Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Der Gefangene

Der Korsar hatte sich dem Gefangenen gegenüber auf eine Baumwurzel gesetzt, während die beiden Flibustier sich als Wachen am Ende des Wäldchens aufgestellt hatten, weil man nicht sicher war, ob der Verhaftete noch Kameraden in der Nähe hatte. »Sage mir, hängt mein Bruder noch?« fragte er nach kurzem Schweigen.

»Ja«, antwortete der Spanier. »Der Gouverneur hat befohlen, ihn drei Tage und drei Nächte hängen zu lassen, bevor man ihn den wilden Tieren im Walde vorwirft.«

»Glaubst du, daß man seinen Leichnam rauben kann?«

»Vielleicht. Bei Nacht ist nur eine einzige Schildwache auf der Plaza de Granada. Die fünfzehn Gehenkten können doch nicht entfliehen.«

»Fünfzehn!« rief der Korsar. »Hat der grausame van Gould nicht einen einzigen am Leben gelassen?«

»Keinen!«

»Und fürchtet er nicht die Rache der Tortugapiraten?«

»Maracaibo ist gut mit Truppen und Kanonen versehen.«

Ein verächtliches Lächeln umschwebte die Lippen des stolzen Korsaren.

»Was tun uns die Kanonen«, sagte er. »Unsere Enterwaffen sind mehr wert. Ihr habt es doch bei den Angriffen von San Francisco di Campeche, von Sant'Agostino de Florida und andern Kämpfen gesehen!«

»Es ist wahr, aber van Gould hält Maracaibo für sicher.«

»Gut. Wir werden es sehen, wenn ich es mit dem Olonesen überfallen werde.«

»Mit dem Olonesen?« rief der Verhaftete mit Schaudern aus.

»Was suchst du in diesem Walde?«

»Ich überwachte das Ufer!«

»Allein?«

»Ja, allein!«

»Fürchtet man eine Überraschung von unserer Seite?«

»Ja, da ein im Golf kreuzendes, verdächtiges Schiff signalisiert war!«

»Also mein Schiff?«

»Da Ihr hier seid, wird es wohl Euer Schiff gewesen sein.«

»Und der Gouverneur ...«

»Er hat einige seiner Vertrauten nach Gibraltar geschickt, um den Admiral davon zu unterrichten.«

Diesmal wurde der Korsar unruhig. Dann zuckte er leicht mit den Schultern: »Bah, wenn die Schiffe des Admirals nach Maracaibo kommen, sind wir schon längst an Bord der ›Fólgore‹.«

Er stand auf und rief durch einen Pfiff die beiden am Waldesrand postierten Flibustier herbei: »Wir wollen weiter!«

»Aber was sollen wir mit diesem Mann anfangen?« fragte Carmaux.

»Wir nehmen ihn mit!«

Es begann schon zu dämmern. Die Schatten der Nacht wichen rasch, verscheucht von einem rosigen Licht, das den ganzen Himmel einnahm und das sich auch unter den gigantischen Bäumen des Waldes ausbreitete. Die Affen, die in Südamerika, besonders in Venezuela, so zahlreich sind, erwachten und erfüllten die Gebüsche mit ihrem seltsamen Geschrei.

Allerlei Vierfüßler bevölkerten die Wipfel der, Assai genannten, leichtstämmigen Palmen, wie das grüne Blätterwerk der riesigen Eriodendren. Sie bewegten sich wie Kobolde zwischen den, auch Sipos genannten, großen Lianen, welche die Bäume umklammerten oder an den Luftwurzeln der Arioden hängen.

Da erblickte man Affen, die so klein und niedlich waren, daß man sie in die Tasche stecken könnte, Scharen roter Sahui, die etwas größer als Eichhörnchen sind und mit ihrem schönen Schweif an kleine Löwen erinnern, ferner Scharen von Monos, den magersten aller Affen, die mit ihren langen Armen und Beinen an Riesenspinnen erinnern.

