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6. Kapitel.
Auf der Salvage-Insel.

Der Mann am Ruder schlug zwei Glasen; es war fünf Uhr nachmittags. Der Steward meldete, daß das Abendbrot in der Kajüte bereit stände, und Fletcher und Cadman gingen hinunter. Das Oberlichtfenster war geöffnet, so daß ich das Gespräch der beiden hören konnte. Sie redeten von gleichgültigen Dingen, fast wie zwei Leute, die einander zum ersten Mal begegneten.

Ich war froh, daß keiner von ihnen mich vorhin angeredet hatte; mein Gesichtsausdruck würde alles verraten haben. Ich brauchte Zeit, um mich zu beherrschen, denn ich war damals noch jung. Ich hatte den Entschluß gefaßt, dem Benehmen der beiden Bösewichter entsprechend zu handeln. Sobald ich die Gewißheit erlangte, daß sie von meiner Mitwisserschaft überzeugt waren, wollte ich dem Zimmermann alles entdecken und mir von ihm, dem alten, erfahrenen Seemann, raten lassen. Hielten sie mich jedoch für unverdächtig, dann wollte ich schweigen, wenigstens vorläufig, aber sowohl den Schiffer, wie auch dessen Berechnungen unausgesetzt beobachten und kontrollieren. Hielten sie an dem Plan fest, die Brigg zwischen Agulhas und Kapstadt wegzusetzen, dann blieb mir Zeit genug zum Nachdenken und zum endgiltigen Entschluß.

Nach sechs Uhr kam Cadman wieder an Deck. Er begann ein Gespräch mit mir, zunächst über einige Pardunen auf der Steuerbordseite, die am nächsten Morgen straffer aufgesetzt werden sollten, und dann über den an Bord befindlichen Wasservorrat.

»Sie können morgen die Großluk aufmachen lassen und dann selber mal nachsehen, wieviel volle Fässer eigentlich vorhanden sind,« sagte er. »Sie liegen gleich obenauf. Schon mal auf Madeira gewesen, Steuermann?«

Ich verneinte.

»Ist ja wohl eine portugiesische Insel?«

»Ja.«

»So, na die Portugiesen sind die größten Spitzbuben, die's auf der Welt giebt. Ich habe sie in Lissabon kennen gelernt, da haben sie mir beinahe das Fell über die Ohren gezogen. Die Portugiesen müssen Sie sich vom Leibe halten, wissen Sie. Wir sind nur ein armes Schiff, und nach dieser Reise wird sich wohl keiner von uns daheim als Rentner niederlassen können. Donnerwetter, wenn wir auf Madeira frisch Wasser einnehmen müßten, die Portugiesen würden uns ja wohl das Quart mit 'nem Schilling bezahlen lassen! Kennen Sie die Salvage-Inseln?«

»Ich habe sie mal in Sicht gehabt,« antwortete ich, seinem stechenden Seitenblick ganz kühl und ruhig begegnend. Zugleich versuchte ich in seinen Zügen zu lesen, die aber waren so ausdruckslos, wie die eines Codfisches.

»Wenn ich nicht irre, giebt's dort auch frisches Wasser.«

»Die Inseln sind unbewohnt, glaube ich.«

»So sagt man. Das wäre übrigens um so besser. Man kriegt dann sein Wasser umsonst.«

Damit ließ er mich stehen. Ich ging hinunter, um mein Abendbrot zu essen. Fletcher saß am Tisch und schrieb in seinem Notizbuch, das er jedoch bei meinem Erscheinen wegsteckte. Dann fragte er mich nach den Wetteraussichten, nach der Schnelligkeit der Fahrt, wann wir in den Passat kommen werden und dergleichen mehr. Endlich ließ er mich allein.

Während ich an den harten und zähen Bissen kaute, kamen mir allerlei Gedanken.

Cadman hatte davon gesprochen, auf den Salvage-Inseln Wasser einzunehmen. Unser Vorrat an Trinkwasser konnte doch unmöglich schon jetzt zu Ende gehen, sollten die beiden Schurken seither beschlossen haben, die Brigg doch auf jene Klippen zu rennen?

