Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Der Gehenkte

Als der Kapitän und seine Gefährten auf der Plaza de Granada ankamen, war es schon dunkel, so daß man in zwanzig Schritt Entfernung niemand unterscheiden konnte.

Schweigen lag auf dem Platze, das nur hin und wieder von dem klagenden Krächzen einiger um die Galgen herumfliegender Vögel unterbrochen wurde. Die Flibustier schritten langsam vorwärts, wobei sie sich an den Häuserfassaden und an den Palmenstämmen festhielten. Auge und Ohren hatten sie offen und die Hand an den Waffen.

Wenn irgendein Geräusch widerhallte, blieben sie unter einem Baume oder unter einem Bogengang stehen, bis wieder Stillschweigen eingetreten war. Jetzt waren sie nur wenige Schritte von dem ersten Galgen entfernt, an dem, vom Nachtwind bewegt, fast nackt, ein armer Teufel baumelte. Da machte der Korsar seine Gefährten auf eine Gestalt aufmerksam, die an der einen Ecke des Gouverneurspalastes, dessen hohe Steinmasse vor dem Richtplatz emporragte, hin und her schritt.

»Potztausend«, murmelte Carmaux, »da ist ja der Wächter! Der wird uns die Arbeit verderben.«

»Aber Mokko ist stark«, bemerkte der Neger. »Ich werde mir den Soldaten da vornehmen!«

»Ja, und dabei die Hellebarde in den Leib kriegen, Gevatter Neger!«

Der Afrikaner lächelte, indem er seine zwei Reihen elfenbeinfarbiger Zähne zeigte, die so spitz waren, daß ihn ein Haifisch darum beneiden konnte.

»Mokko ist schlau und kann kriechen wie seine Zauberschlangen«, sagte er.

»Dann geh und beweise deine Tüchtigkeit!« erwiderte der Korsar.

»Ihr werdet sehen, Herr, daß ich den Mann da fangen werde, wie ich einst die Lagunenkrokodile fing!«

Er zog eine dünne Schnur aus geflochtenem Leder hervor, die in einen Ring endete, ein wirkliches Lasso, ähnlich, wie es die mexikanischen Vaqueros zur Stierjagd brauchen, und entfernte sich lautlos.

Der hinter einem Palmenstamm versteckte Korsar beobachtete ihn. Er bewunderte die Entschlossenheit des Schwarzen, der ohne Waffe war.

»Der hat Mut, was?« meinte Carmaux.

Der andere nickte wortlos. Sie sahen Mokko am Boden kriechen und sich langsam dem Gouverneurspalaste nähern.

Als der Neger bemerkte, daß der Soldat ihm den Rücken zuwandte, schlich er näher heran. Zehn Schritte von ihm entfernt, erhob er sich plötzlich, schwang zwei- oder dreimal das Lasso und lanzierte es mit sicherer Hand auf den Gegner.

Man hörte ein leises Schwirren, dann einen unterdrückten Schrei, und der Soldat lag am Boden, indem er die Hellebarde zur Erde fallen ließ und wie närrisch mit Armen und Beinen in der Luft herumfuchtelte und -strampelte.

Mokko wickelte ihn in die rote Schärpe, die er an seinem Gürtel trug, hob ihn auf wie ein Kind und warf ihn dem Kapitän vor die Füße.

»Du bist ein tapferer Mann«, sagte dieser. »Binde ihn jetzt an einen Baum und folge mir!«

Der Neger tat, wie ihm befohlen, unterstützt von Carmaux. Indessen betrachtete der Korsar die Gestalten, die an den Galgen hingen.

Mitten auf dem Platz blieb er vor einem Gerichteten stehen, der ein rotes Gewand trug und – welch bittere Ironie! – eine Zigarette zwischen den Lippen hielt.

Der Korsar seufzte schmerzerfüllt. Er konnte sich eines Aufschluchzens nicht erwehren.

