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8. Kapitel.
Der »Earl of Leicester«.

Wir schrieben den 1. Mai 1851. Der Tag war ein Freitag. Ich entsinne mich nicht mehr genau, wie lange ich an diesem 1. Mai bereits den Posten eines ersten Steuermannes an Bord der ›Karoline‹ bekleidet hatte, wohl aber entsinne ich mich, daß ich mich auf dem Schiffe sehr wohl fühlte. Mein Verhältnis zu Blades war eher das eines Passagiers, als das eines untergebenen Schiffsoffiziers. Er promenierte mit mir auf dem Achterdeck, wir plauderten und rauchten zusammen und verbrachten die müßigen Stunden mit Karten- und Schachspiel. Er lieh mir seinen Sextanten und stellte mir seine Kammer zur Verfügung. Mit solch einem Manne wäre ich freudig immer rund um die Welt, und meinetwegen zeitlebens, gesegelt. Während all meiner Seefahrtszeit habe ich mich nie glücklicher gefühlt, als mit Blades an Bord der ›Karoline‹.

Auch der alte Brace, der Bootsmann, war ein Prachtexemplar und einer der gediegensten Seeleute, die ich kennen gelernt. Er war alles gewesen, was ein Mann auf See sein kann: Walfischfänger, Sklavenjäger, Fischer, Lotse, Schmuggler, Koch auf einem westindischen Küstenfahrer, Quartermaster auf einem Kriegsschiff, Matrose auf den berüchtigten Liverpooler Paketbooten und Skipper eines amerikanischen Schoners, der an der chinesischen Küste Opiumhandel trieb. Eine Unterhaltung mit diesem Manne glich dem Lesen des spannendsten Buches. Er war bis unter die Decksbalken voll von Erfahrungen und wunderbaren Erlebnissen.

Die Janmaaten der ›Karoline‹ ließen gleichfalls nichts zu wünschen übrig; freilich war Blades auch einer der wenigen Kauffahrteischiffer, die es verstehen, sich die volle Sympathie ihrer Mannschaft zu erwerben, ohne dabei auch nur das geringste von ihrer Achterdeckswürde zu vergeben. Ich bestrebte mich nach Kräften, seinen Theorieen und Ansichten zu entsprechen, und so waren wir alle miteinander ein zufriedenes, ruhiges und behagliches Schiff.

Der 1. Mai 1851. Ich war an diesem Freitagmorgen mit dem Schlage acht Glasen an Deck gekommen, um den Bootsmann abzulösen, der seit vier Uhr die Wache gehabt hatte. Blades spazierte auf dem Achterdeck, angethan mit Pantoffeln, weiten, flatternden Leinenhosen und weißer Flanelljacke. Die Sonne brannte mit tropischer Glut hernieder; es war sehr heiß, um so heißer, als der ruhige Meeresspiegel die Sonnenstrahlen wieder zurückwarf.

»Was haben wir denn da?« sagte Blades, seinen Gang unterbrechend und nach einem fernen Segler auslugend, den ich bereits beim Andeckkommen wahrgenommen hatte.

Ich holte das Teleskop und reichte es ihm.

»Ein kleines Vollschiff,« sagte er, mit dem Auge am Glase. »Es liegt gerade in unserem Fahrwasser, und zwar quer. Wie hat das Ding denn seine Raaen gebraßt? Vor- und Großtopp vierkant und achtern scharf an – da, sehen Sie doch mal hin.«

Ich richtete den Tubus auf den fremden Segler und fand alles, wie der Skipper gesagt hatte. Wenn unsere Bark sich hob, wurde die Reeling des Schiffes soeben über der Kimmung sichtbar.

»Auf dem Fahrzeug da ist etwas nicht in Ordnung,« sagte ich. »Vielleicht Krankheit an Bord; kann auch sein, daß es verlassen ist.«

»Sie mögen wohl recht haben,« versetzte er langsam, nachdem er noch einmal hingeschaut hatte.

Dann kam das Frühstück und danach die tägliche Schiffsarbeit. Gegen elf Uhr vormittags hatten wir das fremde Schiff in Rufweite. Blades ließ backbrassen.

Auf dem Achterdeck des Vollschiffes, das einen recht verlorenen Eindruck auf uns machte, trotzdem es äußerlich, mit seinem weißen Gang und den gemalten, schwanen Stückpforten rings herum und seiner noch ganz neuen Bekupferung, recht sauber und schmuck aussah, gewahrten wir nur zwei Männer, und der eine davon stand am Ruder. Sonst war auf dem ganzen Schiff kein lebendes Wesen zu erspähen. Der Mann am Ruder war ein Matrose, der andere sah weniger seemännisch aus; er trug einen schwarzen Rock und einen breitrandigen Strohhut. Ueber ihm, an der Gaffel, wehte die verkehrt gehißte englische Flagge, ein Notsignal.

»Schiff ahoy!« rief Blades hinüber.