Wenn das zutraf, dann befand sich die ›Hebe‹ gerade auf dem rechten Kurse, denn die Salvage-Inseln liegen 30,7 Grad nördlicher Breite und 15,41 Grad westlicher Länge, ungefähr hundertundachtzehn Seemeilen nördlich von Teneriffa. Die Schiffe gehen ihnen gewöhnlich gern aus dem Wege, und niemals hatte ich gehört, daß dort frisches Wasser zu holen sei. Was mochte Cadman im Sinne haben?

Während der Nacht lief die Brigg eine tüchtige Fahrt, am nächsten Morgen aber flaute der Wind wieder ab. Seit Mitternacht hatten wir siebzig Seemeilen zurückgelegt. Ich ließ dem alten Kasten alle Leinwand geben, die irgend stehen konnte, und so hielt ich ihn noch immer auf sieben Knoten Fahrt.

Nach dem Frühstück wurde die Großluk geöffnet; ich stieg in den Raum hinab und sah mich nach den Wasserfässern um. Cadman und Fletcher kamen herbei und schauten aufmerksam zu. Ich habe vergessen, wieviel Wasserfässer ich vorfand. Sie lagen alle oben auf der Ladung, die hier unter der Lucke so hoch aufgetürmt war, daß es scheinen konnte, als sei der ganze Raum gleichmäßig so angefüllt. Wäre das aber der Fall gewesen, dann hätte die Brigg einen größeren Tiefgang gehabt.

Selbstverständlich befanden sich unter den Wasserfässern bereits einige, die leer waren; immerhin aber rechnete ich überschläglich aus, daß wir mit dem noch vorhandenen Vorrat bei halbwegs glücklicher Fahrt recht gut bis zum Kap gelangen konnten.

Die Lukendeckel wurden wieder aufgelegt, die Matrosen legten die Persenning darüber und machten alles fest und dicht. Dann gingen wir in die Kajüte, wo ich noch einmal das Ergebnis der Untersuchung genau kalkulierte. Fletcher saß mir gegenüber und Cadman sah mir über die Schulter.

»Nun, Steuermann, über welches Quantum verfügen wir also noch?« fragte Fletcher, der sich zurückgelehnt und die Finger, bis auf die nach oben gerichteten Daumen, in die Westentasche gesteckt hatte.

Ich gab ihm Bescheid. Darauf sah er Cadman an.

»Ich meine, wir kommen damit nicht aus,« sagte dieser.

»Hm,« machte Fletcher. »Bis zum Kap haben wir, Ihrer Ansicht nach noch zehn Wochen. Steuermann Morgan hat durch seine Berechnung soeben nachgewiesen, daß unser Wasservorrat noch auf fünfzehn Wochen ausreicht. Ich dächte, dabei könnten wir uns beruhigen.«

Er blickte mit seinem breiten wohlwollenden Lächeln von einem zum andern.

»Herr Fletcher,« entgegnete Cadman, »Sie, wissen nicht, was Wassermangel, was Durst auf See bedeutet. Fragen Sie den Steuermann, der wird bestätigen, daß nichts Schrecklicheres gedacht werden kann. Ich für meinen Teil kann gar nicht Wasser genug an Bord haben – schönes, frisches, klares Trinkwasser, namentlich aber, wenn man's umsonst kriegen kann.«

»Wir müssen doch aber jeden unnützen Aufenthalt vermeiden,« versetzte Herr Fletcher.

»Es handelt sich nur um wenige Stunden,« rief Cadman eifrig. »Nehmen wir an, wir kämen unter der Linie in eine Windstille von vierzehn Tagen oder gar drei Wochen, nehmen wir an, wir kriegten am Schluß des Südostpassats so ein Wochener drei oder vier Gegenwind, der uns unter dichtgerefften Marssegeln nach Westen halb über den Atlantischen Ozean fegt – was dann, Herr Fletcher? So was ist schon oft dagewesen. Steuermann, habe ich recht oder nicht?«

»So was kann ohne Zweifel vorkommen,« antwortete ich.