Auf seinen Wink war der Neger, das Messer zwischen den Zähnen, an dem Galgen hinaufgeklettert und hatte den Strick abgeschnitten. Dann hob er ganz langsam die Leiche herunter. Carmaux stand ihm unten bei. Obgleich die Fäulnis schon eingetreten, nahm der Flibustier den Körper sanft in seine Arme und wickelte ihn in den Mantel, den ihm der Bruder des Toten gereicht hatte.

»Gehen wir!« sagte der Kommandant kurz. »Unsere Aufgabe ist erfüllt. Die Leiche des Tapferen wird dem Ozean übergeben werden.«

Der Neger nahm diese auf, und alle drei verließen schweigend den Platz. Noch einmal blickte sich der Kapitän zu den vierzehn andern Gehenkten um und winkte ihnen düster zu: »Lebt wohl, ihr unglücklichen Gefährten des Roten Korsaren! Bald wird euer Tod gerächt werden!« Dann wandte er sich zum Gouvernementspalaste: »Und wir, van Gould, haben beide noch abzurechnen!« Sie nahmen eiligst ihren Marsch auf, um so schnell wie möglich ans Meer und an Bord der »Fólgore« zu gelangen. Jetzt hatten sie in der Stadt nichts mehr zu suchen, in deren Straßen sie sich, infolge des Abenteuers in der Posada, doppelt unsicher fühlten.

Schon waren sie durch mehrere einsame Gassen gewandert, als Carmaux, der voranging, einige verdächtige Schatten unter einem Torbogen bemerkte.

»Langsam, langsam«, mahnte er. »Dort scheint man uns zu erwarten.«

»Könnten das etwa die Leute aus der Weinschenke sein?« fragte der Korsar.

»Es sind wirklich die fünf Basken mit ihren säbelartigen Dolchen!«

»Nur fünf? Die werden wir schon bewältigen«, meinte der Kapitän, sein Schwert ziehend.

»Meine Enterwaffe soll ebenfalls tanzen«, sagte Carmaux.

Drei in weite Mäntel gehüllte Männer hatten sich an der Ecke rechts aufgestellt, während zwei andere den Weg auf der linken Seite versperrten.

»Du wirst die zwei links und ich die drei rechts aufs Korn nehmen!« ordnete der Korsar an. »Und du, Mokko, kümmerst dich nicht weiter um uns, du flüchtest mit deiner kostbaren Bürde! Erwarte uns dann am Waldessaum!«

Die fünf Basken stellten sich nun mit ihren langen scharfen Waffen in Positur.

»Ah, seht! Wir scheinen uns nicht getäuscht zu haben«, sagte der eine.

»Gebt Raum!« schrie der Kommandant.

»Langsam, Caballero!« rief der Baske.

»Was wollt Ihr?«

»Eine kleine Neugierde befriedigen! Wissen, wer Ihr seid.«

»Der Mann, der alle umbringt, die sich ihm in den Weg stellen und ihm hinderlich sind.«

»Und wir sind die Leute, Caballero, die keine Furcht kennen und uns nicht umbringen lassen wie jener arme Teufel, den Ihr an die Wand genagelt habt. Erst Euren Namen und Titel! Sonst kommt Ihr nicht aus Maracaibo heraus! Wir stehen im Dienste des Gouverneurs und sind verantwortlich für Personen, die zu so später Stunde durch die Straßen spazieren.«

»Wenn Ihr meinen Namen wissen wollt, gut, so kommt her! Carmaux, du nimmst die beiden rechts!«

Letzterer hatte die Enterpike gezogen und war resolut auf die beiden andern losgegangen.

Die Basken hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Sie warteten auf den Angriff der Flibustier, die Linke am Gürtel, die Rechte auf dem Knauf der Najava.

Als der Kapitän das sah, griff er die drei Gegner an und teilte rechts und links mit blitzartiger Geschwindigkeit Säbelhiebe aus, Carmaux desgleichen.

Die fünf Diestros aber erschraken nicht. Sie sprangen mit bewundernswürdiger Geschicklichkeit zurück, indem sie sich bald mit dem breiten Kolben ihrer Waffe, bald mit dem Mantel, den sie um den linken Arm gewickelt hatten, wehrten.

