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26. Kapitel.
Alice Perry.

Einige Tage verstrichen, ohne daß etwas Bemerkenswertes sich ereignete; der Schiffsdienst nahm seinen regelrechten Verlauf, meine Mannschaft bewährte sich prächtig und der Herr der Winde gab uns gutes Wetter und eine günstige Brise. Daß ich während der ersten Nächte nicht unter Deck ging, um zu beobachten, ob meine Mädchen ihren Aufgaben auch überall gewachsen waren, sei hier nur beiläufig erwähnt.

Wieder war es Abend geworden und die Sonne tauchte blutrot ins Meer. Ich spazierte mit Kate auf dem Achterdeck. Bei der Großluk saß und lagerte eine Anzahl der Mädchen und sang allerlei Lieder, wie das bei schönem Wetter oft zu geschehen pflegte. Ich sprach mit Freude und Genugthuung von meiner weiblichen Matrosenschar.

»Sie hielten meinen Plan sogleich für ausführbar,« sagte ich, »aber niemals hätte ich mir einen solchen Erfolg träumen lassen.«

»Denken Sie doch nur, wie unablässig Sie die Mädchen gedrillt haben,« versetzte sie.

»Das habe ich freilich: die Namen der Leinen und Taue zu behalten ist nicht schwer, und an den Brassen und Fallen zu holen hat man auch schon Affen beigebracht. Aber das Ruder. Wer hätte gedacht, daß Mädchen in zwei Monaten die Kunst des Steuerns so vollkommen erlernen würden, wie meine sieben Rudersmänner dies gethan? Sehen Sie doch nur, wie nachlässig elegant und doch auch wie sicher die da hinten das Rad führt!«

Wir blieben stehen und beobachteten die knabenhafte Gestalt, deren Antlitz jetzt, hell angestrahlt, auf den Kompaß, dann wieder, vom Nachtdunkel beschattet, zu den Segeln emporschaute. Ich fixierte einen Stern bei der Rock der Großraa, und siehe da, das Schiff wich nicht um Haaresbreite vom Kurse.

»Kein alter Seemann könnte zuverlässiger steuern,« sagte ich. »Wer hat den Rudertörn?«

Wir schritten achteraus; es war Alice Perry.

»Schlimme Zeiten, wenn der Obersteuermann am Ruder stehen muß,« lachte ich. »Hören Sie, Fräulein Alice, ich fürchte, ich habe Sie verwöhnt.«

»Wieso?« fragte sie.

»Nun, nach dem fröhlichen Seemannsleben hier an Bord, wird es Ihnen nicht mehr gefallen, als Hausmädchen in Dienst zu gehen.«

»Sehr möglich,« versetzte sie.

»Sie werden fortan die Männerkleider nicht mehr ablegen und eines Tages als Kapitän ein Schiff führen,« bemerkte Kate.

Alice sah hinauf zu den Segeln und gab keine Antwort.

Einige von der ›Mannschaft‹ lungerten auf dem Achterdeck umher. Plötzlich rief die eine:

»Was ist das?«

»Wo?« fragte ich.

»Ist das dort kein Feuer?«

»Das ist der aufgehende Mond,« sagte Kate.

Schnell, wie immer in den Tropen, war die Nacht hereingebrochen. Die Sängerinnen auf dem Hauptdeck schwiegen, auch auf dem Achterdeck redete keine ein Wort. Es war eine jener Pausen, die selbst in zahlreicher Gesellschaft so oft entstehen.

Da kam aus der Luft herab ein klagendes Getön, genau so, wie wir es damals im Atlantischen Ozean vernommen, an jenem Abend, der dem Selbstmord der Mary Lonney und meiner Aussetzung vorherging. Es war zweifellos das Geschrei einer Schar wilder Vögel, die einer der Inseln zuflogen.

Die Töne klangen unendlich wehevoll und unheimlich. Die Mädchen auf dem Achterdeck drängten sich an einander wie furchtsame Schäflein, und wir alle starrten in die Höhe, ohne jedoch, außer den funkelnden Sternen, etwas zu sehen.