Fletcher aber wußte immer noch mehr einzuwenden, freilich in einer Weise, aus der ich zu erkennen glaubte, daß es ihm mit seinem Widerspruch nicht Ernst sei. Nachdem ich den beiden noch eine Weile zugehört hatte, da sagte ich mir, daß es bei ihnen längst beschlossene Sache war, nach den Salvage-Inseln zu steuern.

Das warf ein neues Licht auf die Lage der Dinge.

Wollten die Halunken, unter dem Vorwand, Wasser einzunehmen, nun doch ihren verbrecherischen Plan auf den Klippen dieser Eilande zur Ausführung bringen?

Wohl zwanzigmal stand ich an jedem Tage auf dem Sprunge, mich dem Zimmermann anzuvertrauen, aber stets hielt mich etwas zurück. Ich wollte mich nicht übereilen, ich wollte noch warten bis zum letzten, bis zum äußersten Moment.

Am Dienstag hatte ich den Wasserbestand festgestellt, am Donnerstag früh rief ein Mann aus dem Vorbramsaling, daß über dem Steuerbordbuge Land in Sicht sei.

Fletcher befand sich bereits an Deck. Er ließ sich vom Steward das Teleskop reichen, stützte dasselbe gegen eine Pardune und betrachtete das ferne Eiland lange und aufmerksam. Wenn man lange nichts als Himmel und Meer gesehen hat, dann erweckt selbst der Anblick einer kleinen Felsenklippe ein tiefes und nachhaltiges Interesse, ist sie doch immerhin Land.

Cadman lief mit schnellen Schritten auf und ab. Er schien durch etwas erregt zu sein.

»Morgan,« sagte er zu mir, »lassen Sie die Jolle klar machen. Wir wollen vor dem Eiland da beidrehen. Dann gehen Sie mit zwei Mann an Land und sehen zu, ob Sie Wasser finden. Nehmen Sie auch einen Spaten mit. Herr Fletcher wird Sie begleiten, er will sich die Beine vertreten, wie er sagt. Und da hat er recht, denn selbst für einen Seemann findet sich nicht oft die Gelegenheit, eine wüste Insel zu besuchen. Dann kann er daheim was erzählen.«

Dabei sah er mich unausgesetzt scharf und lauernd von der Seite an.

Es wurde mir klar, daß man diesmal noch nicht die Absicht hatte, die Brigg auf die Felsen zu setzen. Ich ließ daher in aller Ruhe die Jolle bereit machen, die Reemen hineinlegen, das Ruder einhängen und den Spaten holen.

Um die Mittagszeit hatten wir uns bis auf eine Meile dem Eiland genähert und Cadman schickte einen Matrosen mit dem Handlot in die Fockrüst. Der Steward brachte das Mittagessen für ihn und Fletcher auf das Achterdeck und beide aßen stehend am Oberlichtfenster, während ich mein Stück Salzfleisch und Brot unten in der Kajüte zu mir nahm. Als ich nach wenigen Minuten wieder an Deck kam, lag das Eiland dwars ab vom Schiffe und die Leute der Wache hantierten mit den Brassen. Fletcher stand wie am Morgen mit dem Teleskop an der Pardune und betrachtete das öde, felsige Land.

Der Mann in der Fockrüst verhielt sich still; er hatte das Lot zwar schon einigemal geworfen, aber noch keinen Grund gefunden. Die Insel bestand augenscheinlich aus vulkanischem Gestein, hier und da bedeckt mit dünnen Lagen lehmiger Erde. Auf den Höhen, deren Abhänge eine blaugraue Färbung zeigten, gewahrte ich einige Vegetation. Scharen von Vögeln erfüllten die Luft über dem Eiland und kreisten um das Gestade, wo sie sich wie wirbelnde, weiße Papierstückchen von dem schiefergrauen Hintergrund des Landes abhoben. Die spiegelglatte See bäumte sich an den Klippen in hohen, glasigen Wogen empor und brach sich dann schneeweiß schäumend und mit einem Getöse, das wie Gewittergrollen herüberklang. Die ganze Westseite war von wilder Brandung umkränzt und absolut unzugänglich; als wir aber nach Süden herumliefen, öffnete sich eine weite, ruhige Bucht, die eine Landung wohl gestattete.

