Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Ein verhängsnisvoller Schwur

Der kleine Trupp marschierte, vom Neger geführt, der alle Wege und Stege im Walde kannte, rasch vorwärts, um noch vor Morgen das Golfufer zu erreichen. Alle waren besorgt, daß das Schiff, welches am Eingang des Sees kreuzen sollte, festgehalten worden wäre, da, wie man wußte, der Gouverneur von Maracaibo Boten nach Gibraltar geschickt hatte, um den Admiral von Toledo zu Hilfe zu rufen.

So war zu befürchten, daß das stark bewaffnete und von Hunderten von tapferen Seeleuten, meist Biskayern, bemannte Geschwader schon den See passiert und die »Fólgore« zerstört hatte.

Der Korsar hüllte sich in Schweigen, aber man merkte ihm die Unruhe an. Zuweilen blieb er stehen, um etwas zu erlauschen.

Oft mußten die Fliehenden bei einigen vom Blitze zerstörten Baumgiganten oder bei sumpfigen Gewässern Umwege machen, die Zeitverlust bedeuteten.

Um zwei Uhr morgens hörte Carmaux ein fernes Brausen, das die Nähe des Meeres ankündigte.

»Wenn alles gutgeht, so sind wir in einer Stunde an Bord«, sagte er zum Kapitän.

Dieser nickte nur mit dem Kopfe.

Der Seemann hatte sich nicht getäuscht. Das Rauschen der Wellen wurde immer deutlicher. Man hörte auch in Zwischenräumen den Schrei der früh erwachenden Wildgänse, Tieren mit schwarzem Gefieder und weißem Kopfe. Sie schwammen am Ufer des Golfs.

Ein niedriges, von Sumpfpflanzen bedecktes Gestade wurde sichtbar, das sich, so weit das Auge reichte, in wunderlichen Kurven nach Nord und Süd ausdehnte. Der Himmel war von den Ausdünstungen der ungeheuren Sümpfe in Nebel gehüllt. Noch herrschte tiefe Finsternis, aber das Meer wurde hier und dort wie von Feuerlinien nach allen Richtungen durchzuckt.

Die Wogenkämme schienen Feuer zu sprühen, und der Gischt, der am Ufer lag, hatte einen herrlichen, phosphoreszierenden Schimmer. Manchmal blitzten weite Stellen im Meere, die vorher schwarz wie Tinte gewesen waren, hell auf, als ob sie von unten elektrisch erleuchtet würden.

»Meeresleuchten!« rief Stiller.

»Der Teufel soll es holen!« brummte Carmaux. »Haben sich denn die Fische mit den Spaniern verbunden, um uns die Flucht zu erschweren?«

»Nein«, antwortete Stiller, geheimnisvoll auf den Leichnam weisend, den der Neger trug. »Die Wellen blitzen, um anzudeuten, daß sie den Roten Korsaren aufnehmen wollen!«

»Es muß wohl so sein«, murmelte Carmaux.

Der Schwarze Korsar blickte indessen über das Meer in die Ferne. Er unterschied einen großen Schatten, dessen Umrisse sich deutlich auf der schimmernden See abzeichneten.

»Die »Fólgore« ist da!« rief er erfreut. »Sucht die Schaluppe!«

Carmaux und Stiller orientierten sich, an welchem Punkte des Gestades sie sich befänden. Dann eilten sie die Küste gegen Norden hinauf und suchten überall inmitten der Sumpfpflanzen, die ihre Wurzeln und gelben Blätter in den leuchtenden Wellen badeten, nach dem Boot. Endlich, nach einem Kilometer Weges, hatten sie es entdeckt.

Sie fuhren schnell zu der Stelle, wo der Kapitän und der Neger auf sie warteten. Dort legten sie die in den schwarzen Mantel gewickelte Leiche zwischen zwei Bänke, bedeckten das Gesicht sorgsam und ruderten nun mit aller Kraft vorwärts.

Der Neger, der das Gewehr des gefangenen Spaniers zwischen den Knien hielt, hatte sich an den Bug gesetzt, während der Korsar am Heck saß, dem toten Bruder gegenüber. Er überließ sich wieder seinen melancholischen Gedanken. Unbeweglich saß er da, den Kopf in die Hände gestützt und die Augen auf die Leiche gerichtet, deren Formen sich unter dem schwarzen Tuche abzeichneten. Es war, als ob er seine ganze Umgebung vergessen hätte, selbst sein Schiff, das sich immer mehr vom schimmernden Meere abhob und wie ein großer, schwimmender Wal aussah. Die Oberfläche, auf der es dahinglitt, nahm sich wie gesponnenes Gold aus.

Indessen glitt auch das Boot rasch durch die Wellen. Das Wasser flammte um den Kahn, und der Gischt, den die Ruder aufspritzten, erschien wie von Feuer durchglüht.

