alle Spanier müssen ihm gehorchen!«

»Er wird sehen, daß ich ihn befriedigt habe. Die späteren Ereignisse gehören mir. Wartet also ...!« sagte der Graf mit einem geheimnisvollen Lächeln. Dann beugte er sich zum Korsaren hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Gibraltar und Maracaibo liegen weit voneinander entfernt. Ich werde Euch bald zeigen, Cavaliere, wie Graf Lerma mit dem Flamländer spielt. Ihr schweigt vorläufig!«

In diesem Augenblick hatte die von den beiden andern Fahrzeugen begleitete Schaluppe die Karavelle erreicht. Auf einen Wink des Grafen packten die Matrosen die Flibustier und brachten sie an Bord des Seglers. Da rief eine Stimme triumphierend: »Endlich habe ich auch den letzten Ventimiglia in meiner Hand!«


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