Jetzt begann auch der Mann in der Fockrüst seine Stimme hören zu lassen; zuerst verkündete er sechzehn Faden Tiefe, dann siebzehn, dann zwanzig, und so weiter, bis wir schließlich die Brigg in dreiundzwanzig Faden Wasser beidrehten. Das Eiland lag Nord-Nordwest, etwa eine Seemeile entfernt.

»Sind Sie bereit, Herr Fletcher?« rief Cadman.

»Ich bin bereit,« antwortete Fletcher. »Ich habe die Insel sorgfältig durch das Glas abgesucht,« fuhr er fort, und zwar so laut, daß alle Mann ihn hören mußten, »konnte aber kein Anzeichen entdecken, das auf das Vorhandensein von Wasser schließen läßt.«

»Man übersieht von hier aus nur den kleinsten Teil des Landes,« versetzte Cadman.

»Sehr richtig,« sagte Fletcher. »Ich spähte besonders nach dem Blinken eines Wasserfalles. Aber, wie Sie richtig bemerkten, man übersieht von hier aus bei weitem nicht alles. Ich bin fertig, Steuermann.«

Die Jolle wurde zu Wasser gebracht; zwei Matrosen sprangen hinein, Herr Fletcher folgte und ich machte den Beschluß. Das Boot, ein altes, plumpes, verwittertes Fahrzeug, begann sofort in allen Fugen zu lecken.

»Vorwärts, Leute!« rief ich. »Je eher wir an Land kommen, desto weniger Arbeit haben wir mit dem Ausschöpfen dieses alten Siebes.«

Die Matrosen brummten und ließen allerlei höhnische Bemerkungen über das elende Boot hören und ich griff nach einer halben Kokosnußschale, um das Wasser auszuwerfen. Der Eigentümer des Bootes aber betrachtete stumm seine Brigg. Auch ich heftete beim Ausschöpfen den Blick darauf. Der Kasten lag so hoch aus dem Wasser, daß die grünliche Bekupferung einige Fuß breit sichtbar war. Er sah mit seinen plunderigen Segeln, seinen schlecht gestagten Stengen und dem steil ragenden Bugspriet wie ein alter, lebensmüder Collier (Kohlenschiff) aus. Ich hätte wohl wissen mögen, wie hoch die Brigg und ihre Ladung eigentlich versichert war.

Mit einer Hand die Ruderpinne haltend und mit der anderen das Wasser ausschöpfend steuerte ich die Jolle in die Bucht hinein. Der Strand war bald erreicht; ich sprang aus den Sand und Fletcher stieg gleichfalls aus.

»Holt das Boot aufs Trockene,« befahl ich den Leuten. »Da läuft das Wasser von selbst wieder heraus.«

»Geht aber nicht von der Stelle und achtet sorgfältig auf das Boot,« fügte Fletcher hinzu. »Der Steuermann und ich wollen uns nach Wasser umschauen. Sollte die Jolle wegtreiben, so könnten wir in eine höchst bedenkliche Lage geraten.«

Die Matrosen antworteten mit einem unverständlichen, verdrossenen Gemurmel. Herr Fletcher von Bristol stand nicht sonderlich in ihrer Gunst und die erbärmliche Beschaffenheit seines Bootes hatte ihre Empfindungen für ihn keineswegs verbessert.

Ich schulterte den Spaten und die Entdeckungsreise begann. Das Eiland war schattenlos und die Sonne brannte heiß hernieder. Die höchste Erhebung des Landes war bald erreicht; es mochte eine Ausdehnung von ungefähr einer englischen Meile haben. Große Strecken des Bodens waren mit einer Pflanze bedeckt, die von den Spaniern ›Barilla‹ genannt wird: dieselbe bildet etwa fußhohe Gebüsche und hat blaugrüne, stachlige Blätter. Später erfuhr ich gelegentlich, daß man aus der Asche dieser Pflanzen Soda bereitet.