In ihr Geschrei mischten sich die Stimmen der Vögel. Laut plapperten die blauköpfigen Papageien auf den großen Blättern der Pomponasse, die zur Fabrikation der leichten Panamahüte verwandt werden, oder sie stolzierten auf den eigenartigen Palmen mit den Purpurblüten einher. Auf den Laransiabüschen mit den starkduftenden Blumen saßen die großen, ganz roten Papageien, die vom Morgen bis zum Abend ihr eintöniges Ará-Ará ertönen lassen. Auch die Klagevögel fehlten nicht, so genannt, da ihre Laute einem Klagen oder Weinen gleichen.

Die Flibustier und der Spanier, die an die seltsamen Geräusche in den dortigen Wäldern gewöhnt waren, hielten sich nicht auf, um Pflanzen, Vierfüßler oder Vögel zu bewundern. Sie suchten so schnell wie möglich aus dieser Wildnis herauszukommen.

Der Korsar schritt mit düsterer Miene einher. So sah man ihn fast immer, sowohl an Bord eines Schiffes, wie an Land, selbst bei den Schmausereien auf der Tortuga. Die beiden Piraten kannten schon seine Gewohnheiten und hüteten sich, ihn zu fragen oder aus seinen Gedanken herauszureißen. So marschierten sie zwischen Palmen, Schlingpflanzen und Tieren wohl zwei Stunden lang, bis Carmaux bei einem Gebüsch seltsamer Gewächse stehenblieb. Sie hatten lederartige Blätter, die, wenn der Wind wehte, sonderbare Töne hervorbrachten.

»War es nicht hier?« fragte er seine Gefährten. »Ich glaube, mich nicht zu irren.«

In diesem Augenblick hörte man aus der Mitte des Gehölzes süße, melodische Flötentöne.

Der Korsar wandte sich um. »Was ist das?« fragte er.

»Mokkos Flöte!« antwortete Carmaux lächelnd. »Es ist der Neger, der uns zur Flucht verhalf. Seine Hütte befindet sich inmitten dieser sonderbaren Pflanzen. Er wird jetzt seine Schlangen meistern.«

»Ein Zauberer?«

»Ja, Kapitän!«

»Diese Flöte kann uns aber verraten!«

»Wir können sie ihm ja wegnehmen und die Schlangen in den Wald jagen!«

Carmaux, der schon in das Gebüsch eingedrungen war, wich mit einem Schreckensruf wieder zurück.

Vor einer armseligen Hütte aus verschlungenen Baumzweigen stand ein Neger von herkulischen Formen. Er war hochgewachsen, mit kräftigen Schultern und breiter Brust. Seinen Muskeln sah man die Riesenkraft an. Obgleich die Nase platt, die Lippen dick waren und die Backenknochen vorstanden, konnte das Gesicht nicht häßlich genannt werden. Im Gegenteil, es hatte etwas Gutes, Freimütiges, Kindliches, nicht eine Spur von dem wilden Ausdruck, den viele andere afrikanische Rassen zeigen.

Seine Behausung lag, wie die meisten Indianerhütten, halb versteckt hinter einem mächtigen Baume, umgeben von Kürbispflanzen.

Mokko stand an einem abgehauenen Baumstamm und blies eine Flöte aus leichtem Bambusrohr, der er seltsam weiche, langgezogene Töne entlockte. Vor ihm krochen ganz sanft und ruhig etwa zehn der gefährlichsten Reptilien Südamerikas.

Es waren einige Jararacaca, die selbst die Indianer wegen ihres Giftes fürchten, kleine tabakfarbene Schlangen mit abgeplattetem, dreieckigem Kopf und feinem Hals. Auch mehrere Klapperschlangen, einige ganz schwarze Nattern, die fast blitzartig ihr Gift ausspritzen, und etliche Reptilien mit weißen, kreuzförmigen Streifen auf dem Kopfe, deren Biß eine Lähmung des betreffenden Gliedes bewirken kann.

Als der Neger Carmaux' Aufschrei hörte, richtete er seine großen, porzellanähnlichen Augen auf die Flibustier. Dann nahm er seine Flöte aus dem Munde und sagte erstaunt: »Ihr seid noch hier? Ich glaubte euch schon in Sicherheit.«

»Ja doch, ja... aber der Teufel hole mich, wenn ich nur einen Schritt in dein gefährliches Revier wage!«

»Meine Tiere tun den Freunden nichts Böses an«, antwortete Mokko lachend. »Warte einen Augenblick, ich werde sie schlafen legen!«

Er nahm einen aus Blättern geflochtenen Korb, legte die Schlangen hinein, ohne daß diese sich sträubten, und schloß ihn darauf sorglich mit einem großen Stein.

