Joseph Roth
Reportagen
Joseph Roth

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Reise in Rußland

Vortrag über die Eindrücke der Rußlandreise

(Fragment eines Entwurfs)
Frankfurt am Main, Januar 1927

Meine Herren,

ich werde mich bemühen, Ihnen heute abend zu beweisen, daß das Bürgertum unsterblich ist. Die grausamste aller Revolutionen, die bolschewistische, hat es nicht zu vernichten gemocht. Und nicht genug daran: diese grausame bolschewistische Revolution hat ihren eigenen Bürger geschaffen. Ich will Ihnen gerne gestehen, daß das Fragezeichen hinter dem Titel meines heutigen Vortrags nicht etwa meinen Zweifel an der Existenz des bolschewistischen Bürgers ausdrücken sollte, sondern den Zweck hatte, Sie neugierig zu machen. Ich wollte nicht etwa sagen: Ist so etwas wie ein bolschewistischer Bürger möglich? Ich wollte sagen: ist es nicht ein Witz, daß man von einem bolschewistischen Bürger sprechen kann?

Entsinnen Sie sich, was der Klang des Wortes »Bolschewik« noch vor einigen Jahren für deutsche bürgerliche Ohren bedeutete, bedenken Sie, was er heute noch für französische Ohren bedeutet. »Bolschewismus« hieß Zerstörung der materiellen bürgerlichen Kultur, Bolschewismus hieß die Gefahr, die dem Leben und dem Besitz drohte. Indessen sind ein paar Jahre vergangen, nur ein paar Jahre sind vergangen. Und das Wort Bolschewismus verlor in dem Maße seine Gefährlichkeit, in dem die erste revolutionäre, die erste proletarische Regierung der Welt und der Geschichte im bürgerlichen Ausland Handelsvertretungen zu errichten begann. Es scheint mir, meine Herren, daß man denjenigen nicht ernstlich bedrohen kann, mit dem man Geschäfte macht. Vergeblich hat sich die Sowjetregierung bemüht, diese Fiktion aufrechtzuerhalten. Vergeblich bemüht sie sich noch heute, das Gleichgewicht zu finden zwischen ökonomischen Notwendigkeiten und den Forderungen des Prinzips. Vergeblich bemüht man sich in Sowjetrußland, die revolutionäre Reputation zu retten, ohne den sogenannten Aufbau des Staates zu stören. Aber es geht nicht länger mit der revolutionären Reputation, wie es noch nicht geht mit dem Aufbau des Staates. Nach dem roten, ekstatischen, blutigen Terror der aktiven Revolution kam in Rußland der dumpfe, stille, schwarze, der Tinten-Terror der Bürokratie. Man könnte sagen: Wem Gott in Sowjetrußland ein Amt gibt, dem gibt er auch eine bourgeoise Psychologie. Bei einem so bürgerlichen Wesen, wie es Gott nach der Meinung aller eingefleischten Marxisten ist, soll es mich nicht wundern. Aber wenn eine so revolutionäre Macht, wie es der Sowjet ist, die göttliche Funktion der Ämterverteilung übernimmt, so muß man schon staunen über das Maß der kleinen Schreibtisch-Bürgerlichkeit, die im heutigen Rußland das öffentliche Leben bestimmt, die innere Politik, die Kulturpolitik, die Zeitungen, die Kunst, die Literatur und einen großen Teil der Wissenschaft. Alles ist beamtet. Jeder Mensch auf der Straße trägt irgendein Abzeichen. Jeder ist eine Art öffentlicher Faktor. Alles ist mobilisiert. Es ist ganz genau, wie im Kriege, wo der Heroismus und die Romantik in Wirklichkeit mit Löschblatt, Tintenfaß und Gummiarabicum hantierten. Auch die Revolution hat allgemeine Mobilisierungen und letzte Aufgebote. Der Marxismus konnte ein bürgerliches Volk, wie es das deutsche ist und wie es noch stärker in den Entstehungsjahren der deutschen Sozialdemokratie war, revolutionieren. Aus Veteranen, die an Kaisers Geburtstag Zylinder tragen, kann die Kühnheit eines kommunistischen Manifests wahrscheinlich revolutionäre Menschen machen. Aber aus einem echten Reitervolk, wie es das russische immer gewesen ist, macht der Marxismus im literarisch-ästhetischen Sinn Bürger. Derjenige, dem die russische Geschichte der letzten Jahrzehnte nicht sehr geläufig ist, der ist leicht geneigt, die heutigen Kommunisten mit den kühnen und wirklich heroischen Attentätern zu verwechseln, die den Zarismus schon in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts zu erschüttern begannen, denen Zaren und Minister zum Opfer fielen. Aber jene Bombenwerfer waren keineswegs Marxisten, sie waren Sozialrevolutionäre, von Sozialisten stärker gehaßt als bürgerliche Konservative. Die kühnsten Kommunisten: Trotzki, Radek, Lenin sehen an der Seite der Sozialrevolutionäre sehr bieder und bürgerlich aus. Sie folgten eben einem Prinzip, das die Leidenschaft für schädlich hält, das Temperament für sekundär, die Begeisterung für eine Schwäche. Dieses Prinzip anwenden heißt das russische Volk vergewaltigen. Ironien der Weltgeschichte hat es immer gegeben. Aber daß die Weltgeschichte höhnisch wird, erlebt man selten. Dies nun ist ein Fall, in dem die Geschichte offenkundig Hohn zeigt. Diese Theorie, die das Proletariat befreien soll, die die Klassenlosigkeit des Staates, der Menschheit zum Ziel hat, diese Theorie macht, wo sie zum ersten Mal angewendet wird, aus allen Menschen kleine Bürger. Es ist ihr besonderes Pech, daß sie gerade in Rußland zum ersten Mal ausprobiert wird, wo es niemals kleine Bürger gegeben hat. Der Marxismus erscheint in Rußland eben auch nur als Teil der bürgerlich-europäischen Zivilisation. Ja, es sieht beinahe so aus, als hätte die bürgerliche europäische Zivilisation den Marxismus mit der Aufgabe betraut, in Rußland ihr Schrittmacher zu sein.

Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen das alte Rußland kennt. Wer jemals in Rußland gewesen ist, hat gesehen, wie gewaltig der Unterschied zwischen der europäischen und der russischen Bourgeoisie war. Der russische Kaufmann hat eine ritterlich-aristokratische Tradition. Es waren in Rußland Kaufleute, die Sibirien eroberten und besiedelten, sie töteten noch eigenhändig die Bären, mit deren Pelzen sie handelten, sie machten Jagd auf Tier und Mensch, sie gründeten die ersten Siedlungen in Asien. Diese Tradition war bis in die letzten Jahre lebendig. Der Moskauer Kaufmann fuhr mit dem Lichač,tollkühn gefahrene, elegante Kutsche dem schnellsten Wagen der Welt, durch die Straßen der Stadt, es war sein Ehrgeiz, das Pferd solange anzutreiben, bis es zusammenbrach, er war ein Herr, in einem ganz feudalen Sinn. Nach der marxistischen Theorie gab es freilich Bürger in Rußland, das heißt Leute, die von unproduktiver Arbeit leben. Aber diese Bürger waren nach Sinnesart und Lebensweise, nach Weltanschauung und Gewohnheit aristokratischer als unsere preußischen Junker zum Beispiel. Man kann sagen: im nicht-marxistisch-wissenschaftlichen Sinn gab es überhaupt keine Bourgeoisie in Rußland. Und ausgerechnet der Marxismus ist berufen, eine zu schaffen.