Fletcher betrachtete die Gewächse eingehend und fragte mich nach ihrem Namen; dann hob er seine birnenförmige Nase empor und überschaute langsam rings das Eiland und das weite Rund des Ozeans.

»Dieser Eindruck wird mir unvergeßlich sein,« sagte er, bedächtig die Hände faltend und beifällig lächelnd. »Von nun an werde ich den ›Robinson Crusoe‹ mit ganz anderem Verständnis lesen. Seit meiner Kindheit habe ich das Buch nicht angesehen, dieses Bild der Oede und der Verlassenheit aber führt es mir wieder frisch und lebhaft vor die Seele.«

Dabei schweiften seine kleinen Augen rastlos über die Insel. Seine Stimme schien mir einen seltsamen, neuen Tonfall zu haben, sein Gesicht war merkwürdig bleich geworden und um Mund und Augen zuckte es ganz eigentümlich.

Die Fahrt im Boot wird ihn wieder ein wenig seekrank gemacht haben, sagte ich zu mir selber.

Als wir weiter schritten, sprangen hie und da Kaninchen auf und huschten eilig in andere Schlupfwinkel.

»Ich sehe nichts, was auf Wasser schließen ließe,« sagte Fletcher nach einer Weile, seine Blicke unablässig und mit unruhiger Hast über die Insel irren lassend.

Ich stieß den Spaten klirrend auf das lavaähnliche Gestein und versetzte:

»Durch Graben wird sich auch nichts zu Tage fördern lassen, wenigstens nicht hier oben. Im Sande an der Küste wäre es möglich, dort aber ist das Grundwasser brackig und nicht trinkbar.«

»Lassen Sie uns noch einen Blick auf das Terrain dort oben werfen,« meinte Fletcher. »Hernach kehren wir um.«

Mit diesen Worten schritt er schnell einer Anhöhe zu, die den westlichen Teil des Eilandes begrenzte.

Sein Wesen erschien mir immer sonderbarer. Es mußte etwas in ihm arbeiten, das er nur mit Mühe verbergen kannte. Sollte dieses Suchen nach Wasser nur ein Vorwand sein – so fragte ich mich, während ich ihm langsam folgte – eine Ausflucht? Wollte er vielleicht nicht vielmehr die Lage der Klippen erkunden und die Stelle aussuchen, wo in der nächsten Nacht die Brigg stranden sollte? Dieser Gedanke erfaßte mich mit solcher Gewalt, daß ich ganz fest beschloß, sogleich nach meiner Rückkehr an Bord dem Zimmermann alles zu sagen, was ich wußte und fürchtete.

Die Vögel umflatterten kreischend unsere Köpfe, viele saßen auch auf der Erde, und diese waren so wenig scheu, daß wir verschiedentlich über sie hinwegschreiten mußten, weil sie uns nicht aus dem Wege gingen.

»Ich sehe kein Wasser,« sagte Fletcher.

»Hier giebt's auch keins,« versetzte ich unwirsch.

Der Aufstieg wurde in der sengenden Hitze immer beschwerlicher; wo die Barillapflanzen nicht wucherten, da war der Boden hart, ausgedörrt und rissig. Fletcher aber marschierte noch immer voran, nach rechts und links ausschauend, als suche er trotz alledem eifrig nach Wasser. Endlich, am Rande des Felsplateaus angelangt, blieb er stehen; er beschattete die Augen mit der Hand und blickte seewärts in die Weite. Ich trat neben ihn. Wir befanden uns ungefähr hundert Fuß über dem Meeresspiegel; zu unseren Füßen fiel die Felswand senkrecht bis in die Brandung hinab.

»Ein erhabener Anblick!« rief Fletcher. »Sehen Sie diese grandiosen Schaummassen hier direkt unter uns!«

Ich schaute in die Tiefe. In demselben Augenblick that er einen Schritt rückwärts.

