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10. Kapitel.
Der Blitzschlag.

In der vorderen Wand der Kajüte befand sich eine Thür nebst zwei Fenstern. Diese Thür und die Fenster standen weit offen. Ich konnte hinausschauen, über das ganze Deck, bis vorn zur Back. Und dieses ganze Deck wimmelte von Frauenzimmern.

Ich schätzte ihre Zahl auf hundert. Sie standen schwatzend und lachend gruppenweise umher. Auch kamen sie, guckten in Thür und Fenster herein und gingen vorüber. Alles war in fortwährender Bewegung, in buntem, unablässigem Durcheinander.

Auch durch das offene Oberlichtfenster blickte eine Reihe von Mädchengesichtern herab. Bänder, Tücher und Hutfedern wehten in der Brise, ein lang entbehrter Anblick für mich; und alle diese Weiblein waren jung, soviel ich bis jetzt zu sehen vermochte.

Brigstock stand neben mir. Ich sah ihn an, eine Erklärung erwartend. Wo alle diese Frauenzimmer inzwischen hergekommen waren, darüber war ich nicht im Zweifel. Man hatte sie in dieser tropischen Hitze im Zwischendeck eingesperrt gehalten, unter dichtgemachten Luken, damit Brigstock seinen Betrug ungehindert ausführen konnte.

»Was sind das für Weibsleute?« fragte ich.

»Das sind Auswanderer,« antwortete Brigstock, »zusammen neunzig Köpfe, dazu kommen wir Mannspersonen, mit zwölf Köpfen. Hundertundzwei Seelen treiben hier auf dem Ozean herum, ohne Navigator, und einzig und allein auf die Vorsehung angewiesen.«

»Warum haben Sie denn da meinem Kapitän nicht die Wahrheit gesagt?« fuhr ich ihn an. »Er hätte das Schiff in Sicherheit gebracht und mich hier an Bord gesetzt, das Fahrzeug zu führen, bis Sie neue Offiziere erhalten hätten!«

Ein eigentümliches Lächeln kroch langsam über sein Gesicht.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Morgan,« sagte er, »ich will Ihnen alles erzählen.«

Ich ließ mich in einen Sessel fallen. Oben im Oberlichtfenster drängten sich jetzt die Mädchenköpfe und auch die Thür und die Fenster wurden nicht mehr leer von neugierig Hereinschauenden. Brigstock sah empor.

»Sie nehmen uns die Luft weg, meine Damens,« rief er. »Sie dürfen sich auch nicht mehr aufs Achterdeck aufhalten, wo das Schiff jetzt doch wieder einen Kapitän hat! Seien Sie so gut, meine Damens, und gehen Sie runter aufs Hauptdeck, wo Sie hingehören, und verstopfen Sie uns nicht länger das Oberlicht.«

»Kann der neue Kapitän uns nicht sagen, ob wir in diesem Leben noch mal nach Australien kommen?« rief ein junges Frauenzimmer mit einer Stumpfnase und lustig glitzernden blauen Augen.

»Ja, ja, jetzt ist ja alles in Ordnung, alles in schönster Ordnung,« antwortete Brigstock beschwichtigend. »Nun seien Sie aber auch gut, meine Damens, und gehen Sie hübsch artig nach vorn.«

»Wenn Sie ein richtiger Mann sind,« rief ein anderes Mädchen, schwarzlockig, rotwangig, mit dunklen, blitzenden Augen, ein richtiges Zigeunergesicht, »dann verheimlichen Sie vor dem neuen Kapitän auch nicht das Unrecht, das Sie uns anthun wollen, und daß dies Schiff gar nicht nach Orstralien segeln soll, sondern nach einer einsamen Insel –«

»Das ist nicht wahr,« entgegnete Brigstock. »Sie reden, was Sie nicht verantworten können, Fräulein Dolly Johnson! Jawohl, so heißen Sie, ich kenne Ihnen ganz gut! Ich habe Ihnen oft genug ermahnt, anständig zu sein, und sittsam! Es geht hier alles mit rechten Dingen zu, und der neue Kapitän soll sogleich erfahren, was es mit Ihren Redensarten für Bewandtnis hat. Wollen Sie wohl so freundlich sein, und da oben Platz machen?«

»Herr Kapitän, bitte, sagen Sie uns doch, was eigentlich aus uns werden soll!« wendete sich ein bleiches, dunkelhaariges Mädchen mit klagender Stimme an mich. Sie schien mir ein sogenanntes besseres Hausmädchen oder eine Näherin zu sein; sie trug ein rundes Samthütchen und einen anschließenden Paletot, der ihre hübsche Figur zur Geltung kommen ließ.