Unter den Wolken trieben in jener Lichtorgie eine Unzahl seltsamer Mollusken ihr Spiel. Die großen Medusen wurden sichtbar. Die Knollenquallen tanzten wie Leuchtkugeln beim Hauch der nächtlichen Brise. Einige glänzten, als ob Diamanten über sie verstreut wären. Wieder andere leuchteten wie glühende Lava. Sie sahen mit ihren sonderbaren Schwänzen wie achtspitzige Malteserkreuze aus. Die zierlichen Segelquallen schimmerten, befreit von ihrer Schale, im sanften, bläulichen Licht, Scharen von andern Meerestieren mit runden, stachligem Körper gaben blaßgrüne Reflexe.

Fische jeder Art schnellten empor und tauchten wieder unter, leuchtende Furchen hinterlassend. Polypen jeglicher Form sandten bunte Lichter nach allen Richtungen hin, während an der Oberfläche des Wassers große Seekühe schwammen, die in jenem Jahrhundert noch häufig vorkamen. Mit ihren langen Schwänzen und ihren Seitenflossen erzeugten sie beachtliche Wellen.

Die von den kräftigen Armen der beiden Flibustier geruderte Schaluppe flog wie ein schwarzer Schatten rasch über die flammenden Wogen. So wäre sie eine gute Zielscheibe für die Kanonen des spanischen Geschwaders gewesen, hätte sich Admiral Toledo jetzt in jenen Gewässern befunden.

Aber nicht nur Befürchtungen, die feindlichen Schiffe zu sichten, machten die beiden Seeleute unruhig; auch abergläubische Gedanken hatten inmitten des funkelnden Meeres sich ihrer bemächtigt. Der Tote, den sie im Boote hatten, und die Gegenwart des düstern Kapitäns, den sie nie anders als in Trauerkleidung gesehen, flößten ihnen Angst ein. Sie konnten den Augenblick nicht erwarten, endlich an Bord der »Fólgore« bei ihren Kameraden zu sein.

Schon trennte sie nur eine Meile von dem Schiffe, das ihnen entgegenkam, als ein seltsamer Schrei, einem Klageton ähnlich, der in Schluchzen endete, ihr Ohr traf. Sie hielten, furchtsam um sich schauend, mit dem Rudern inne.

»Hast du das gehört?« fragte Stiller, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirne.

»Ja«, antwortete Carmaux mit unsicherer Stimme. »Könnte es nicht ein Fisch gewesen sein?«

»Ich habe nie gehört, daß Fische solche Töne ausstoßen können.«

»Wofür hältst du es denn?«

»Ich weiß es nicht, aber es hat mir Grauen eingeflößt.«

»War es vielleicht der Bruder des Toten ...?«

»Schweig, Kamerad!«

Alle beide blickten zum Schwarzen Korsaren hinüber, aber dieser schien nichts gehört zu haben. Er hielt den Kopf noch immer gestützt, und die Augen waren auf den Leichnam gerichtet.

»Gott steh uns bei!« murmelte Carmaux und ergriff wieder das Ruder. Dann wandte er sich zum Neger um: »Hast du auch den Schrei gehört, Gevatter?«

»Ja!« antwortete dieser.

»Was kann das gewesen sein?«

»Vielleicht eine Seekuh!«

»Das könnte sein, aber ...«

Im selben Augenblick war hinter dem Heck der Schaluppe, inmitten schimmernden Schaumes, ein dunkles Etwas aufgetaucht, das sogleich wieder in die Tiefe zurückschoß.

»War das nicht ein Kopf?« fragt Stiller atemlos. Der Hals war ihm wie zugeschnürt.

»Ja«, antwortete Carmaux zähneklappernd. »Ein Totenkopf! Das war der Grüne Korsar, der uns verfolgt, um den Roten Korsaren entgegenzunehmen!«

»Mich schaudert!« sagte Stiller.

»Und du, schwarzer Gevatter, hast du nichts gesehen?«

»Ja, den Kopf einer Seekuh!«

»Der Teufel hole dich mitsamt deinen Seekühen!« brummte Carmaux. »Es war ein Totenkopf ohne Augen.«

In diesem Moment ertönte eine Stimme vom großen Schiff her über das Meer: »Oihe! Wer da?«

»Der Schwarze Korsar!« schrie Carmaux.

Die »Fólgore« näherte sich rasch wie eine Seeschwalbe, indem sie die blitzenden Fluten teilte. In ihrer schwarzen Farbe ähnelte sie dem sagenhaften »Fliegenden Holländer« oder dem schwimmenden »Sargschiff«.

Längs der Brüstung stand die Mannschaft in Reih und Glied. Alle waren bewaffnet.

Am Heck hinter den Verfolgungskanonen sah man die Schützen, mit der angezündeten Lunte in der Hand. Und auf der Spitze des Girksegels wehte das große, schwarze Banner des Korsaren mit kreuzweise gestellten, goldenen Buchstaben in bizarrer Verschnörkelung.