»Hinunter mit dir! Jetzt wirst du schweigen!« so hörte ich ihn noch rufen und zugleich schleuderte mich ein heftiger Stoß in den Abgrund. – – –

Ich erinnere mich, einmal von einem Matrosen gehört zu haben, der von der Oberbramraa gestürzt war. Während er durch die Luft schoß, sagte er zu sich selber: »Das ist nicht schlimm, wenn's nur so bleiben wollte.«

Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß ein Mensch während eines Sturzes sehr wohl allerlei denken kann. So war ich mir im Fallen der Worte bewußt, die der Schurke rief, indem er mir den Stoß versetzte, und auch der Empfindung, die mir seine Faust im Rücken verursacht hatte. Ebenso entsinne ich mich, daß ich mir wie ein fallender Bleiklumpen vorkam, bis im nächsten Moment ein mächtiger, prasselnder Krach erfolgte; ich hielt denselben für das Aufbrausen der See, in der ich mich mit schmetterndem Sturz angelangt wähnte. Dann aber war's alle mit mir.

Als ich wieder zur Besinnung kam, sah ich schwarze Finsternis um mich. Ich versuchte einen Arm zu heben, fand mich aber so gefesselt und umwunden, als läge ich eingewickelt in ein Fischnetz von hundert Faden Länge.

Es währte eine ganze Zeit, ehe ich meine Gedanken notdürftig beisammen hatte. Nach und nach merkte ich, daß mich der Kopf heftig schmerzte. Ganz rätselhaft aber war mir, was mich in so festen Banden halten mochte, bis ich endlich, durch Tasten mit den Fingern, dahinter kam, daß ich mich innerhalb eines dichten Gewirres von Zweigen und Blättern befand.

Nun bemerkte ich auch einen Lichtschimmer; es war das Flimmern des Mondes, das durch das Geflecht des mich umschließenden Gestrüpps drang.

Während ich so lag und mir das Hirn zermarterte über die Verfassung, in der ich mich befand, hörte ich den tiefen Ton der unter mir dröhnenden und brausenden Brandung, und nun kam mir auch bald das Verständnis dessen, was mit mir vorgegangen war.

Eins der Gebüsche, die hier und da aus den Gesteinspalten der Felshänge hervorgewachsen waren, rundlich und dicht, so daß sie von weitem, zum Beispiel vom Schiffe aus, an Pilz oder Schwammbildungen erinnerten, hatte meinen Sturz unterbrochen und mich aufgefangen. Das Krachen und Rauschen der Zweige und Blätter war mir wie das Tosen der Brandung vorgekommen. Mit der Erkenntnis meiner Lage kam mir auch die der furchtbaren Gefahr, in der ich schwebte. Nach dem Geräusch des Wassers unter mir zu urteilen, mußte ich in einer Höhe von fünfzig oder sechzig Fuß über dem Abgrund hängen; bei der leisesten Bewegung konnte ich hinabstürzen, um unten auf dem Gestein zu zerschellen.

Es war gegen drei Uhr nachmittags gewesen, als wir auf der Insel landeten; jetzt schien der Mond, es war also Nacht; wie lange hatte ich hier ohne Besinnung gehangen?

Ich mußte in sitzender Stellung in den Busch gefallen sein, denn ich hockte hier eingeklemmt, mit den Knieen dicht am Kinn. Vor Tagesanbruch durfte ich an einen Rettungsversuch nicht denken; die Beschaffenheit der Felswand unter mir war mir unbekannt, und so konnte ich nichts thun, als Gott bitten, im stande zu sein, dieselbe hinabzuklettern.

Nur mit Schaudern denke ich an jene Nachtstunden zurück, die mit schrecklicher Langsamkeit dahin krochen. Während derselben dachte ich auch über den Anschlag nach, durch den man mich auf dieses Eiland gelockt hätte. Fletcher und Cadman wußten also, daß ich ihr Gespräch belauscht hatte. Mit welcher Darstellung mochte der mörderische Schurke zum Boot zurückgekehrt sein? Ob er wohl gesehen, wie ich in diesem Busch verschwand? Jedenfalls hielt er mich jetzt für tot, und diese Kunde hatte er auch seinem Spießgesellen überbracht.