Ich war zu verwirrt und erregt, um eine Antwort geben zu können. Alle die Gesichter, die aus dem Oberlichtfenster mich anstarrten, und alle die Frauensleute, die sich in der Thür und vor den Fenstern drängten, unaufhörlich plappernd, lachend, scheltend und einander stoßend und schiebend, um den ›neuen Kapitän‹ mustern zu können – das war mehr als hinreichend, einen Mann, der seit langen Wochen kein weibliches Wesen gesehen, der sich überdies von jeher in größerer Damengesellschaft niemals recht wohl und behaglich gefühlt hatte, gänzlich aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Sie wollen also wirklich nicht fortgehen, trotzdem ich Ihnen so freundlich gebeten habe?« rief Brigstock jetzt mit dröhnender Stimme, jedoch ohne jeglichen Zorn. »Herr Morgan, ich bin in zwei Minuten wieder da.«

Er ging an Deck und rief nach Isaak und Jupe, nach Joe und noch einigen anderen Matrosen und befahl ihnen, achteraus zu kommen. Jetzt verschwanden die Mädchenköpfe in aller Eile aus dem Oberlichtfenster; nur wenige zögerten noch, unter diesen das schwarzlockige und rotwangige Zigeunergesicht.

»Lieber Herr Kapitän,« kam es schrill über die vollen Purpurlippen, »bitte bringen Sie uns nach Orstralien! Wir sind Auswanderer, lauter anständige Mädchens, und einige von uns sind sogar richtige Damen. Die Matrosen sind dumm und wissen nichts, aber reden thun sie, reden –«

Inzwischen waren einige der Seeleute auf dem Achterdeck erschienen, und jetzt machten sich auch die Hartnäckigsten der Mädchen auf den Rückzug, jedoch nicht ohne lauten Protest; die Stimme der Schwarzlockigen war am längsten und deutlichsten vernehmbar. Als auch der Platz auf dem Hauptdeck vor der Kajüte geräumt war, und keine Neugierigen mehr die Thür und die Fenster belagerten, kam Brigstock gemächlich die Treppe wieder herunter. Er legte seinen Hut auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber.

»Habe in meinem Leben keine Frau gekannt, deren Zunge nicht mit beiden Enden zugleich wackeln konnte,« sagte er. »Reden, reden, weiter giebt's nichts. Die Dolly Johnson zum Beispiel. Tippt einer die an, dann geht's los und kein Ende, als wenn einer einen Bohrer nimmt und bohrt ein Wasserfaß an. Aber die Frauen sind nun mal die schwächeren Gefäße und man muß sie ertragen.«

»Kommen Sie zur Sache,« nahm ich das Wort. »Warum werde ich hier zurückgehalten?«

Er erhob langsam den Kopf und sah nach der Stelle in der Decke, wo der weiß gestrichene Kreuzmast, aus dem Fußboden emporwachsend, hindurchging.

»Sehen Sie da den schwarzen Fleck?« fragte er.

Ein dunkler Streif, wie mit glühendem Eisen gezogen, lief, von der Decke abwärts, den Mast entlang, in schräger Wendung nach hinten.

»Das kann nur die Spur eines Blitzschlages sein,« versetzte ich.