Die beiden Flibustier waren vorsichtiger geworden, als sie bemerkten, daß sie es mit gefährlichen Gegnern zu tun hatten. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß der Neger in der Dunkelheit mit dem Leichnam entkommen war, gingen sie von neuem drauflos.

Sie mußten sich beeilen; denn jeden Augenblick konnte eine Wache den Basken zu Hilfe kommen.

Der Korsar, dessen Schwert viel länger als das der Gegner, und dessen Geschicklichkeit in der Fechtkunst außergewöhnlich war, hatte leichteres Spiel als Carmaux, der sich mit seiner kurzen Enterwaffe in acht nehmen mußte.

Die sieben Männer kämpften schweigend. Bald gingen sie vor, bald zurück, bald sprangen sie rechts, bald links beim Kreuzen der Waffen.

Als der Kommandant plötzlich gewahrte, daß einer seiner Gegner das Gleichgewicht verlor und einen falschen Schritt machte, bei dem er die Brust freigab, traf er diese mit seinem Degen. Der Baske fiel, ohne einen Laut von sich zu geben.

»Einer wäre erledigt«, sagte der Sieger, »nun kommt ihr an die Reihe!«

Das jagte aber den beiden andern keinen Schrecken ein. Sie stellten sich fest vor ihm auf und wichen keinen Schrittbreit. Plötzlich stürzte der gewandteste von ihnen vor, indem er sich zur Erde bückte und den ihm den Arm schützenden Mantel vorschob. Dann aber sprang er mit einem Satze wieder auf und schwang den Degen zum Todesstoß.

Der Korsar warf sich flink zur Seite. Bei dem Hieb, den er führte, verwickelte sich jedoch seine Klinge in den Mantel des Gegners. Er stieß einen Wutschrei aus, doch gelang es ihm, sie zurückzuziehen. Nun mußte er die Stöße des zweiten Basken parieren. Dabei zerbrach seine Klinge.

Der Kapitän sprang entsetzt zurück, das zerbrochene Schwert in der Hand, und rief Carmaux zu Hilfe.

Der Flibustier, dem es noch nicht gelungen war, sich von seinen beiden Gegnern zu befreien, obgleich er sie gezwungen hatte, bis zur Straßenecke zurückzuweichen, kam in zwei Sätzen herbei.

»Himmel und Hölle«, rief er, »da sind wir in eine nette Gesellschaft geraten! Das kostet Arbeit!«

»Töten wir zwei der wütenden Hunde!« sagte der Korsar, indem er schnell seine Pistole aus dem Gürtel zog. Plötzlich gewahrte er einen Riesenschatten, der sich, mit einem Knüppel in der Hand, auf die vier beisammenstehenden und ihres Sieges sichern Basken warf.

»Mokko!« riefen die Flibustier zugleich aus.

Der Neger erhob den Stock und setzte ihn mit einer solchen Wucht und Wut in Tätigkeit, daß er die Unglücklichen sofort mit geschundenen Knochen zur Erde warf.

»Dank, Gevatter!« rief Carmaux froh. »Was für Hagelschläge waren das!«

»Fliehen wir!« rief der Schwarze Korsar. »Hier haben wir nichts mehr zu suchen!«

Einige von dem Geschrei der Geprügelten aufgeweckte Bürger öffneten die Fenster. Aber die beiden Flibustier und der Neger waren schon um die Straßenecke gebogen.

»Wo ist die Leiche?« fragte der Korsar.

»Schon außerhalb der Stadt!« antwortete Mokko. »Ich glaubte, daß ich hier sehr nötig sei, und bin daher wieder zurückgeeilt.«

»Ist niemand am Ausgang dieses Stadtviertels?«

»Niemand!«

»Kapitän!« rief jetzt Carmaux. »Eine Patrouille kommt!«

»Von woher?«

»Aus dieser Gasse dort!«

»Also schnell in die andere!«

»Aber Ihr seid wehrlos! Erlaubt, daß ich Euch meine Waffe zur Verfügung stelle! Ich habe den Dolch des getöteten Biskayers genommen, da ich mit ihm umgehen kann.«

Ein Trupp Soldaten näherte sich schnellen Schritts. Sie hatten wohl das Geschrei der Kämpfenden und das Waffengeklirr vernommen.