»Halloh!« kam die Antwort.

»Was für ein Schiff ist das?«

»Der ›Earl of Leicester‹, von Madras nach London. Wir sind in großer Not. Schicken Sie uns einen von Ihren Offizieren an Bord, wir können kein Boot mehr bemannen, da uns die Leute dazu fehlen.«

»Was ist's mit euren Leuten?« fragte unser Skipper.

»Die sind fast alle an der Pest gestorben,« antwortete der andere. »Nein, nicht an der Pest,« verbesserte er sich schnell, »eine Art Fieber war's, ja, ein Fieber, das einige mit an Bord brachten und das dann die übrigen angesteckt hat.«

»Allzu schnell kann's nicht gewirkt haben,« sagte Blades, zu mir gewendet, »es ist ein langer Weg von Madras bis hierher. Was verlangt ihr denn von uns?« rief er dann wieder hinüber.

»Hilfe, Beistand!« gröhlte der im schwarzen Rock.

»Wieviel dienstfähige Leute habt ihr noch?«

Der Mann deutete auf den am Ruder stehenden Matrosen.

»Hm,« machte Blades, sich den Kopf kratzend. »Allerdings etwas wenig für ein Schiff von der Größe.«

Dabei sah er mich an.

»Schicke ich von meinen Leuten welche an Bord, dann überliefere ich sie der Seuche, der die anderen erlegen sind. Das kann ich nicht. Nehme ich die beiden da drüben zu uns an Bord, dann bringen sie uns womöglich die Pest auf den Hals, denn wer kann wissen, wie weit sie bereits angesteckt sind?«

Der Mann im Strohhut schaute unbeweglich zu uns herüber.

Blades überlegte eine Weile.

»Andererseits,« fing er dann wieder an, »können wir solch ein schönes Schiff hier auch nicht so treiben lassen. Hm! Habt Ihr Tote an Bord?« rief er hinüber.

»Alle begraben,« lautete die Antwort.

»Wieviel liegen noch krank?«

Der Mann drehte den Kopf nach dem steuernden Matrosen um und schien etwas zu fragen. Dann rief er mit einer Stimme, die sicherlich aus keiner kranken Brust kam:

»Zwei – und wir zwei, macht vier; der Rest von dreiundzwanzig Mann!«

»Wer sind Sie?« fragte Blades.

»Der Schiffszimmermann.«

Der Skipper schaute sinnend vor sich hin.

»Jedenfalls können wir das Schiff nicht im Stich lassen,« sagte er endlich zu mir.

»Das können wir nicht, Kapitän,« erwiderte ich.

»Möchte wohl wissen, welcher Art die Krankheit ist. Das Schiff brächte uns einen Haufen Bergegeld.«

»Schicken Sie mich an Bord, ich bringe Ihnen Bericht.«

»Sie sind doch aber kein Arzt. Können Sie denn eine Krankheit aus der Schilderung der Symptome erkennen? Wenn's nun die schwarzen Pocken sind?«

Er schauderte und warf einen beinahe scheuen Blick auf das Schiff.

»Ich denke mir, die Erkrankungen haben ihre Ursache in den Ausdünstungen der Ladung,« antwortete ich. »Weizen verursacht zum Beispiel manchmal Blindheit, Kaffee brütet Fieber aus.«

Sogleich rief Blades das Schiff an und verlangte zu wissen, was es geladen habe.

»Zucker, hauptsächlich,« antwortete der Mann, der noch immer an der Reeling stand und uns, die Hand an einer Pardune, unausgesetzt beobachtete.

»Entsteht durch Zucker nicht eine Art Schweißkrankheit?« fragte mich der Skipper.

Das war mir unbekannt.

»Es wird sich so verhalten, wie Sie sagen,« fuhr er fort. »Ladungsdunst hat schon mehr als einmal eine Pest an Bord ausgebrütet. Ich denke, es kann nicht schaden, wenn Sie ins Boot gehen und sich die Sache einmal ansehen. Sollten wir uns mit dem Schiffe auch nicht weiter befassen können, so müssen wir doch die Leute retten, das ist außer Frage. Hm – vielleicht könnten wir's ins Schlepptau nehmen – dann aber müßten doch unsere Leute an Bord, um die Segel fest zu machen, – hm! Na, Steuermann, wenn Sie Lust haben, gehen Sie meinetwegen. Das soll kein Befehl sein, wohlverstanden! Ich überlasse es ganz Ihrem freien Willen.«

Das genügte mir. Ich rief einige Matrosen und befahl ihnen, das Steuerbord-Quarterboot zu Wasser zu bringen.

Die Leute zögerten; sie hatten gehört, was der Mann dort drüben gesagt hatte. Als ich ihnen jedoch erklärte, daß sie mich nur an Bord setzen und dann in sicherer Entfernung auf mich warten sollten, da regten sie sich mit dem gewohnten Eifer.