»Richtig,« nickte er. »Der Kapitän dieses Schiffes hieß Halcrow, der erste Steuermann hieß Billing und der zweite hieß Jeremias Latto. Was der Bootsmann war, der hieß Cox, und dann war da noch ein Doktor Rolt an Bord, der die Aufsicht über die Auswanderer hatte. Eines Tages saß der Kapitän mit dem Doktor Rolt und dem ersten Steuermann an diesem Tisch beim Mittagessen. Der Kapitän da drüben, hier der Doktor, und neben ihm, also da, der Steuermann Billing. Ich war achteraus gekommen, um da oben eine Schraube ins Oberlichtfenster zu ziehen. Das Wetter war dunstig und mächtig schwül. Ich mußte mir einen anderen Schraubenzieher holen und war eben in meiner Kammer angekommen, wo auch der zweite Steuermann wohnte, da gab's auf einmal einen Donnerschlag, daß ich meinen that, das Schiff ginge auseinander. Gleich darauf höre ich einen schreien: ›Der Blitz hat eingeschlagen!‹ und indem kommt auch schon der Steuermann Billing aus der Kajüte gestürzt und brüllt wie ein Stier und schwenkt die Arme wie ein Unkluger. Wie wir nun alle achteraus rennen, da thuts einen zweiten Donnerschlag geben und zugleich gießt der Regen herunter, wie ein Wasserfall.

»Was war geschehen? Wie wir hierherkommen, liegt da der Doktor Rolt mausetot. Der Kapitän aber steht mitten in die Kajüte, hat die Hände vor das Gesicht und schreit: ›O meine Augen! Ich bin blind! Ich bin blind!‹ Da – sehen Sie, Herr Morgan – da kam der Blitz herunter und schlug den einen tot und den anderen mit Blindheit.«

Ich stand auf und betrachtete die Brandmale am Mast. Brigstocks Bericht hatte durchaus nichts Unwahrscheinliches. Er fuhr fort:

»Den Doktor Rolt haben wir am nächsten Tage begraben; er war ein guter Mann und ein frommer Mann, Gott hab' ihn selig. Der Kapitän war blind und daher dienstunfähig. Kein Mensch an Bord konnte ihm helfen. Er blieb in seiner Kammer und Steuermann Billing that das Kommando übernehmen; wir merkten jedoch bald, daß es mit ihm nicht mehr ganz richtig war. Mag wohl auch durch dem Blitzschlage gekommen sein. Manchmal rief er einen Matrosen, und wenn der Mann achteraus kam, wußte er nicht mehr, weshalb er ihm gerufen hatte. Lange sollte das auch nicht mehr dauern.

»Das war in einer Mittelwache. Cox, der Bootsmann, war eben an Deck gekommen. Auf einmal hieß es: ›Mann über Bord!‹ Warum? Weil Steuermann Billing ins Wasser gesprungen war. So wahr die Bibel, die ich täglich lese und an der ich glaube, ein heiliges Buch sein thut! Ueber Bord gesprungen! Der Rudersmann hatte alles mit angesehen und das Schiff alarmiert. Wir drehten bei und setzten ein Boot aus. Mondschein war ja, aber den Steuermann haben wir nicht wiedergefunden.

»Nach einer Weile hieß es, daß auch der Kapitän schwach im Kopfe geworden wäre; die Nachricht brachte uns der Steward. Der sagte uns auch noch, daß der Schiffer mit dem ersten heimsegelnden Fahrzeug, das uns begegnete, nach Hause wollte. Das sah schlecht aus; selbst ein blinder Kapitän soll sein Schiff nicht verlassen. Warum befahl er nicht dem zweiten Steuermann, den nächsten Hafen anzulaufen? Weil der zweite Steuermann selber das Kommando haben wollte und aus dem Grunde den Schiffer überredet hatte, heimzukehren. Denn das hatte er, davon sind wir alle fest überzeugt. Ein armer schwachsinniger Blinder ist weich wie Wachs, wenn er in die richtigen Hände kommen thut.

»Heute sind's gerade zehn Tage, da kriegten wir das Schiff ›Sovereign‹, von Bombay nach London, in Sicht. Wir drehten bei, erwarteten es, und Latto, was der Zweite war, sprach mit seinem Schiffer. Der ›Sovereign‹ hatte einen Doktor an Bord, der aber lag mit gebrochenem Bein in seiner Koje. Der Skipper forderte also unsern Latto auf, mit Kapitän Halcrow an Bord des ›Sovereign‹ zu kommen, damit der Doktor die Augen des Blinden untersuchen und ihm sagen könnte, ob der Schaden von selber wieder heilen würde, oder ob Kapitän Halcrow nach Hause müßte, um sich dort operieren zu lassen.

