Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Verfolgung des Gouverneurs

Inzwischen plünderten die Flibustier und Bukanier, die den Befehlen des Basken und Olonesen unterstellt waren, nach Herzenslust die ausgestorbene Stadt, wo sie keinen Widerstand fanden. Später wollten sie die Bewohner in den Wäldern aufstöbern, um sie auch ihrer letzten Habseligkeiten zu berauben.

Der Schwarze Korsar und seine vier Gefährten, die sich mit Gewehren und Lebensmitteln versehen hatten, begaben sich nun an die Verfolgung des Gouverneurs. Als sie die Stadt im Rücken hatten, durchquerten sie die sich an dem großen Maracaibosee entlangziehenden Waldungen auf einem kleinen, kaum sichtbaren Pfade.

Die ersten Spuren der Flüchtlingen im feuchten Waldboden wurden sofort entdeckt, nämlich die Huftritte von acht Pferden.

»Seht Ihr!« rief der Katalonier triumphierend. »Hier ist der Gouverneur mit seinem Hauptmann und den sieben Soldaten geritten, von denen einer ohne Pferd abmarschiert ist, da es gerade im Augenblick das Bein brach!«

»Glaubst du, daß sie einen großen Vorsprung vor uns haben?« fragte der Korsar.

»Fünf Stunden vielleicht!«

»Das ist viel, doch wir sind ja gute Fußgänger!«

»Hofft nur nicht, daß ihr sie heute oder morgen noch erreichen werdet! Ihr kennt die Wälder Venezuelas nicht! Wir werden uns auf unerwartete Überraschungen gefaßt machen müssen!«

»Wieso?«

»Raubtiere und Wilde können uns überfallen!«

»Mich schrecken weder die einen noch die andern.«

»Die Kariben sind furchtbar!«

»Sie werden es auch mit dem Gouverneur sein.«

»Es sind seine Verbündeten, nicht Eure!«

»Meinst du, daß er sich von den Wilden den Rücken decken läßt?«

»Schon möglich, Kapitän!«

»Das beunruhigt mich nicht! Die Wilden haben mir nie Furcht eingejagt!«

»Um so besser, Caballero, seht, hier fängt der große Wald erst an!«

Plötzlich verlor sich der Pfad. Ein undurchdringliches Dickicht dehnte sich vor ihnen aus, das den Reitern scheinbar keinen Durchgang gewährt hatte.

Niemand kann sich einen Begriff machen von der üppigen Vegetation des feuchten, heißen Bodens der südamerikanischen Regionen. Auf dieser Erde, die seit Jahrhunderten ständig von Blättern und Früchten befruchtet wird, nehmen die einfachsten Pflanzen kolossale Dimensionen an.

Wohl in keinem andern Teil der Welt sieht man solche Pflanzenmassen.

Der Schwarze Korsar und der Spanier blieben vor dem Dickicht stehen und lauschten aufmerksam. Indessen untersuchten seine Leute das dichte Laubwerk der Bäume, ob es irgendeine Überraschung bärge.

»Wo mögen die Fliehenden nur durchgekommen sein?« fragte der Korsar. »Ich sehe ja keine einzige Öffnung in dieser Pflanzenwelt. Die Bäume sind ja von Lianen dicht umwunden!«

»Ich hoffe doch nicht, daß sie der Teufel geholt hat«, murmelte der Katalonier »Es täte mir für die fünfundzwanzig Stockhiebe leid, die mir noch auf dem Rücken brennen.«

»Und ihre Pferde können doch keine Flügel gehabt haben«, sagte der Kapitän kopfschüttelnd.

»Der Gouverneur ist listig und wird versuchen, seine Spuren zu verwischen. Ist irgendein Geräusch im Walde zu hören?«

»Ja!« rief Carmaux. »Dort hinten scheint Wasser zu fließen!«

»Dann bin ich auf der richtigen Fährte. Folgt mir, Caballeros!«

Der Soldat ging zurück, um den Erdboden genau zu untersuchen. Endlich fand er die Pferdespuren wieder, denen er folgte, indem er durch eine Palmengruppe drang. Es waren Carien, die einen stacheligen Stiel und den echten Kastanien ähnliche, aber traubenförmig hängende Früchte hatten.