Die Flibustier eilten jetzt, von Mokko geführt, im Schatten der Mauer entlang. Eine Strecke weiter hörten sie den gleichmäßigen Schritt einer zweiten Patrouille.

»Verdammt!« rief Carmaux. »Wir werden umzingelt!«

»Vielleicht hat man uns verraten«, murmelte der Schwarze Korsar und blieb stehen.

»Jetzt gilt es, sich seiner Haut zu wehren! Mokko, dir vertraue ich den Leichnam meines Bruders an, den du an Bord meines Schiffes bringen sollst! Du findest unsere Schaluppe am Strande und wirst dich mit Stiller verständigen!«

»Ja, Herr!«

»Sollten wir hier überwältigt werden, so weiß Morgan, was er zu tun hat. Wenn du deinen Auftrag erfüllt hast, kehre zurück und schau, ob wir noch leben!«

»Ich kann mich nicht entschließen, Euch zu verlassen, Herr. Ich bin stark und könnte Euch von großem Nutzen sein.«

»Es liegt mir daran, daß mein Bruder ins Meer versenkt wird. Du wirst mir einen größern Dienst erweisen, wenn du dich an Bord meiner ›Fólgore‹ begibst.«

»Dann werde ich hoffentlich mit Verstärkung zurückkehren.«

»Morgan wird dich begleiten, dessen bin ich gewiß. Geh, die Patrouille kommt!«

Der Neger tat, wie ihm geheißen. Da der Weg indessen durch die Wachen versperrt schien, schlich er durch die Seitenpforte eines Gartens. Der Korsar sah ihm nach, bis er verschwunden war.

»Nun los auf die Patrouille! Gelingt es uns, mit einem plötzlichen Angriff durchzukommen, so können wir vielleicht das freie Gelände und dann den Wald erreichen!«

Sie befanden sich jetzt an einer Straßenecke und verbargen sich hinter einen Hausvorsprung. Die eine Patrouille war schon in Sichtweite, während man von der andern nichts mehr vernahm.

Die Hellebardiere hatten ihren Schritt verlangsamt. Einer von ihnen, wohl der Anführer, sagte: »Die Schurken können nicht weit von hier sein! Wir sind zu acht, und der Tavernenwirt hat uns von nur drei Flibustiern erzählt!«

»Der verdammte Wirt!« murmelte Carmaux. »Er hat uns verraten. Wenn ich ihn unter die Hände bekomme, werde ich ihm ein Löchelchen in den Bauch stoßen, daß der ganze Wein, den er in einer Woche ausgesoffen, herausfließt.«

Der Schwarze Korsar erhob den Säbel. »Los!« schrie er.

Die beiden Flibustier warfen sich mit Ungestüm auf die sich an der Straßenecke gerade umwendende Patrouille und teilten rechts und links Schläge aus.

Die von dem blitzartigen Angriff überraschten Soldaten konnten nicht Widerstand leisten. Sie wichen bald nach der einen, bald nach der andern Seite aus, um sich den Streichen zu entziehen.

Als sie sich von dem Schrecken erholt hatten, waren der Korsar und sein Gefährte schon längst verschwunden. Jetzt kam es ihnen erst zum Bewußtsein, daß sie es nur mit zwei Männern zu tun gehabt hatten. Darum stürzten sie ihnen nach und heulten aus voller Kehle: »Haltet sie, haltet sie, die Flibustier! Haltet sie!«

Der Kapitän und Carmaux liefen und liefen, ohne zu wissen, wohin. Jetzt befanden sie sich mitten in einem Gassengewirr. Ob sie sich hier- oder dorthin wandten, immer gab es nur Häuserecken und keinen Ausweg ins Freie.

Die Einwohner waren von dem Patrouillenlärm aufgeweckt worden. Man hörte Fenster- und Türenschlagen, dazwischen Gewehrschüsse.