»Halloh!« rief ich plötzlich. »Wo will das Schiff hin?«

Ich drehte mich herum und sprang ans Ruder. Denn Alice Perry hatte das Rad losgelassen und lag neben demselben auf den Knieen, das Gesicht in den Händen verbergend und bitterlich schluchzend.

»Mein Gott, was ist dir, Alice?« fragte eins der Mädchen.

Kate kniete neben der Weinenden nieder und redete ihr begütigend und liebevoll zu; die aber beugte sich nur noch tiefer und weinte, als müsse ihr das Herz brechen. Auf einmal aber sprang sie empor.

»Mir fehlt nichts!« rief sie. »Es ist schon wieder gut. Laßt mich sein, hört ihr? Laßt mich in Ruh!«

Damit eilte sie an die Reeling und lehnte sich hinaus, als müsse sie Luft schöpfen.

Ich rief Susanna Corbin ans Ruder und gesellte mich wieder zu Kate; wir sprachen über Alicens seltsames Benehmen und über das unheimliche Geräusch in der Luft.

Dann wurde es Zeit, die Emigrantinnen unter Deck zu schicken. Kate ging, dies zu besorgen.

Alice Perry stand noch immer an der Reeling, ganz hinten am Heck. Ich ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Was ist das eigentlich mit Ihnen, Alice?« fragte ich teilnahmsvoll.

Keine Antwort.

»Hat das Klagen der Vögel oben in der Luft Sie so erschreckt?«

»Nein,« versetzte sie hastig. »Ich wollte, ich wäre tot. Können Sie mich nicht in Ruhe lassen?«

»Was? Aber Alice, mein tapferes Mädchen! Wie kommen Sie auf solche Gedanken?«

»O, ich wollte, ich wäre nie geboren!«

»Das wünschen wohl die meisten von uns. Aber kommen Sie mit mir in die Kajüte, ich will Ihnen eine kleine Herzstärkung reichen.«

»Ich brauche nichts. Ist's nicht hart, wenn man Gefühle hat und sie nicht aussprechen kann? Wenn Fräulein Darnley meine Gedanken hätte, dann würde sie mit Ihnen darüber sprechen und sich angenehm machen. Sie ist aber auch eine Dame und ihr Vater war Pastor. Meiner war Bäcker und starb am Trunke. Da kam ich ins Armenhaus. Warum ist solcher Unterschied? Die Sterne da oben sind alle gleich, einige scheinen heller, aber bloß, weil sie uns näher sind; alle funkeln und glänzen. Mit den Menschen ist das anders. Ich weiß, daß Sie jetzt über mich lachen möchten; Sie thun's bloß nicht, weil Sie ein Mann von Bildung und Erziehung sind.«

»Sie irren sich, Alice. Ich bewundere Sie und schätze Sie hoch, das thut auch Fräulein Darnley, das thun alle, die Sie richtig erkannt haben. Die Natur hat Sie zu einer Dame bestimmt und nun sind Sie unzufrieden, weil sie wohl Ihre Mutter, aber nicht auch zugleich Ihre Lehrerin gewesen ist.«

»Ach Unsinn! Eine Bäckergöre ist keine Dame!«

Sie schaute mich an mit ihren blitzenden, von schwarzem Lockenwust überhangenen Augen.

»Es thut mir leid, daß ich das Ruder losgelassen habe,« sagte sie dann mit ganz veränderter weicher Stimme. »Sie sind mir böse deswegen.«

»Wenn ich Ihnen böse sein könnte, dann wär's nur wegen Ihrer thörichten Launen. Kommen Sie, Alice; trinken Sie ein Glas Wein, und dann gehen Sie schlafen.«

Ihre Blicke bohrten sich fest in die meinen.

»Wenn wir nach Australien kommen sollten, dann gehen Sie von dort nach Hause, nicht wahr?«

»So denke ich.«

»Heiraten Sie Fräulein Darnley gleich dort, oder erst in England?«

»Darüber zerbrechen Sie sich nur nicht den Kopf,« versetzte ich lachend.