Vorsichtig weiterschreitend, um mit seinen Kleidern nicht an den langen, spitzen Stacheln der Stiele hängenzubleiben, gelangte er bald an die Stelle, wo Carmaux das Rinnen eines Wasserlaufs vernommen hatte. Er blickte wieder auf die Erde und suchte zwischen den Blättern und Gräsern die Fußtritte der Vierfüßler; dann aber schritt er aus, bis er an ein zwei bis drei Meter breites, trübes Gewässer gelangte.

»Ah!« rief er belustigt, »habe ich's nicht gesagt, daß der Alte mächtig schlau ist!«

»Was meinst du damit?« fragte der Korsar etwas ungeduldig.

»Daß er mit Absicht das Flüßchen benutzt hat, um zu verschwinden und seine Spuren zu verwischen!«

»Ist es tief?«

Der Spanier senkte seinen Degen hinein, um Grund zu finden.

»Höchstens fünfunddreißig bis vierzig Zentimeter tief.«

»Sind Schlangen darin?«

»Nein, sicherlich nicht.«

»Also los durchs Wasser, und zwar schnell! Wir werden ja sehen, wie weit sie mit ihren Pferden gekommen sind!«

Alle fünf, der Spanier zuerst, der Neger als Rückendeckung zuletzt, durchschritten nun das schlammige, von trockenen Blättern angefüllte, übelriechende Gewässer.

Es war voll von niedrigen und hohen Wasserpflanzen, die an vielen Stellen zerrissen oder niedergetreten schienen. Dort gab es Mucumucusträucher, feine Aroiden, die sich mühelos durchschneiden ließen, da ihre Stiele schwammartiges Mark enthielten. Außerdem silbern schimmerndes Schilfrohr mit glatten Stielen, die zum Bau leichter Flöße dienen. Auch holzige Stengel der Robinien – eine Lianenart –, die einen milchigen Saft enthalten, der, mit Flußwasser vermischt, die seltsame Eigenschaft besitzt, die Fische zu berauschen, und noch viele andere Pflanzen, die den Durchgang beschwerlich machten.

Eine tiefe Stille herrschte unter diesen großen Gewässern, die ihre Zweige oft kreuzweise über den schmalen Wasserlauf breiteten. Nur von Zeit zu Zeit hörte man in regelmäßigen Abständen einen Laut, der so natürlich wie ein Glockenton klang, daß Carmaux und Stiller beunruhigt den Kopf hoben. Dieser klare Laut, welcher mit seinem Silberklang sich weiter fortpflanzte und alle Echos des Urwaldes meilenweit weckte, rührte nicht von einer Glocke, sondern von einem weißen, von den Spaniern Campanaro genannten Vogel her, der so groß wie eine Taube ist, und dessen Ruf man drei Meilen weit hört.

Die kleine Karawane eilte schweigend voran. Man war begierig, zu entdeckten, wie weit der Gouverneur und seine Begleitung die Pferde gebraucht hatten. Plötzlich erfolgte am linken Ufer eine kräftige Detonation, gefolgt von einem Regen kleiner Geschosse, die prasselnd wie Hagelkörner ins Flüßchen fielen.

»Donnerwetter!« rief Stiller, der sich instinktiv gebückt hatte, um der Gefahr zu entgehen, »wer beschießt uns da?«

Auch der Korsar hatte sich, mit dem Gewehr im Anschlag, niedergekauert, und seine Gefährten waren schnell zurückgesprungen. Nur der Katalonier war ruhig geblieben.

»Werden wir angegriffen?« fragte ihn Carmaux.

»Ich sehe niemand«, antwortete er.

