Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Menschenfresser im Urwald

Sie waren immer tiefer in den Wald hineingedrungen, an Tausenden von Palmen vorbei, mit stacheligen Stengeln, die den Durchgang fast unmöglich machten, und mächtigen Lianen, welche die Indianer zum Bau ihrer Hütten verwenden.

Zur Vermeidung eines Überfalls schritten sie behutsam vorwärts, nach allen Seiten hin lauschend und nach jedem Gebüsch spähend, hinter dem Indianer versteckt sein konnten.

Das Signal hatte man nicht mehr gehört, doch wies alles darauf hin, daß Menschen hier vorbeigegangen waren. Die Vögel waren verschwunden, ebenso die Affen wegen der Gegenwart ihrer Todfeinde, der Indianer: denn diese lieben das Fleisch von beiden Tieren und machen eifrigst Jagd auf sie.

Nach einem angestrengten Marsch hörten sie plötzlich Töne, wie sie die Indianer ihren Bambusflöten entlocken.

»Stiller!« wandte sich der Korsar an den Hamburger. »Bring den geheimnisvollen Spieler zum Schweigen!«

Der Seemann, ein tüchtiger Schütze, der mehrere Jahre Bukanier gewesen, richtete das Gewehr auf das Gehölz und versuchte, den Indianer zu entdecken oder eine Stelle zu erspähen, wo die Blätter sich bewegten, dann schoß er blindlings drauflos.

Dem übereilten Schuß folgte ein Schrei, der sich bald in ein Gelächter verwandelte.

»Teufel!« schrie Carmaux. »Du hast dein Ziel verfehlt!«

»Donnerwetter!« brüllte Stiller wütend. »Hätte ich nur ein Stückchen seines Schädels sehen können, würde der Hund nicht mehr lachen!«

»Das macht nichts«, sagte der Korsar. »Jetzt wissen sie, daß wir bewaffnet sind, und werden vorsichtiger sein.«

Der Wald wurde düsterer und wilder: ein Chaos von Bäumen, gigantischen Blättern und mächtigen Wurzeln, die kaum zu unterscheiden waren, da die Sonnenstrahlen in die dichten Laubwölbungen nicht dringen konnten. Es herrschte eine drückende, feuchte Wärme unter den Kolossen der Äquatorflora, die den tapferen Wanderern den Schweiß aus allen Poren trieb. Mit dem Finger auf dem Schnapper, mit offenem Auge und gespanntem Ohr, so schritten sie weiter. Instinktiv fühlten sie, daß der Feind nicht fern sein konnte. Kein Geräusch störte die tiefe Stille im Walde.

Sie befanden sich auf einem schmalen Pfad, als der Spanier sich plötzlich bückte und hinter einem Baumstamm Schutz suchte. Ein leichtes Schwirren durchdrang die Luft, dann flog ein dünner Stab durch das Laubwerk und blieb in einem Zweig in Manneshöhe stecken.

Carmaux ließ seine Muskete knallen.

Die Detonation war noch nicht verhallt, als ein langes Schmerzensgeheul im Gebüsch erscholl.

»Dich habe ich getroffen!« brüllte Carmaux triumphierend.

»Gebt acht!« warnte der Katalonier

Vier bis fünf Pfeile, jeder wohl einen Meter lang, pfiffen über die Flibustier hin, die sich schnell zu Boden geworfen hatten.

»Dort im Dickicht sind sie!«

Alle schossen gleichzeitig ihre Flinten ab, aber nichts erfolgte darauf.

»Sie scheinen genug zu haben«, meinte Stiller.

»Bleiben wir hinter den Bäumen versteckt«, rief der Katalonier, »denn jetzt raschelt es auf der andern Seite!«

»Wenn van Gould glaubt, er könne uns durch die Indianer aufhalten, so irrt er. Wir kommen trotz aller Hindernisse vorwärts.«

Wieder hörte man melancholische Flötentöne.

Der Korsar wurde ungeduldig: »Wir marschieren einfach weiter!« rief er entschlossen.

So schritten sie in einer Reihe hintereinander vor und feuerten, ohne Rücksicht auf die Munition, bald nach rechts, bald nach links. Dieses mächtige Getöse schien Eindruck auf die geheimnisvollen Feinde zu machen, denn keiner wagte, sich zu zeigen. Ab und zu pfiff wohl ein Pfeil über die Schar hin, doch ohne zu treffen.

Schon glaubten die Flibustier, der Falle entronnen zu sein, als ein riesiger Baumstamm umfiel und den Weg mit dumpfem Krachen versperrte.

»Donnerwetter«, schrie Stiller, »der hätte uns beinahe zu Brei zermalmt!«

Kaum hatte er ausgesprochen, als sich ein wütendes Geschrei erhob und viele Pfeile durch die Luft schwirrten.

Der Kapitän und seine Leute hatten sich sofort hinter dem gefallenen Baum, der zur Verschanzung dienen konnte, zu Boden geworfen.

Da hörten sie in kurzer Entfernung abermals Flötentöne.

»Sie kommen!« rief Stiller.

»Empfangt sie mit einer tüchtigen Ladung!« befahl der Korsar.

»Nein, wartet, Herr!« sagte jetzt der Spanier, der den traurigen Tönen aufmerksam gelauscht hatte. »Das ist kein Kriegsmarsch! ... Seht ihr nicht jenen Mann? Es ist der ›Piaye‹ des Stammes, der Zauberer. Er wird als Parlamentär abgeschickt worden sein.«

Jetzt trat ein älterer Indianer, gefolgt von zwei Flötenspielern, aus dem Gebüsch.

