Joseph Roth
Reportagen
Joseph Roth

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Der Korpsstudent

Vorwärts, 24. 2. 1924

Der Korpsstudent ist das einzige zoologische Lebewesen, dessen »Vorkommen« nicht von geographischen und klimatischen Verhältnissen abhängig ist, sondern von staatlichen und nationalen. Während er also in Ländern, welche dieselben biologischen Bedingungen haben wie Deutschland entweder bereits ausgestorben oder überhaupt nicht entstanden ist, kommt er bei uns in zahllosen, durch die (»Couleur« genannte) Färbung von einander verschiedenen Gattungen vor.

Man trifft ihn in Kneipen, auf Mensurböden und bei völkischen Veranlassungen (zu denen die Vorlesungen der Professoren Roethe, Freytagh-Loringhoven und ähnlicher gehören), auch in Hörsälen. Der Korpsstudent ist auf den ersten Blick zu erkennen: die theologische Theorie, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen, leugnet der Student in praxi durch Gesichtstätowierungen, die er »Schmisse« nennt. Auf der obersten Wölbung seines kurzgeschorenen Schädels trägt er ein mit schiefer Vehemenz aufgesetztes Käppi, um das ihn jeder amerikanische Telegraphen- und Expreßboy beneiden könnte. Quer über die Weste hat er ein buntes, zwei- und dreifarbiges Band geschlungen, das manchmal mit einer goldenen Phrase geziert ist, wie zum Beispiel: »Mit Gott für König und Vaterland«. Also projiziert er Gefühle und Überzeugungen nach außen, er selbst eine wandelnde Phrase, von Traditionen und Bier genährt, und durch die unwahrscheinliche Geduld seiner deutschen Mitmenschen am papiernen Leben erhalten. Da er keinen Inhalt mehr hat, lebt er als eine Schale weiter; und gleicht etwa einem bunten Lampion am Morgen nach einem Fest.

Um die Zweckmäßigkeit seiner Existenz dennoch zu erweisen, verursacht er Aufsehen und Geräusche – in der irrigen Meinung, daß akustische Wirkungen Daseinsberechtigung verleihen. Indes beweist er gerade dadurch seine exzellente Vergangenheit und seine anachronistische Gegenwart. Sein Lärm gleicht einem gelegentlich aus der Unterwelt aufsteigenden Rumoren mangelhaft gestorbener Geister.

Weil er aus den Fugen der Zeit gefallen ist, glaubt er, die Zeit sei aus den Fugen. Weil er den Tag verschläft, sieht er die Welt nur bei Nacht – und auch dann nur doppelt. Deshalb verkennt er die Dimensionen der Wirklichkeit. Gespenster sehend, wandelt er selbst sich zum Gespenst, das im Klang des Bierglases Altheidelbergs Glocken zu hören vermeint. Ihn stärkt also ein Rausch, in dem andere untergehen. Vom Moder des Gewesenen und Verwesenen lebt er. Sein Glanz ist dem eines in der Nacht leuchtenden feuchten Kadavers zu vergleichen.

Dennoch – und weil er ein Toter ist, den die Geschichte zu begraben vergessen – macht er, durch Gesetz und Sitte vor der unbarmherzigen Wirklichkeit geschützt, seinen Weg, den man »Carriere« nennt, und der ihn zu Richterstühlen, in Anwaltskammern, an Krankenbetten führt. Er spricht Recht und verordnet Rizinusöl. Er wird ein Professor und bildet sich ein, Wissenschaft zu verbreiten, wenn er sein Wissen verbreitet. Die Ideale aus der Rumpelkammer seiner Jugend zieren seine Wände und hängen in seinem Gehirn. Er ist aus einem jungen Biertrinker ein »alter Herr« geworden. Denn genau so, als ob er jemals ein Lebendiger gewesen wäre, wandelt er durch die Jahre, an der Peripherie der Welt zwar und dennoch ihr zugerechnet, wird grau und stirbt endlich den Tod der Lebendigen, nachdem er ein Leben der Toten absolviert hat.

Seinem trauernd hinterbliebenen Korps hinterläßt er Maßkrug, Schläger, Hakenkreuz, Kappe, Band und was es sonst noch an studentischen Kulturutensilien geben mag. Seiner gedenkend und ihm nachzueifern beflissen, wächst die nächste Generation heran und pflanzt an seinem Grabe ihre Hoffnung auf, die unsere Enttäuschung ist ...


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