»Jetzt kannst du ohne Furcht in meine Hütte treten, weißer Bruder! Bist du allein?«

»Nein, ich komme mit meinem Schiffskapitän, dem Bruder des Roten Korsaren!«

»Mit dem Schwarzen Korsaren? Da kann Maracaibo sich freuen!«

»Still, Mokko! Überlaß uns deine Hütte, und du wirst es nicht bereuen!«

Jetzt war der Korsar mit Stiller und dem Gefangenen hinzugetreten. Er grüßte den Neger mit einem Wink der Hand und wandte sich an Carmaux: »Ist das der Mann, der euch zur Flucht verholfen hat?«

»Ja, Kapitän!«

»Haßt er die Spanier?«

»Wie wir!«

»Und kennt er Maracaibo?«

»Wie wir Tortuga!«

Der Korsar betrachtete die mächtige Muskulatur des Afrikaners und sagte: »Er wird uns nützlich sein!«

Sein Blick schweifte in der Hütte umher. Als er in einer Ecke einen aus Baumzweigen roh hergestellten Stuhl fand, setzte er sich, um von der beschwerlichen Wanderung auszuruhen.

Indessen beeilte sich der Neger, den Fremden Gastfreundschaft zu erweisen. Er brachte Backwerk, das aus dem Mehl der Maniocaknollen hergestellt war, die im zerriebenen und zerdrückten Zustand ihre giftige Eigenschaft verlieren.

Außer aromatischen Goldbananen holte er Früchte des Flaschenbaums herbei, die wie Tannenzapfen aussahen und unter ihren Schuppen einen ausgezeichneten, weißlichen Saft enthielten. In einem ausgehöhlten Kürbis setzte er Pulque vor, ein der Agave entnommenes gegorenes Getränk.

Die drei Flibustier, die während der ganzen Nacht keinen Bissen zu sich genommen hatten, ließen sich das Frühstück schmecken. Sie gaben auch dem Gefangenen davon ab. Dann streckten sie sich sorglos auf einem Haufen frischer Blätter aus, die der Neger in die Hütte geschleppt hatte. Sie konnten ruhen, denn der Neger hielt indessen Wache.

Während des ganzen Tags rührte sich keiner von ihnen. Kaum aber war die Dunkelheit wieder angebrochen, da sprang der Korsar auf. Er blieb vor dem gefangenen Spanier stehen.

»Ich habe dir versprochen, dich leben zu lassen. Dafür mußt du mir sagen, ob ich unbeobachtet in den Palast des Gouverneurs gelangen kann!«

»Ihr wollt ihn ermorden?«

»Ermorden«, entgegnete der Flibustier zornig. »Ich töte nie durch Verrat.«

»Er ist alt, der Gouverneur, während ihr jung seid. Ihr würdet auch nicht in sein Zimmer gelangen, denn eine Menge Soldaten bewachen ihn und würden euch sofort verhaften.«

»Ich weiß, daß er mutig ist.«

»Wie ein Löwe!«

»Gut, ich werde ihn schon finden!«

Dann drehte er sich zu den beiden Bootsleuten um, die sich ebenfalls erhoben hatten, und sagte zu Stiller: »Du wirst hierbleiben und diesen Mann bewachen!«

»Würde nicht der Neger genügen, Kapitän?«

»Nein! Er ist stark wie Herkules und muß mir helfen! Komm, Carmaux, laß uns erst eine Flasche spanischen Weins in Maracaibo leeren!«

»Zu dieser Stunde, Kapitän?«

»Hast du Angst?«

»Mit Euch würde ich selbst in die Hölle fahren und Meister Beelzebub an die Nase fassen! Nur fürchte ich, daß wir entdeckt werden.«

Ein Lächeln umspielte die Lippen des Korsaren. »Wir werden sehen. Komm nur!« sagte er.


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