Die Lage der Fliehenden wurde von Augenblick zu Augenblick verzweifelter. Der Waffenalarm konnte sich nach dem Zentrum der Stadt ausdehnen und die ganze Garnison herbeiziehen.

»Donnerwetter!« rief Carmaux im Lauf. »Das Geschrei der erschreckten Gänse wird uns noch ins Verderben stürzen. Wenn es uns nicht gelingt, ins Freie zu kommen, werden wir am Galgen enden.«

Jetzt waren sie am Ende eines Gäßchens angelangt, das keinen Ausweg hatte.

»Kapitän!« schrie Carmaux. »Wir sind in eine Falle geraten, es ist eine Sackgasse!«

»Gibt es keine Mauer, die wir überklettern könnten?«

»Nein, nur hohe Häuser!«

»Also zurück! Die Verfolger sind noch weit. Vielleicht finden wir doch noch einen Weg, der aus der Stadt führt.«

Plötzlich schien ihm eine neue Idee zu kommen. Er stand vor dem letzten Haus, welches das Gäßchen abschloß. Es war ein einfaches Gebäude aus Holz mit zwei Stockwerken. Das flache Dach zeigte eine kleine Terrasse mit Blumentöpfen.

»Carmaux! Schnell, öffne die Haustür! Verstecken wir uns hier! Es scheint mir das beste, um unsere Spur zu verwischen.«

»Gut, die Miete kostet auch nichts«, sagte der andere, und schon hatte er mit der Spitze der Navaja das Schloß gewaltsam aufgemacht.

Die Fliehenden traten ein und schlossen gerade das Tor noch hinter sich, als die Soldaten am Gäßchen vorbeizogen und mit lauter Stimme riefen: »Haltet sie, haltet sie!«

Die Flibustier tasteten sich in der Dunkelheit weiter und erreichten eine Treppe, die sie ohne Zögern emporstiegen. Auf dem oberen Flur machten sie halt.

»Wir müssen doch einmal sehen, wo wir sind, und unsere Mitbewohner kennenlernen«, meinte Carmaux, den selbst in den allerheikelsten Situationen sein trockener Humor nicht verließ.

»'ne nette Überraschung für die armen Teufel!«

Er zündete ein Stück Kanonenlunte an und blies darauf.

»Ah, da schnarcht jemand«, flüsterte er. »Ein gutes Zeichen! Wer ruhig schläft, ist ein friedlicher Mensch.«

Der Korsar hatte behutsam eine Tür geöffnet und war in ein bescheiden ausgestattetes Zimmer getreten. In diesem stand das Bett des Schnarchers.

Er nahm die Lunte und entzündete eine Kerze, die auf einer alten, als Kommode dienenden Kiste stand. Dann trat er an das Bett und hob die Decke. Ein kahlköpfiger Greis mit runzliger Pergamenthaut und einem Ziegenbart lag darin. Er schlief so fest, daß er nicht bemerkte, wie hell es auf einmal im Zimmer war.

»Dieser Mann wird uns nicht unbequem werden«, meinte der Kapitän.

Er faßte ihn beim Arm und rüttelte ihn, doch ohne Erfolg.

»Man muß ihm einen Kanonenschuß ins Ohr feuern«, lachte Carmaux.

Endlich, nach dreimaligem Schütteln, entschloß sich der Alte, die Augen zu öffnen. Als er die beiden Fremden bemerkte, fuhr er mit einem Ruck in die Höhe, riß entsetzt die Augen auf und rief: »Ich bin des Todes!«

»Mit dem Sterben, Freundchen, hat's noch gute Weile«, meinte Carmaux. »Mir scheint, daß Ihr jetzt lebendiger ausseht als vor fünf Minuten.«

»Wer seid Ihr?« fragte der Schwarze Korsar.

»Ein armer Mann, der nie jemandem etwas zuleide getan hat«, erwiderte der Greis zähneklappernd.