Das Boot wurde ausgesetzt und ich machte mich mit drei Mann auf den Weg. Ich steuerte so, daß wir hinter dem Schiff herum und nach dessen Leeseite kamen. Als der Mann im Strohhut das Boot herankommen sah, stieg er langsam von der Reeling und kreuzte das Deck nach jenseit. Seinem ganzen Wesen nach zu urteilen, schien er seine unglückliche Lage ziemlich kühl aufzufassen.

»Kreuzrüst, Leute,« sagte ich. »Hernach stoßt ihr ab und bleibt in Rufweite liegen.«

Ich sprang in die Rüst und der Mann im Buge schob das Boot wieder klar vom Schiff.

Gleich darauf stand ich an Deck eines der feinsten Schiffe, die ich je betreten. Allenthalben waltete die peinlichste Sauberkeit, aber nirgends war etwas Lebendiges zu sehen, ausgenommen einiges Geflügel in einem langen Hühnerhock achter dem Großmast. Die Brassen und Fallen und all das andere laufende Gut lag und hing allerdings lose und unordentlich umher. Die Segel schlugen und klappten in der sich jetzt stärker aufmachenden Brise und die Raaen knarrten unangenehm hin und her. Was hatte der Matrose dort hinten unter solchen Umständen zu steuern? Das begriff ich nicht.

Der Mann mit dem Strohhut kam auf mich zu. Er mochte vierzig Jahre alt sein, hatte glattrasierte Wangen und Oberlippe, schwarzes, mit Grau gemischtes, anliegendes Haar und ein ebensolches Bartbüschel am Kinn. Seine Augen waren schwarz und durchdringend, seine Züge grob und fest, dabei bieder und nicht unfreundlich. Sein schwarzer Rock hatte noch den Glanz der Neuheit, ebenso seine Weste und Beinkleid. Dazu trug er ein feines Flanellhemd, ein seidenes Halstuch und gute Stiefel. Solch einen eleganten Schiffszimmermann hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen.

»Ich bin Ihnen dankbar für diesen Besuch, Herr,« sagte er mit grüßender Handbewegung. »Darf ich fragen, welchen Posten Sie an Bord der Bark bekleiden?«

Seine Stimme war ruhig, gesetzt und tief.

»Den Posten des ersten Steuermanns,« antwortete ich. »Lassen Sie uns nun hören, welcher Art die Krankheit war, die so viel Unheil hier angerichtet hat.«

»In der Kajüte ist ein Buch, worin der Kapitän alles genau so gefunden hat, wie wir es erleben mußten,« entgegnete er. »Ich bin nur ein ungebildeter Mann und könnte es nicht so erklären, wie es nötig ist und wie Sie es in dem Buche finden werden.«

»Was für ein Buch ist das?« fragte ich. »Ein medizinisches Werk?«

»Das muß es wohl sein. Da sind auch Bilder drin vom menschlichen Leibe, Augen und Ohren und Hände und all so was. Und ein Stück ist drin, was eine klare und deutliche Beschreibung von die ganze Krankheit ist, an die unsere Leute gestorben sind.«

»Was ist doch Ihre Ladung?«

»Zucker.«

»Haben Sie viel Dunst wahrgenommen?«

»Kann nicht sagen, daß wir darauf geachtet hätten,« erwiderte er, den Blick langsam und wie fragend auf den Mann am Ruder richtend.

»Wollen Sie das Buch nicht an Deck bringen?« fuhr ich fort, da es mir widerstrebte, in das Innere des Fahrzeugs hinabzusteigen. Das Oberlichtfenster war geschlossen und die roten Gardinen innerhalb desselben dicht zugezogen.

»Sie würden mir einen großen Gefallen thun, wenn Sie sich hinabbemühen wollten,« versetzte er in seiner ruhigen, respektvollen Weise. »Da unten ist auch das Logbuch. Darin sind die Eintragungen zu lesen, bis zu dem Tage, wo der zweite Steuermann, der letzte von die Achtergäste, die Krankheit kriegte. Auch die Todesfälle thun alle drin stehen, und noch manches, was Sie Aufklärung geben kann.«

Die Erwähnung des Logbuches war entscheidend für mich. Auch lag mir daran die Schiffspapiere durchzusehen. Ich ging auf die Kajütskappe zu. Eilfertig schritt jetzt der Mann voran, mir den Weg zu zeigen.

Kaum aber hatte ich die untersten Stufen der Kampanjetreppe erreicht, als ich gewahrte, daß ich in eine Falle gegangen war. Hastig kehrte ich um, mit dem Gedanken, über Bord zu springen und schwimmend nach meinem Boote zu rufen. Da aber wurde oben der Ausgang schmetternd zugeworfen und die Treppe verfinsterte sich. Jetzt drehte ich mich wieder der Kajüte zu, knirschend die Fäuste ballend und bereit mich auf Leben und Tod zu wehren. – – –


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