Die Schaluppe legte an Backbord an, während das Schiff Anker warf, und die Seeleute warfen das Tau vom Bord.

»Herunter das Takelwerk!« hörte man eine laute Stimme.

Das Boot wurde, auf einen Pfiff des Obermaats, an Bord gezogen mitsamt den Personen darauf.

Als der Kiel gegen das Schiffsdeck stieß, schien der Schwarze Korsar aus seiner Schwermut zu erwachen. Er schaute sich um, beugte sich dann über den Leichnam, nahm ihn in seine Arme und legte ihn zu Füßen des Hauptmastes nieder.

Die Mannschaft grüßte stumm, unbedeckten Hauptes, die Leiche.

Morgan, der Vizekapitän, war von der Kommandobrücke herabgestiegen und erwartete schweigend die Befehle seines Vorgesetzten.

»Tut, wie es Brauch ist!« sagte der Korsar mit gesenktem Kopf.

Dann schritt er langsam über das Oberdeck, betrat die Kommandobrücke und blieb dort unbeweglich, wie eine Statue, mit auf der Brust gekreuzten Armen.

Es begann gegen Osten zu dämmern. Dort, wo der Himmel sich mit dem Meere zu vereinigen schien, stieg ein blasses Licht auf, welches das Seewasser bläulich färbte. Es war nicht rosa , wie gewöhnlich, sondern trübe, fast grau, eisenähnlich.

Inzwischen waren das große Banner des Korsaren zum Zeichen der Trauer auf Halbmast heruntergelassen und die Rahen der Flaggenstöcke in Kreuzform gesetzt worden.

Die ganze Besatzung befand sich auf Deck. All diese Männer mit den von Sonne und Seewind gebräunten Gesichtern standen in Trauer ernst vor der Hülle des Roten Korsaren, die der Obermaat, zusammen mit zwei Kanonenkugeln, in eine große Hängematte gelegt hatte.

Am Horizont wurde es heller, aber die Meereswellen leuchteten noch immer um das Schiff und schlugen dumpf gegen die Flanken und um den hohen Bug. Bald klang es wie Seufzer, bald wie Klagen.

Plötzlich hallte Glockenklang vom Heck her. Die ganze Mannschaft war in die Knie gesunken, als der Maat, unterstützt von drei andern Seeleuten, die Leiche emporhob und auf die Brüstung des Backbords legte.

Feierliches Schweigen herrschte an Bord des unbeweglich auf dem leuchtenden Wasser liegenden Schiffs. Sogar das Meer schwieg jetzt und murmelte nicht mehr.

Aller Augen waren auf den Schwarzen Korsaren gerichtet, dessen dunkle Gestalt sich vom grauen Horizont seltsam abhob. Es schien, als ob sie riesenhafte Formen angenommen hätte. Er stand aufrecht auf der Kommandobrücke mit der im Morgenwinde wehenden schwarzen Feder, den einen Arm auf die Leiche ausgestreckt.

Da unterbrach seine kräftige Stimme das Schweigen.

»Hört mich, Seeleute! Ich schwöre bei Gott, bei diesen Meereswellen, die unsere Gefährten sind, und bei meiner Seele, daß ich keine Ruhe mehr finden soll, bis ich meine beiden von van Gould hingemordeten Brüder gerächt habe! Mögen die Blitze mein Schiff anzünden, möge meine Seele bis in Ewigkeit verdammt sein, wenn ich nicht den Gouverneur töten und seine ganze Familie umbringen werde, wie er die Meinigen umgebracht hat! ... Habt ihr mich gehört?«

»Ja!« antworteten die Flibustier, während ein Schauer durch ihre Reihen ging und Grausen sich auf ihren Mienen malte.

Auf einen Wink des Kommandanten versenkte nun der Obermaat die Hängematte mit dem toten Körper des Roten Korsaren ins Meer. Hochauf spritzten die Wellen mit flammender Gischt.

Alle Mann hatten sich über die Brüstung gebeugt. In dem phosophoreszierenden Wasser sah man klar den Leichnam in die Tiefe sinken und verschwinden.

In diesem Augenblick wurde wieder jener geheimnisvolle Schrei hörbar, der die beiden Bootsleute vor kurzem so erschreckt hatte. Sie standen unter der Kommandobrücke und sahen sich erblassend an.

»Das ist der Ruf des Grünen Korsaren, der den Bruder begrüßt«, murmelte Garmaux.

»Die beiden werden sich auf dem Meeresgrunde getroffen haben«, bestätigte Stiller mit erstickter Stimme.

Ein kurzer Pfiff unterbrach ihr Gespräch.

»Braßt an Backbord!« schrie der Maat. »Die Stange anluven!«

Die »Fólgore« hatte gedreht und lief jetzt um die kleinen Inseln des Sees herum, worauf sie sich dem großen Golf zuwandte, dessen Wasser unter den ersten Sonnenstrahlen erglühten. Das Meeresleuchten war plötzlich verglommen.


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