»Wir wollen Euch nichts Böses antun, Ihr müßt uns aber über alles Auskunft geben!«

»Eure Exzellenz ist also kein Dieb?«

»Ich bin ein Flibustier der Tortuga.«

»Ein – Fli – bu – stier? Dann bin ich wirklich dem Tode überliefert!«

»Ich habe Euch doch gesagt, daß ich Euch kein Haar krümmen werde.«

»Was wollt Ihr ...?«

»Vor allem möchten wir wissen, ob Ihr allein in diesem Hause wohnt?«

»Ganz allein, mein Herr.«

»Wer wohnt in Eurer Nachbarschaft?«

»Lauter brave Bürger!«

»Was seid Ihr von Beruf?«

»Ich bin ein armer Mann.«

»Ja, ein armer Mann, der Hausbesitzer ist, während ich nicht einmal ein Bett mein eigen nenne«, spöttelte Carmaux. »Ach, alter Fuchs, du hast nur Angst um dein Geld!«

»Ich habe kein Geld, Exzellenz!«

Carmaux brach in Lachen aus. »Ein Flibustier, der Exzellenz geworden! Dieser Mensch ist der drolligste Gevatter, der mir je vorgekommen!«

Der Alte schielte ihn von der Seite an, hütete sich aber wohl, den Beleidigten zu spielen.

»Kurz und gut!« rief der Korsar in drohendem Tone. »Was tut Ihr in Maracaibo?«

»Ich bin Advokat, ein armer Notar, Herr!«

»Es ist gut. Wir werden bis auf weiteres in Eurem Hause Quartier nehmen. Hütet Euch aber, uns zu verraten! Dann würdet Ihr um einen Kopf kürzer werden. Verstanden?«

»Aber was wollt Ihr denn von mir?« wimmerte der Unglückliche.

»Einstweilen nichts. Zieht Euch an und verhaltet Euch ruhig, wenn Euch das Leben lieb ist!«

Der Notar gehorchte schnell. Er zitterte aber derartig, daß Carmaux ihm behilflich sein mußte.

»Jetzt binde ihn an!« befahl der Korsar. »Paß aber auf, daß er nicht entflieht!«

»Ich bürge für ihn wie für mich selbst, Kapitän! Ich fessele ihn so, daß er nicht die kleinste Bewegung machen kann!«

Während der Flibustier den Alten wehrlos machte, hatte der Kommandant ein auf die Gasse gehendes Fenster im Vorflur geöffnet, um zu sehen, was sich draußen ereignete. Es schien, als ob die Patrouille sich entfernt hätte. Man hörte ihr Geschrei nicht mehr. Indessen sah man überall an den Fenstern der benachbarten Häuser Leute, die sich mit lauter Stimme unterhielten.

»Habt ihr gehört?« schrie ein Mann, der sich mit einer langen Büchse wichtig tat. »Die Flibustier scheinen einen Handstreich auf unsere Stadt versucht zu haben.«

»Das kann nicht sein«, entgegneten andere.

»Und sind sie in die Flucht geschlagen worden?« fragte ein dritter.

»Wahrscheinlich. Es ist ja alles still.«

»Welch eine Frechheit, in die Stadt zu dringen, wo hier so viele Soldaten liegen! Vielleicht wollten sie den Roten Korsaren retten!«

»Und statt dessen haben sie ihn am Galgen gefunden hatte. Schöne Überraschung für die Räuber.«

»Hoffentlich verhaften die Soldaten noch viele von ihnen«, lachte der Mann mit der Büchse. »Holz genug gibt es bei uns für neue Galgen. Gute Nacht, Freunde, auf morgen!«

»Ganz recht!« murmelte der Schwarze Korsar. »Holz gibt es genügend. Aber auf unsern Schiffen gibt es auch viele Kugeln, die Maracaibo zerstören werden. Eines Tages werdet ihr von mir hören!«

Er schloß das Fenster und kehrte ins Zimmer zurück.

Carmaux hatte inzwischen das ganze Haus durchstöbert, bis er die Speisekammer fand. Ihm war eingefallen, daß er am Abend vorher keine Zeit zum Essen gefunden hatte.

Da er Geflügel und ein schönes Stück gebratenen Fisch entdeckte, den der arme Advokat sich vielleicht zum Frühstück aufgehoben hatte, stellte er beides dem Kapitän zur Verfügung.