Wie fast alle Indianer Venezuelas war er von mittlerer Statur, hatte breite Schultern und eine rötlich-gelbe Haut, etwas dunkler als gewöhnlich, anscheinend durch die Gewohnheit dieser Wilden, zum Schutz gegen Mückenstiche ihren Körper mit einer Salbe aus Fischtran oder Kokosnuß und Orleanbaum einzureiben.

Sein rundes, offenes, eher schwermütiges als wildes Gesicht war ohne Bart, den sich die Leute seiner Rasse meist ausreißen, aber der Kopf war mit langen blauschwarzen Haaren bedeckt.

Als Zauberer seines Stammes trug er ein Röckchen aus blauer Baumwolle. Sein reicher Schmuck bestand aus Muschelketten, Ringen, Armbändern aus Jaguarkrallen und Oberarmringen aus massivem Gold. Auf dem Kopfe trug er ein Diadem aus langen Papageifedern und Fasanenfedern, und die Nase war von einer drei bis vier daumenlangen Fischgräte durchzogen. Die beiden andern waren ebenfalls mit Schmuck überladen. Sie trugen lange hölzerne Bogen, ein Bündel Pfeile mit Knochen- oder Feuersteinspitzen und den »Batu«, eine mächtige, meterlange flache Keule, die schachbrettartig und bunt bemalt war und einen umgebogenen Rand hatte.

Der »Piaye« näherte sich auf fünfzig Schritt dem Baum und schrie mit Stentorstimme in schlechtem Spanisch: »Weiße Männer, hört mich an!«

»Die Weißen hören dich!« erwiderte der Spanier.

»Dies ist das Reich der Arawaken! Wer hat euch erlaubt, unsere Wälder zu betreten?«

»Wir haben durchaus nicht die Absicht, die Wälder der Arawaken zu entweihen«, entgegnete der Katalonier, »wir durchschreiten sie nur, um in ein anderes Gebiet zu kommen, wo Weiße leben. Wir wollen keinen Krieg mit roten Männern, im Gegenteil, wir möchten ihre Freunde sein.«

»Die Freundschaft der Weißen ist nichts für die Arawaken! Diese Wälder gehören uns! Kehrt zurück in euer Land, oder wir fressen euch allesamt auf!«

»Piaye!« rief der Korsar vortretend. »Sagt uns, sind andere weiße Männer hier vorübergekommen?«

»Ja! Wir folgen selbst ihren Spuren. Da sie nicht hörten, werden wir sie verzehren.«

»Und ich helfe dir, sie umzubringen! Es sind meine Feinde!«

»Warum wollt ihr sie auf unserem Gebiet töten? Weiße Männer, kehrt zurück, ich warne euch!«

»Ich habe dir doch gesagt, daß wir keine Gegner sind! Wir achten deinen Stamm, deine Hütten und deine Ernte!«

»Weiße Männer, kehrt zurück!« erwiderte der Zauberer mit noch größerem Nachdruck.

»Genug! Wir werden unsern Weg fortsetzen, trotz eurer Drohung!«

»Und wir werden es verhindern!«

»Wir haben Waffen, die Donner und Blitze senden!«

»Und wir unsere Pfeile!«

»Wir haben Säbel, die schneiden, und Degen, die durchbohren!«

»Und wir unsere Batus, die den festesten Schädel zerschmettern!«

»Bist du vielleicht der Verbündete der weißen Männer, die wir verfolgen?« fragte der Korsar. »Nein, denn wir wollen sie ja verspeisen!«

»Vorwärts, Gefährten!« rief der Korsar. »Zeigen wir den Indianern, daß wir sie nicht fürchten!«

Als der Piaye sie so mutig mit gezogenen Schwertern vorbeischreiten sah, verschwand er mit den beiden Flötenspielern im Dickicht.

Der Kapitän hatte seinen Leuten verboten, auf ihn zu feuern, da er den Kampf nicht als erster beginnen wollte.

Er war wieder der große Flibustier der Tortuga, der schon so viele Beweise außerordentlicher Kühnheit gegeben hatte. Unerschrocken führte er seine kleine Schar mitten durch den Wald.

Bald schwirrten Pfeile durch die Zweige, was Carmaux und Stiller mit Flintenschüssen erwiderten. Sie feuerten aber blindlings drauflos, denn es zeigte sich kein Indianer.

So gelangten sie glücklich durch den dichtesten Teil des Waldes bis zu einer Lichtung, wo sich ein stehendes Gewässer befand.

Die Sonne war schon dem Untergehen nahe. Da keine Pfeile mehr flogen, befahl der Korsar, hier auszuruhen. Alle waren zum Umsinken müde.

»Wenn sie uns angreifen wollen, können wir sie hier erwarten«, sagte er zu seinen Gefährten. »Die Lichtung ist so groß, daß wir ihr Kommen bemerken würden.«

»Ein guter Platz«, meinte der Spanier. »Die Indianer sind nur im Dickicht gefährlich, an offenen Stellen wagen sie nicht, anzugreifen. Ich werde das Lager herrichten.«

»Willst du denn eine Verteidigungsschanze bauen?« fragte Carmaux. »Das würde zu lange dauern, Freundchen!«

»Es genügt ein Feuerwall.« »Da springen sie hinüber! Sie sind doch keine Jaguare, die sich vor Feuer ängstigen!«

»Aber vor diesem Kraut! Das ist starker Pfeffer, den ich während des Marsches gesammelt habe.«

Er hielt einige Büschel hoch.

»Ich werfe das Kraut ins Feuer, und vor dem aufsteigenden Rauch haben sie Angst. Wenn sie den Feuerwall überschreiten, brennen ihnen die Augen derart, daß sie für mehrere Stunden blind sind.«

»Donnerwetter! Wo hast du das her?«

»Das habe ich von den Kariben gelernt. Auf! Sammelt Holz! Dann können wir sie seelenruhig erwarten.«


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