»Na, unser armer Schiffer mußte ja ins Boot und Latto und Cox, die fuhren mit ihm. Cox wollte sich bei dem Doktor wegen seines Rheumatismus befragen. Ich mußte ja nun natürlich so lange das Kommando übernehmen. Ich habe als Zimmermann angemustert, bin aber auch Vollmatrose und Segelmacher und habe außerdem auf einem Küstenfahrer drei Reisen als Steuermann gemacht. Von Navigation aber verstehe ich nichts.

»Aber weiter. Es wehte den Morgen eine steife Brise. Das Wetter war dick und trübe und es dauerte auch nicht lange, da kam eine tüchtige Bö herauf. Wir geieten die Segel auf, das Großmarssegel aber lag back. Wenn wir die Stenge nicht verlieren wollten, mußten wir die Raa rundbrassen; ich nahm also mein Ruder auf, in der Meinung, daß der ›Sovereign‹, der unsere Lage ja sehen mußte, uns mit unsrem Boot folgen würde, bis wir wieder beidrehen konnten.

»Um die Geschichte kurz zu machen, die Brise nahm zu und gegen Mittag wehte ein halber Orkan. Zu Luward war alles dick und schwarz. Wir refften dicht und drehten bei, von dem anderen Schiffe aber war nichts mehr zu sehen. Wir warteten und warteten, haben es jedoch seitdem nicht mehr wiedergesehen.«

Er stand auf und ging in eine der Kammern, die neben der des Kapitäns lagen. Nach einer kleinen Weile kehrte er mit dem Logbuch und einem Blechkasten zurück.

»Sie haben meinen Bericht gehört, Herr Morgan,« sagte er. »Jetzt sollen Sie sich überzeugen, daß ich die Wahrheit geredet habe.«

Ich öffnete das Logbuch und sah bald, daß die in der Rubrik ›Bemerkungen‹ gemachten Eintragungen mit Brigstocks Angaben genau übereinstimmten. Der erste Steuermann hatte das Journal geführt bis zu dem Tage, wo der Schiffer sein Augenlicht verlor und er das Kommando übernehmen mußte. Von da ab hatte Latto die Eintragungen gemacht, wie aus der Verschiedenheit der Handschriften zu erkennen war.

Der Blechkasten enthielt die Schiffspapiere. Aus denselben ergab sich, daß das Schiff mit Gütern für Neu-Süd-Wales befrachtet war und zwar mit landwirtschaftlichen Werkzeugen, Hausgerät, männlichen und weiblichen Bekleidungsstücken und dergleichen mehr. Es führte außerdem neunzig weibliche Auswanderer an Bord, eine Matrone oder Aufseherin inbegriffen. Die Bemannung hatte anfänglich aus neunzehn Matrosen bestanden, durch Todesfälle und das Bootsunglück aber war ihre Zahl auf zwölf gesunken

»Sind Sie nun zufriedengestellt?« fragte Brigstock, während jenes seltsame Lächeln wieder langsam über sein Gesicht zog.

»Ja, wenigstens insofern, als Sie die Wahrheit gesagt haben,« antwortete ich. »Meine Lage aber wird dadurch nicht gebessert. Wollen Sie mich nun auch wissen lassen, wohin Sie mit dem Schiffe wollen und was ich zu erwarten habe?«

»Wenn Sie erlauben, bringe ich dies in Ihre Kammer,« sagte er.

Damit trug er das Logbuch und den Blechkasten in das Gemach, in dem ich vorhin eingesperrt gewesen.

»Und nun, Herr Morgan,« fuhr er fort, indem er seinen Hut vom Tische nahm, »ehe ich Ihnen unsern Plan mitteilen thue, wäre es mich lieb, wenn Sie das Schiff besichtigen wollten.«

Und ohne meine Antwort abzuwarten, stampfte er die Kampanjetreppe hinauf.


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