Außer den Speisen fand der Brave, tief im Schranke versteckt, auch einige verstaubte Flaschen besten spanischen Weins: Xeres, Portwein, Alicante und selbst Madeira.

»Herr!« wandte er sich an den Korsaren. »Während die Spanier unsern Schatten nachlaufen, wollen wir diese treffliche Seeforelle und diese gute Wildente verspeisen! Der Tropfen hier, den unser Freund, der Advokat, gewiß für seltene Gelegenheiten aufgespart hat, soll Euch in schönste Laune versetzen!«

Der Kapitän trank zwar einige Gläser, genoß aber von den Speisen nur wenig. Er saß, wie gewöhnlich, schweigend da. Dann stand er auf und ging im Zimmer auf und nieder, während Carmaux den Rest des Essens verschlang und die angebrochene Flasche leerte.

Der arme Notar, der zusehen mußte, war in Verzweiflung und jammerte unaufhörlich: er habe sich die Weine unter großen Opfern aus dem fernen Vaterlande kommen lassen. Da bot ihm denn großmütig der Seemann, der indessen lustig geworden war, ein Gläschen an, um seinen Grimm zu besänftigen.

»Donnerwetter!« rief er. »Ich dachte nicht, daß dieser Tag noch so fröhlich enden würde! Erst zwischen zwei Feuern, dann in Gefahr, gehenkt zu werden, und nun sitzen wir vor all diesen Herrlichkeiten!«

»Die Gefahr ist noch nicht vorüber«, bemerkte der Schwarze Korsar ernst. »Wer bürgt dir dafür, daß die Spanier, denen wir heut entwischten, uns nicht morgen hier entdecken werden? Ja, es geht uns nicht schlecht, aber lieber möchte ich doch auf meinem Schiffe sein.«

»An Eurer Seite ängstige ich mich nicht. Ihr ersetzt hundert Mann.«

»Hast du vergessen, daß der Gouverneur von Maracaibo ein alter Fuchs ist und daß er kein Mittel unversucht lassen wird, mich in seine Hand zu bekommen? Ich habe einen Kampf auf Leben und Tod mit ihm aufgenommen.«

»Niemand weiß, daß Ihr hier seid, Herr!«

»Man könnte es aber vermuten! Die Biskayer haben sicher eine Ahnung davon gehabt, daß der Bruder des gehenkten Roten Korsaren in der Stadt war!«

»Ihr könnt recht haben! Glaubt Ihr, daß Morgan uns Hilfe schicken wird?«

»Der Leutnant verläßt seinen Kommandanten nicht in den Stunden der Gefahr. Er ist ein kühner und tapferer Mann.«

»Wenn er den Kurs des Schiffs beschleunigte und einen Kugelregen auf die Stadt eröffnete ...?«

»Das wäre eine Tollheit, die er teuer bezahlen müßte.«

»Oh, wie viele solcher Torheiten haben wir schon begangen und immer oder wenigstens fast immer mit glücklichem Erfolg!«

Der Korsar setzte sich wieder und trank langsam noch ein Glas Wein. Dann ging er von neuem an das Fenster, von dem man das Gäßchen überschauen konnte.

Nach einer Weile gab er seinen Beobachtungsposten auf und kehrte erregt ins Zimmer zurück.

»Bist du des Negers sicher?« fragte er Carmaux.

»Er ist erprobt.«

»Kann er uns nicht verraten?«

»Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.«

»Er ist hier!«

»Was? Habt Ihr ihn gesehen?«

»Ja, er streicht unten in der Gasse umher.«

»Kommandant, er wird uns suchen, er muß heraufkommen!«

»Aber was wird er mit dem Leichnam meines Bruders gemacht haben? Rufe ihn! Doch sei vorsichtig! Wenn man dich bemerkt, sind wir verloren.«

»Laßt mich nur machen, Herr!« entgegnete Carmaux lächelnd. »Zehn Minuten genügen mir, um mich in den Notar von Maracaibo zu verwandeln!«


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