»Hast du denn das Knallen nicht gehört?«

»Das ängstigt mich nicht.«

Ein zweiter, noch stärkerer Knall ertönte diesmal von oben, und wieder fiel ein Geschützregen ins Wasser.

»Das ist ja eine Bombe!« schrie Carmaux.

»Ja, aber eine Pflanzenbombe!« erwiderte der Spanier. »Ich kenne sie.«

Er wies nach dem rechten Ufer und zeigte den Gefährten eine Pflanze, eine Euforbacee, fünfundzwanzig bis dreißig Meter hoch, mit stachligen Zweigen und zwanzig bis dreißig Zentimeter breiten Blättern. An der äußersten Spitze hingen runde Früchte, die in einer fast holzigen Hülle steckten.

»Gebt acht!« sagte er. »Die Früchte sind verdorrt.«

Und wieder platzte eine der Kugeln geräuschvoll auf und schüttelte rechts und links einen Körnerregen aus.

»Sie tun nichts«, rief der Spanier, als er Carmaux und Stiller zurückweichen sah. »Es sind ja nur Samenkörner. Wenn die Frucht reift, wird die holzige Schale hart, springt nach einer gewissen Zeit auf und streut die in sechzehn innern Abteilungen eingeschlossenen Samenkörner in alle Winde.«

»Kann man die Früchte wenigstens essen?«

»Sie enthalten eine milchige Substanz, die aber nur von Affen genossen wird.«

»Zum Teufel mit den Bombenbäumen«, sagte Carmaux empört, »ich glaubte schon, daß uns die Spanier des Gouverneurs beschießen!«

»Vorwärts!« mahnte der Kapitän. »Vergeßt nicht, daß ihr auf der Verfolgung seid!«

Sie nahmen ihren Marsch durch das Flüßchen wieder auf, aber nach zweihundert bis dreihundert Schritten bemerkten sie ein Hindernis: schwärzliche Massen, die halb im Wasserschlamm lagen.

»Ich sollte mich sehr irren, wenn da nicht die Pferde des Gouverneurs lägen«, meinte der Spanier.

»Langsam!« flüsterte der Korsar. »Die Reiter könnten nicht weit davon lagern!«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Katalonier. »Der Gouverneur würde vorsichtiger sein. Er hat sich auf eine hartnäckige Verfolgung Eurerseits gefaßt gemacht.«

»Wenn auch! Wir wollen achtgeben!«

Sie luden ihre Flinten, schritten gebückt in einer Reihe, wie es die Indianer machen, weiter und suchten sich unter den tief über das Flüßchen herabhängenden Baumzweigen zu verbergen. Doch alle zehn bis zwölf Schritte blieb der Spanier lauschend stehen und prüfte die an beiden Ufern wachsenden Sträucher und Lianen, weil er immer einen Überfall befürchtete.

Endlich gelangten sie an die Stelle, wo sich die dunklen Massen befanden. Sie hatten sich nicht getäuscht: Es waren wirklich die Kadaver der acht Pferde, die nebeneinander halb im Wasser lagen.

Der Katalonier wälzte mit Hilfe des Negers eins herum und sah, daß es mit einem Navajastoß getötet worden war.

»Ich erkenne sie wieder«, sagte er. »Es sind die Pferde des Gouverneurs.«

»Wo sind aber die Reiter geblieben?« fragte der Korsar.

»Sie werden tiefer in den Wald hineingegangen sein!«

»Siehst du keine Öffnung zwischen den Bäumen?«

»Nein – aber diese Schlauberger! Seht ihr den abgebrochenen Zweig dort, von dem noch ein wässriger Saft tropft? Und da sind wieder zwei andere Zweige abgebrochen! ... Nun ist es klar! Die Flüchtlinge haben sich auf diese Zweige geschwungen und dann jenseits des Dickichts wieder heruntergelassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als dieses Manöver nachzuahmen.«

»Nichts ist für die Seeleute leichter«, sagte Carmaux. »Also hinauf!«

Der Spanier reckte seine langen Spinnenarme empor und schwang sich auf einen großen Zweig; die andern kamen hinterher.