Es gibt keinen schlimmeren Typus als den kleinbürgerlichen Revolutionär, den Karrieremacher, den arrivierten Bürokraten. Es ist ein Gedränge vor den engen Türen der kommunistischen Partei, es gibt Protektionskinder, wie nur in dem sehr bürgerlichen Frankreich, es gibt Streber und Mißgünstige, von augenblicklich Herrschenden getragen und von Gefallenen fallen gelassen. Es ist wahr, daß in Rußland nicht mehr bestochen wird wie zur Zeit des Zaren. Für Bestechungen kommt man nach Sibirien – und zwar sowohl der Bestechende als auch der Bestochene. Man konnte sagen: charakteristisch für das alte Rußland war die nach Trinkgeldern ausgestreckte Hand. Aber charakteristisch für das heutige ist der gekrümmte Rücken. Eine Theorie, die Rußland urbanisiert, eine Ideologie, die erst zur Geltung kommen kann, wenn dieses geheimnisvollste, natürlichste sozusagen: schollenhafteste aller europäischen Länder auf eine rapide Weise amerikanisiert ist, schafft, trotz aller Phrasen, den typisch bürgerlichen Menschen. Man verachtet in Rußland den Tanz – nur einmal wöchentlich und nur in Leningrad darf öffentlich getanzt werden. Aber es ist eine Kurzsichtigkeit ohne Beispiel, eine Weltfremdheit echter Ideologen, wenn man nicht sieht, daß der Jazz und Charleston stärker mit der Maschine zusammenhängen, mit der Mechanisierung des ganzen Lebens, als etwa mit der sogenannten »bürgerlichen Unmoral«. Man tanzt auch schon in allen kommunistischen Klubs. Die Sitte einer Zeit wird eben nicht nur, und nicht in erster Linie bestimmt von den Produktionsverhältnissen, von Einnahmen, von Erwerbsformen. Sie wird bestimmt von dem Lebensinhalt der Menschen, vom Lebensinhalt der Zeit. Man ist nicht unmoralisch, weil man ein Arbeitgeber ist, ebenso wie man nicht unmoralisch ist, weil man ein Arbeitnehmer ist. Man tanzt nicht Charleston, weil die Welt kapitalistisch ist. Man tanzt ihn, weil er eine der Kunst- oder Geselligkeitsausdrücke dieser Zeit ist. Man ist nicht flach oder banal, nur weil man Geld verdient, ebenso wie man nicht tief und geistreich ist, nur weil man an der Maschine steht. Zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber, die sich beide so feindlich gegenüberstehn, sind mehr Ähnlichkeiten als beide wissen. Bindender als eine Gesinnungsgemeinschaft ist die Gegenwartsgemeinschaft und näher als der tote Parteigenosse ist mir der lebendige Zeitgenosse. Wenn also der Kommunismus Rußland, das hundert Jahre hinter Europa war, in die vollste Gegenwart hineinstoßen will, so muß er es schon bürgerlich machen. Denn diese Gegenwart ist bürgerlich. Die russische Revolution ist nicht etwa eine proletarische, wie ihre Repräsentanten meinen. Sie ist eine bürgerliche. Rußland war ein feudales Land. Es fängt an, ein urbanes, ein stadtkulturelles, ein bürgerliches zu werden.