»Wie lange waren Sie mit ihr bekannt, ehe Sie ihr hier an Bord begegneten?«

»Es ist gegen alle Disziplin, daß ein Obersteuermann seinen Kapitän in solcher Weise ins Verhör nimmt,« sagte ich; dann setzte ich hinzu, um sie nicht übellaunig zu machen: »Ich bin Ihnen dankbar und so herzlich zugethan, wie ein so braves und tüchtiges Mädchen das verdient. Was hätte ich ohne Sie beginnen sollen?«

Damit nahm ich ihre Hand. Sie entriß mir dieselbe jedoch, wie erschauernd, und ging zum Hauptdeck hinunter.

Bald darauf erschien Kate, um zu melden, daß im Zwischendeck alles wohl sei.

»Haben Sie auch ins Logis geschaut?« fragte ich.

»Nein.«

»Alice Perry hat mich besorgt gemacht; sie schwatzte allerlei thörichtes Zeug und ging dann nach vorn mit brennenden Augen und eiskalten Händen. Sie ist krank, oder wird krank werden. Wollen Sie einmal nach ihr sehen? Sie ist das wertvollste Mitglied der Mannschaft.«

Kate ging. Nach einer Viertelstunde kam sie wieder. Sie berichtete, daß Alice anscheinend ganz gesund in ihrer Koje läge.

»Sie läßt Sie bitten, ihr zu verzeihen, daß sie so wenig respektvoll zu Ihnen geredet habe.«

Wir sagten einander gute Nacht und Kate suchte ihre Kammer im Zwischendeck auf.

Der Mond schien hell; gerade unter ihm lag eine kleine Insel, wie eine winzige, dunkle Wolke, unter der ein grünlicher Schimmer sich ausbreitete – das Meer. Inmitten dieser schimmernden Weite gewahrte ich einen schwarzen Punkt, ein Canoe, wie mich das Teleskop erkennen ließ; es schien ganz still zu liegen; die Fahrt des Schiffes brachte es bald in den Schatten, wo es verschwand.

Ich ließ die Corbin durch die Barker vom Ruder ablösen, gebot zweien der andern scharfen Ausguck zu halten, und ging dann vorn auf die Back, um zu sehen, ob sich voraus etwas blicken ließ.

Die Kappe des Matrosenlogis, das vorn unter Deck belegen war, stand offen. Es lag mir fern, die Mädchen in ihrem Heim zu belauschen; da mir jedoch die Lampe einen ungewöhnlich hellen Schein zu geben schien, und ich auch auf Feuer und Licht zu achten hatte, so warf ich einen Blick durch die Logiskappe. Da sah ich Alice Perry an Deck, das heißt auf dem Fußboden, sitzen und, die Lampe neben sich, auf dem letzten, leeren Blatt eines Buches kritzeln.

Das war gegen die Schiffsordnung und gefährlich; die Lampe durfte von dem Haken, an dem sie unter der Decke hing, nicht herabgenommen werden. Da ich aber persönlich Alice jetzt nichts sagen mochte, ging ich achteraus und schickte eins der Mädchen ab, die Lampe wieder aufzuhängen.

Das Mädchen kam zurück und berichtete, die Lampe hänge bereits und Alice sei soeben in ihre Koje gestiegen.

Das genügte mir. Ich setzte mich achter dem Ruder auf die Gräting, wunderte mich im stillen über Alicens Schreiberei und auch darüber, daß sie überhaupt schreiben und lesen konnte und nickte dabei ein wenig ein, da ich mich gegenwärtig, meiner steten, notgedrungenen Wachsamkeit wegen, fortwährend in einem Zustand der Uebermüdung befand.

Als die Marschall kam, das Ruder zu verfangen, erwachte ich wieder. Ich schaute auf die Uhr, die ich mir von einer der Emigrantinnen geliehen, und fand, daß es Mitternacht war.