Der Tag brach endlich an. Zunächst war ich nun darauf bedacht, die Dichtigkeit und Festigkeit meines Busches zu prüfen. Das Gezweig war zähe und stark, dazu fest im Gestein verwurzelt. Ich klammerte mich an, wie nur ein Seemann sich anzuklammern weiß, und es gelang mir, die Füße zu strecken und nach unten hin eine Oeffnung in das Laubwerk zu stoßen, so daß ich hinabzusehen vermochte. Mir schwindelte. Eine sechzig Fuß hohe Felswand hinauf zu blicken ist nicht schlimm, aber hinunter! Namentlich aus einer Lage, wie die meine.

Ich sah auf das blaue Meer, auf die weiße Brandung. Dann aber gewahrte ich, etwa dreißig Fuß senkrecht unter mir, einen anderen Busch, der ebenso wie der meine, aus der Felswand herauswuchs. Unterhalb desselben wurde der Abhang uneben und zerklüftet und allenthalben von vorstehenden Blöcken und Zacken unterbrochen. Von dort aus würde es mir ein Leichtes sein, hinabzuklettern. Wie aber dahin gelangen?

Ich überlegte und kam zu der Ueberzeugung, daß es nichts anderes gäbe, als mich zunächst auf den Busch dort unten hinabfallen zu lassen. Das war der einzige Ausweg. Die Felswand war bis dorthin glatt wie eine Mauer; entweder mußte ich es also darauf ankommen lassen, den Busch im Sturz zu treffen oder zu verfehlen und das Genick zu brechen, oder aber zu bleiben, wo ich war, und hier elend zu verhungern.

Es galt einen schnellen Entschluß. Ich arbeitete mich durch das Gezweig vorsichtig nach unten; nach fünf Minuten – so lange dauerte es, da die Auslösung aus den elastischen Fesseln mühsam und äußerst gefährlich war – hing ich frei über der Tiefe. Noch ein Stoßgebet, dann ließ ich los.

Ein sausender, blitzschneller Sturz, und ich steckte wieder mitten im Busch. Diesmal vergingen mir die Sinne nicht, aber in den ersten Momenten glaubte ich, daß mir die Augen aus den Höhlen, die Ohren vom Kopf und die Haut vom Gesicht gerissen seien. Ich stak in aufrechter Stellung in dem Gezweig, das noch stärker war, als das des oberen Busches.

Eine Weile verhielt ich mich regungslos, um wieder zu Atem zu kommen; dann tastete ich nach Augen und Ohren und fand alles noch in Ordnung, wenn auch arg zerschunden. Jacke und Hemd aber waren gänzlich zerrissen und mit Blut bedeckt.

Nach kurzem Besinnen begann ich mich durch den Busch nach unten zu arbeiten und bald hatte ich die Freude, etwa vier Fuß unterhalb desselben einen Felsvorsprung zu gewahren, an den sich abwärts weitere Vorsprünge und schräge Hänge anschlossen, von denen ich mit Leichtigkeit den sicheren Boden erreichen konnte. Mit aller Macht befreite ich mich von dem Gestrüpp, ließ Jacke und Hemdfetzen in demselben zurück, sprang auf das Gestein und wenige Minuten später langte ich am Strande an.

Hier wendete ich mich um und schaute zu der Höhe hinauf, von der man mich hinabgestürzt hatte. Ein heißer Zorn wallte in mir aus. Ob es mir wohl jemals gelingen würde, den verräterischen Bösewicht zur Bestrafung zu ziehen? Wie verschmitzt und heuchlerisch war der Schuft gewesen, sich den Anschein zu geben, als entzücke ihn die herrliche Szenerie, um mir dann im nächsten Moment den tückischen Stoß zu versetzen!

Ich setzte mich nieder, würgte meinen Grimm in mich hinein und dachte an Herrn Fletcher von Bristol.


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