Vom ersten Zweig ging es auf einen zweiten horizontal hingestreckten, dann auf einen dritten, zu einem andern Baum gehörigen, und so setzte sich dieser Marsch durch die Lüfte etwa dreißig bis vierzig Meter lang unter ständiger Beobachtung der Äste und Blätter fort.

Plötzlich rutschte der Spanier inmitten eines Lianennetzes zur Erde nieder und stieß ein Triumphgeschrei aus.

»Du hast wohl einen goldenen Kieselstein gefunden?« rief Carmaux. »Die sollen in diesem Lande häufig sein!«

»Nein, aber einen Dolch, der vielleicht einen noch größeren Wert für uns hat!«

»Gut für das Herz des Gouverneurs!«

Auch der Schwarze Korsar war auf den Boden gesprungen und hob einen mit Arabesken geschmückten Dolch mit kurzer Klinge und einer Spitze, fein wie eine Nadel, auf.

»Den muß der Kapitän verloren haben, der den Gouverneur begleitet«, sagte der Soldat. »Er hatte einen solchen im Gürtel stecken.«

»Also hier haben sie wieder ›Fuß gefaßt‹!« sprach der Korsar.

»Da ist auch der Pfad, den sie sich mit ihren Äxten gebahnt haben. Ich weiß, daß jeder eine solche hatte. Sie hing am Pferdesattel.«

»Das ist gut«, meinte Carmaux. »So sparen sie uns die Mühe, und wir kommen schneller vorwärts.«

»Still«, rief der Korsar. »Hörst du nichts?«

»Gar nichts!« entgegnete der Spanier, nachdem er einige Augenblicke gelauscht hatte. »Sie haben ja einen Vorsprung von vier bis fünf Stunden!«

Sie betraten nun den Weg, den die Flüchtlinge inmitten des Urwalds geöffnet hatten. Ein Irrtum war unmöglich; denn die abgeschlagenen Zweige, die in großer Zahl auf dem Boden herumlagen, waren noch nicht verwelkt.

Der Spanier und die Flibustier fingen sogar an zu laufen, um den Vorsprung etwas einzuholen. Aber wieder wurde der schnelle Marsch von einem unvorhergesehenen Hindernis gehemmt, das der Neger mit seinen bloßen Füßen und Carmaux und Stiller mit ihren kurzen Stiefeln nur mit äußerster Vorsicht überwinden konnten.

Die Hemmung bestand aus einer großen Anzahl Dornen, die ganz dicht zwischen den Riesenstämmen des Waldes wuchsen. Diese Dornenpflanzen kommen häufig in den Urwäldern Venezuelas und Guayanas vor. Da sie so scharf sind, daß sie durch jeden Stoff, sogar durch Schuhsohlen dringen, ist für denjenigen, der nicht mit dicken Ledergamaschen und starken Stiefeln geschützt ist, ein Durchkommen unmöglich.

»Donnerwetter!« schrie Stiller, der als erster in den Dornen hängenblieb. »Ist das der Weg zur Hölle? Wir werden ja hier geschunden wie der heilige Bartholomäus!«

Auch Carmaux, der zurückgesprungen war, brüllte: »Paßt auf! Wenn wir diesen Leidensweg gehen müssen, kommen wir nur als hinkende Krüppel heraus. Die Zauberer, die in diesem Walde hausen, sollten eine Tafel mit der Inschrift ›Durchgang verboten!‹ aufhängen!«

»Leider ist es schon zu spät, einen andern Weg zu suchen«, seufzte der Katalonier. »Seht!«

Fast mit einem Schlage erlosch das Tageslicht. Eine tiefe Finsternis senkte sich über den Wald.

»Müssen wir hier bleiben?« fragte der Korsar mit gerunzelter Stirn.

»Ja, bis der Mond aufgeht, bis Mitternacht. Da werden auch die Flüchtlinge ihren Marsch unterbrechen müssen.«

»Also lagern wir!«


 << zurück weiter >>