Mit schallender Stimme verkündete ich die Zeit, acht Glasen; die schläfrige Deckswache ging nach vorn, und aus dem Logis kam langsam die ebenso schläfrige Ablösung, zunächst freilich nur drei oder vier von den Mädels.

Eine derselben, Flora Lewis, schaute sich suchend allenthalben auf dem Achterdeck um.

»Ist denn Alice Perry nicht hier?« fragte sie endlich.

»Nein,« antwortete ich. »Am Ruder steht die Marschall.«

»Ja, aber wo ist denn die Perry, Keppen?«

»Ist sie denn nicht im Logis?«

»Nein.«

Ich schritt zu dem vorderen Geländer und rief laut nach Alice. Einige der auf dem Hauptdeck befindlichen Mädchen wiederholten den Ruf.

»Springen Sie hinunter zu Fräulein Darnley,« gebot ich der zunächst Stehenden, »sagen Sie ihr, daß Alice Perry vermißt würde, und daß sie im Zwischendeck nach ihr suchen lassen möchte.«

Dann ging ich nach vorn, überall umherspähend. Am Logis angelangt, ersuchte ich um die Erlaubnis, hinabkommen zu dürfen. Dieselbe wurde mir von mehreren Stimmen zugleich erteilt.

Die Wache befand sich vollzählig hier unten, fünfzehn junge Frauenspersonen in Männerkleidern, einige saßen in ihren Kojen, die anderen standen umher. Alle redeten von Alice Perry.

»Was mag wohl aus ihr geworden sein?« fragte ich voll Besorgnis. »Liegt sie auch nicht in ihrer Koje, vielleicht unter der Decke verborgen?«

»Das ist ihr Bett,« sagte eine der Anwesenden, auf eine der vorderen Kojen deutend. »Wenn sie die Wache an Deck hat, dann schlafe ich darin. Und hier liegt ihr Rock.«

»Ihr Rock?«

Ich hob das Kleidungsstück auf; ein Stück Papier war mit einer Nadel an einem Aermel festgesteckt. Ich löste es ab und trat damit unter die Lampe. In unbeholfenen, kindischen Schriftzügen und in der Orthographie gänzlich ungebildeter Personen standen darauf die folgenden, mit Bleistift geschriebenen Worte:

»Ich nehme mir das Leben. Thäte ich das nicht, dann müßte ich K. D. umbringen. Mag C. M. das Geheimnis erraten, das ich mit mir nehme. Gott sei meiner armen Seele gnädig. A. P.«

»Sie hat Selbstmord begangen!« rief ich, tief ergriffen.

»Sagt' ich's nicht gleich?« schrie eins der Mädchen. »Hab' ich's nicht gleich gesagt, daß das Gewimmer in der Luft den Tod von einer von uns bedeutete?«

Ich verließ das Logis; die Mädchen folgten mir in stummem Schrecken. Auf dem Achterdeck trat Kate mir entgegen.

»Alice Perry ist nicht im Zwischendeck,« meldete sie.

Ich zog sie zum Kompaßhäuschen und ließ sie in dem Lichtschein desselben den Zettel lesen. Während sie das Geschreibsel entzifferte, machte ich mich an die Durchsuchung des Schiffes.

Als ich weder an Deck, noch unter Deck, noch in den Marsen und Salingen eine Spur von der Unglücklichen gefunden hatte, da wußte ich, daß sie nicht mehr an Bord war. Sie mußte aus dem Logis auf die Back gestiegen, dort auf die Wasserstagen hinabgeklettert sein und sich von hier aus leise in die Fluten gesenkt haben.

Und nun war's zu spät. An eine Rettung konnte nicht mehr gedacht werden. Das Schiff lief sechs Knoten, und meine Mädchen wußten weder ein Boot zu Wasser zu bringen, noch im Wasser zu handhaben ...

Als ich wieder zum Achterdeck emporstieg, wischte ich mir eine Thräne aus dem Auge.


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