Aber weil eine bestimmte Ideologie diese Revolution geleitet hat, und weil bestimmte Ideologen sie noch heute verwalten, beziehungsweise das, was von ihr übriggeblieben ist, wird in Rußland so getan, als regierte man sozialistisch, als bereite man wirklich den Sozialismus vor. Noch sieht es heute oberflächlich so aus, als wäre dieses Land wirklich eine ganz neue Welt. Noch sieht es heute so aus, als gäbe es die alten Klassen wie in europäischen Ländern nicht mehr. Aber man merkt bald, daß es eine falsche, eine verhüllende Nomenclatur für die alten wohlbekannten Zustände sind. Die Frage nach der sozialen Stellung, nach dem Platz, den Einer in dem sozialen Gefüge des Landes einnimmt, ist nicht mehr die wichtigste: Was sind Sie: Aristokrat, Industrieller, Kaufmann, Mittelständler, Proletarier? Diese Frage gilt nicht mehr. Es gibt ja vor allem nicht viele Berufe, welche die primärsten Abzeichen der sozialen Rangklasse sind. Man teilt also im heutigen Rußland die Menschen ein in: Kommunisten, Proletarier, mit dem kommunistischen Programm Sympathisierende, ehrliche Parteilose (»čestnyje bespartijnyje«), Neutrale, Oppositionelle, die freilich nicht wagen dürfen, offen zu protestieren, von denen man es aber vermuten kann. Da fast alle Menschen, die früher freie Berufe ausgeübt hatten, Kaufleute, Rechtsanwälte, Bankdirektoren, Fabrikanten waren, heute in Ämter eintreten und Gehälter beziehen, kann man sie leicht als Proletariat oder Halbproletariat in der Statistik mitzählen. Sie marschieren ja auch fleißig an den revolutionären Feiertagen in den proletarischen Umzügen mit, freilich, weil sie sich fürchten und nicht weil es ihnen ein Bedürfnis ist. Sie marschieren bei den Demonstrationen, sie marschieren in der Statistik mit. Und so sieht es nach oberflächlicher Betrachtung aus, als marschierten von den 140 Millionen Russen mindestens 130 auf der Seite der Kommunisten. Ich glaube nicht einmal immer an eine bewußte Täuschung. Ich glaube, die Kommunisten täuschen sich selbst über die wirkliche Stellung der Bevölkerung zu ihrer Ideologie. Denn die heute herrschenden Kommunisten sind längst nicht mehr die raffinierten Dialektiker von ehemals. Sie sind gute, brave, mittelmäßige Optimisten und Dogmatiker. So naiv, wie sie sich den Bourgeois vorstellen, so naiv stellen sie sich die Wirkung ihrer Ideologie auf den russischen Nichtproletarier vor. Sie brauchen nur in einen der russischen Filme zu gehn, aber nicht in jene, die man nach Westeuropa schickt und die meist gut sind, sondern in einen jener vielen für die Taubheit des abgeschlossenen Inlands berechneten, in dem der böse Bürger auftritt. Der trägt immer einen Zylinder und einen Bauch. Er umfaßt liebend die ... [Es folgen im Manuskript zwei Wörter, die durch eine Beschädigung unlesbar geworden sind.] und sein schwarzes Herz ist voller Grausamkeit gegen den Proleten. Dies wundert mich übrigens gar nicht. Denn selbst die vernünftigsten Führer der kommunistischen Partei haben niemals einen richtigen Bürger in der Nähe gesehen. Sie haben zwar in westeuropäischen Städten gewohnt, aber in Proletariervierteln, sie hatten leider keine Gelegenheit, ein bürgerliches Haus zu sehn und so oft sie von Bürgern reden, haben sie ein plumpes, flaches Klischee zur Verfügung, vielleicht den Schweizer Bürger im besten Fall, von Zürich her, das der beliebte Verbannungsort war.

Dies nur nebenbei.

Ich wollte Ihnen auseinandersetzen, daß es selbst für nicht sehr genaue Beobachter in Rußland bürgerlich aussehen würde, wenn nicht eine bestimmte Gruppe in Rußland vorhanden wäre, an der man unaufhörlich beweisen könnte, daß man doch kommunistisch ist. Das ist die Gruppe der Nep-Leute, der neuen Bourgeoisie. Die Revolution selbst hat sie geboren. Sie fürchten sich nicht vor der Revolution. Wenn ich den Typus des verbürgerlichten Revolutionärs den bolschewistischen Bürger genannt habe, so könnte man den neuen russischen Bourgeois vielleicht einen bürgerlichen Bolschewiken nennen. Ich nenne hier Bolschewismus in jenem primitiven Sinn, in dem während des Krieges die russischen Bauern das Wort gebraucht haben. Sie sagten damals: die Bolschewiken seien Kerle, mit denen sich leben läßt. Aber die Kommunisten seien Juden, die man ruhig erschlagen sollte. Also die Bauern meinten Bolschewik in dem Sinn von Heroentum, Abenteurer-Mut. Und es ist nun eine der Ironien im Verlauf dieser Revolution, daß heute die einzigen Bolschewiken in dem oben erläuterten Sinne – die bürgerlichen Kaufleute sind. Sie müssen sich, wenn Sie sich einen neuen russischen Bürger vergegenwärtigen wollen, etwa unsere Schieber aus der Inflationszeit vorstellen. Aber allerdings einen Schieber von russischem Ausmaßen. Er ist eine Art Landpirat, vogelfrei und ohne Rechte. Aber er macht sich auch nicht das Geringste aus Rechten. Er verzichtet darauf, in diesem Staat berechtigt zu sein, den er haßt und den er bekämpft. Es ist ein unaufhörlicher Krieg zwischen ihm und dem Staat. Der neue Bürger sitzt in vielen Gefängnissen und an vielen ist er vorübergestreift.


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