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Der Neue Tag, 21. 1. 1920
Der Untersuchungsausschuß beschäftigte sich mit den »militärischen Pflichtverletzungen« des Feldmarschalleutnants Teisinger, der rund 200 000 Menschen »auf seine Verantwortung« gegen das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung für frontdiensttauglich erklärt hatte. Der Feldmarschalleutnant gab ohne weiteres zu, zweimalhunderttausend Menschen »widerrechtlich« in den Tod geschickt zu haben. Er wies nach, daß er »nach höheren Weisungen« gehandelt habe, nur der Hammer in der Hand des Kriegsmolochs gewesen sei. Der Untersuchungsausschuß fand, daß kein Grund vorhanden sei, Teisinger vor ein Militärgericht zu laden.
Wir müssen uns erst mühsam die Mentalität jener Zeit rekonstruieren, um langsam zu verstehen, was Teisinger eigentlich vorgeworfen wurde. Er hat »widerrechtlich« Menschen in den Tod geschickt. Denn es war eine Zeit, in der man – man denke! – Menschen mit Recht in den Tod schicken durfte. Es war eine Zeit, in der man den grotesken Widersinn für selbstverständlich ansah, daß die Gesundheit zum Sterben prädestinierte, die Krankheit des Sterbens enthob. Teisinger aber war das lebendige, zweibeinige Paradoxon jener Zeit: er bestimmte die Kranken zum Tode. Die Verrücktheit des Krieges hatte sich so gesteigert, daß die Ausgeburt ihres hitzigsten Deliriums in das Gegenteil: den gesunden Menschenverstand übergriff. Teisinger, der schrecklichste der Schrecken, die personifizierte Kriegsfurie in Feldmarschallleutnantsuniform, wollte etwas ganz Vernünftiges: daß die Kranken sterben.
Deswegen wurde er angeklagt. Begreift man die Unlogik dieser Anklage?
Ein Mann wird angeklagt, weil er die Kranken in den Tod schickte. Wäre er damals angeklagt worden, als er sie noch schickte, so wäre die Anklage aus der Moral jener Zeit heraus verständlich gewesen. Denn die Moral jener Zeit war: Gesunde sterben lassen. Heute, da es als das größte Verbrechen gilt, zu töten, fällt die Anklage gegen Teisinger in sich zusammen. Denn man klagt ihn nicht an, weil er tötete, sondern weil er Kranke tötete. Erhält man die Anklage aufrecht, so stellt man sich eo ipso auf den Moralstandpunkt jener Zeit, d. h.: Gesunde darf man töten.
Diesen Standpunkt nimmt die heutige Öffentlichkeit nicht mehr ein. Sie klagt nur jene an, die schlechthin getötet haben. Der letzte auf der Anklagebank müßte Teisinger sein. Nicht der erste. Denn ist Kranke töten eine Gemeinheit, so ist es wenigstens eine vernünftigere Gemeinheit als Gesunde töten. So lange aber der Urquell jener Niedertracht: des allgemeinen Menschenschlachtens nicht einmal entdeckt ist, hat man kein Recht, Teisinger, der Abflußkloake, den Garaus zu machen.
Aber nicht das juristisch Greifbare ist es, das Kranketöten, weswegen Teisinger vor den Untersuchungsausschuß kam. Die Psychologie der Lynchjustiz lud ihn vor den Richterstuhl. Das revolutionierende Volk stürzt zuerst den König und dann den Minister, dessen Opfer der König selbst ist. Der blutbefleckteste in der Masse der Kriegsschergen war Teisinger. Er leuchtete rot, am rötesten hervor und deshalb griff man nach ihm vor allen. Er war der Henker. Den Staatsanwalt suchen wir vergebens.
Teisinger, der Begriff, nicht Teisinger, das Lebewesen. Man sagte: »Teisinger«, wie »Tod und Teufel«. Er lebte nicht. Er musterte. Er gehörte zum Inventar der Kommission, wie das Metermaß. Er war ein Organ des Staates, des »Vaterlandes«, wie die Polizei, die Häscher, die den Deserteur aufspürten. Er war eine Waffe, wie ein Geschütz, die »dicke Berta«, die schon im Hinterland funktionierte. Er war eine militärische Institution, wie das A. O. K. und das Militärkommando. Er war nicht der, sondern das k. u. k. Teisinger. Teisinger in Anführungszeichen.
Man könnte ihn logischer anklagen des Umstandes, daß er sich zum Henker hergab. Aber Teisinger mit der Erziehung und Psychologie des aktiven Offiziers ist so nicht zu fassen. Teisinger mit der moral insanity des zum Pflichtmord und Ehrentod erzogenen privilegierten Häftlings in dem großen Kerker des Militarismus ist nicht klagbar, nur zu bedauern.
Zu denken, daß dieses fürchterliche »Teisinger« ein Mensch ist, der Teisinger mit einem Vornamen. Ein Mensch, der verzweifeln muß an einer Welt, in der man ihn seiner Verdienste wegen anklagt. Der seinen Freispruch nicht einmal versteht, sondern so deutet, daß er eben seiner Verdienste wegen nicht schuldig gesprochen werden kann. Zu erziehen, zu ändern ist nichts mehr an diesen Teisingers. Nur zu beklagen sind sie. Und wir, die wir ihn selbst – hervorgebracht haben.
Denn merken müssen wir uns dieses k. u. k. Teisinger. Sprechen wir ihn frei, aber verurteilen wir uns, stets an ihn zu denken. Auf daß er sich nicht wiederhole! Es könnte nämlich sein, daß... und es könnte sehr leicht sein, daß er sich wiederholt. Wir haben ihn zwar freigesprochen. Aber so weit sind wir nicht, daß wir ihn schon überwunden hätten!