Joseph Roth
Reportagen
Joseph Roth

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Die Freuden des Winters. Fürs deutsche Lesebuch bearbeitet

Vorwärts, 30. 12. 1922

Der Winter ist eine lustige Jahreszeit.

Er ist die Saison der Feste und Freuden, des Hungers und der Kälte, der Bestialität und der Barmherzigkeit. Diese Jahreszeit hat alle Eigentümlichkeiten einer kapitalistischen Institution.

Die Tage werden kürzer, das Elend wird größer. Die Erde hüllt sich in Reif und Schnee, und der Mensch in Skunks und Zobel. Nach Sankt Moriz und Garmisch-Partenkirchen wallrodelt die vornehme Welt.

Von der Gottheit des Sports mit gesundem Appetit begnadet, kehrt sie heim zu Kränzchen und Karneval. Ein gerechter Himmel streut Kaviar auf ihren Weg, das Manna der Reichen. Die Börse bleibt »fest und sicher«. Montanwerte steigen. Dank dieser glücklichen Umstände wird im Winter der Anfang des neuen Jahres gefeiert. Das geschieht in einer Nacht, die man mit Recht »Silvesternacht« nennt und für die beim Geschäftsführer Tische »vorausbestellt« werden müssen. In froher Zuversicht sieht man den kommenden Dingen entgegen. Aus Sektflaschen erknallt das Trommelfeuer des Friedens und der Eintracht. In der Feuerlinie des Silvesters fehlt keiner von jenen, die man in einer anderen vergeblich gesucht hätte.

Mit Wohlgefallen betrachtet man hinter glänzenden Spiegelscheiben frierende Bettler, Objekte der Wohltätigkeit und der duldsamen Polizei. Der Mensch ist gut, wenn er getrunken hat, und spendet Hundertmarkscheine aus Irrtum, der eine Güte des Unterbewußtseins ist. Gott Dollar lohnt dem Spender und steigt ums Zehnfache.

Des Morgens wandelt eine trübe Sonne über graue Himmel, arm und müde, als hätte sie im Asyl für Obdachlose genächtigt. Der Mensch hat seinen Rausch ausgeschlafen und kehrt zurück zu Nüchternheit und Spekulation. Über seinem neuen Jahre glänzt das Motto: Gewinnen ist seliger, denn Geben!

Eingewickelt in Schal und Pelz, abgeschlossen gegen Grippe und den Bazillus des Mitleids, wohldurchheizt von Eigenwärme, sich selbst liebend – ist jeder Mensch im Winter sein eigener Nächster. Erst auf dem Umweg über Maskenbälle wird er barmherzig. Unmaskiert bleibt er bestialisch.

So hat auch der Winter seine Schönheiten: Blumen blühen an Fensterscheiben, und die Sterblichkeitsziffer steigt, als stünde sie im Kursblatt. Die den Frühling am heißesten ersehnen, dürfen ihn nicht erleben. Dem Karneval folgt die Grippe auf dem Fuß – und wer jenen nicht mitgemacht hat, braucht diese nicht zu überstehen ...

Unabänderlich wie der Wechsel der Jahreszeiten sind die Gesetze der Weltordnung – sagt das Lesebuch ...


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