Joseph Roth
Reportagen
Joseph Roth

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Gruß an Ernst Toller

Vorwärts, 20. 7. 1924

Seit drei Tagen ist Ernst Toller in Berlin, der Dichter der »Maschinenstürmer« und des »Hinkemann«, ein erfolgreicher Dramatiker, ein Lyriker von Kraft und Inbrunst und – was uns mehr bedeutet: ein Märtyrer für das Proletariat, der fünf Jahre in jener bayerischen Festung gesessen hat, die noch »Niederschönenfeld« heißt und inoffiziell in allen anständigen Ländern Europas die deutsche Kulturschande genannt wird. Wären wir noch in der Lage, uns den »Luxus eines Kulturgewissens« zu leisten, dann wäre heute Ernst Toller nicht der einzige lebendig der bayerischen Justiz Entronnene, dieser Justiz, die so wenig eine »irdische Gerechtigkeit« handhabt, daß man sich wundern muß, wenn man eines ihrer Opfer noch auf irdischen Pfaden wandeln sieht. Es ist eine geradezu metaphysische Justiz: schickte sie doch Ludendorff in die Walhalla und unzählbare Proletarier ins Jenseits! Deshalb grüßen wir in Toller einen Auferstandenen. Eine Wiederkehr aus bayerischer Gefangenschaft ist ebenso wunderbar wie eine Auferstehung.

Man kommt, ihn zu bestaunen. Die Presse ist so gedrängt in seiner Nähe, daß sich jeder einzelne Schmock auf seine eigenen Hühneraugen tritt. Ach! es ist dieselbe Presse, die sich gar nicht danach gedrängt hat, gegen die bayerische Festungshaft zu schreiben; dieselbe Presse, die ein Verbot in Bayern mehr fürchtet, als sie ein »Interview« mit Toller ersehnt; diese Presse, die sich alles leisten kann: Photographen, Zeichner, Berichterstatter – nur nicht eines: den Mut. Was ihr an dieser Eigenschaft abgeht, ersetzt sie durch Zudringlichkeit. Und so kann man seit drei Tagen sehen, wie fix die deutsche Journalistik ist, wenn einer das Gefängnis verläßt. Aber seit sechs Jahren erleben wir es zweimal täglich, wie stumm sie ist, wenn einer ins Gefängnis gelangt; und wie totenstill, wenn Proletarier massakriert werden. Sie ehrt den sozialistischen Tod durch Schweigen.

Ernst Toller sieht nicht wie ein »weltfremder Schwärmer« aus. Es ist Energie in seinem dunklen, jüdischen Gesicht, er hat den Blick eines Beobachters, nicht den eines versonnenen Träumers. Er spricht und formuliert schnell. Es ist Festigkeit in seinem Wesen, in seinem Gesicht der Skeptizismus des Erkennenden und die Hoffnung des Gläubigen. Gedanken, Hoffnungen, Enttäuschungen, Energien hat er fünf lange Jahre komprimiert. Plötzlich erlebt er die Freiheit, die immer ein Wunder ist, auch, wenn man sie erwartet und sich auf sie vorbereitet. Es gehört eine große Kraft dazu, sich auf Sachlichkeiten zu konzentrieren. Rede und Antwort zu stehen, wo die Fragen so banal, so unwürdig sind, so gedankenlos, so schablonenhaft, wie sie frei herumlaufende, außer Festungshaft befindliche Journalisten hervorbringen können. Ich gestehe, daß ich mit Toller kein »Interview« gehabt habe. Auf die Frage: Wie geht es Ihnen? hätte er mir mit Recht antworten können: Ihnen gesagt – solange Mühsam in der Haft stirbt! ...

Und so gilt dieser Gruß an den befreiten Ernst Toller – seinen gefangenen Genossen. Von ihnen weiß der Dichter viel mehr zu erzählen als von sich selbst. Erich Mühsam ist nicht mehr fähig, ein halbes Jahr Festungshaft lebend zu überstehen. Aber es ist auch nicht leicht möglich, ihn zu retten. Und so werden wir, so wird Europa zusehen, wie ein Unschuldiger langsam zu Tode gefoltert wird. Niemand regt sich darüber auf. Als Toller vorgestern im Residenztheater zum erstenmal seinen »Hinkemann« sah und am Schluß über die Qualen seiner Mitgefangenen sprach, – wer war da von der Presse anwesend? Die Theaterkritiker der bürgerlichen Blätter, die auf ein Drama, wie »Hinkemann«, weil es proletarische Schmerzen behandelt, den großen Bannfluch des Berliner Kritikerverbandes schleudern und aus gekränkter Ästhetenkehle: »Tendenz! Tendenz!« schreien. Wo aber bleiben die Leitartikler? Freilich – die Begeisterung der Zuschauer war grenzenlos. Sie galt dem Stück, dem Dichter, den Gefangenen in Niederschönenfeld. Aber gültig ist hierzulande nicht die Stimme des Volkes. Über ein Stück entscheiden die Kritiker, über Leben und Tod der deutschen Dichter die Justizfeldwebel.

Im Rechtsausschuß des Deutschen Reichstages sprach Toller am nächsten Tage über die bayerische Justiz. Aber nur ein Demokrat kam und hörte zu. Alle bürgerlichen Parteien blieben zu Hause. Wie? Fürchteten sie eine menschliche Regung? Hatten sie Angst vor der Erschütterung des so unwahrscheinlich widerstandsfähigen Gewissens? Sie erinnern an die Anekdote von jenem Kapitalisten, der seinen Dienern zurief, als ihn ein verhungerter Bettler besuchte: »Schmeißt ihn hinaus! – Er bricht mir sonst das Herz!«

Man möchte nicht gerne einen befreiten Dichter begrüßen mit der Mahnung: Sie reden tauben Ohren. Ihr Genosse Mühsam leidet an Arteriosklerose. Es ist die deutsche Krankheit, Ernst Toller! Die Gehirnverkalkung grassiert! Erich Mühsam ist in der Gefangenschaft taub geworden! Aber die bürgerlichen Politiker sind schon längst taub gewesen! Indem wir Sie grüßen, weinen wir, Dichter Toller! ...

Josephus


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