Joseph Roth
Reportagen
Joseph Roth

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Geträumter Wochenbericht

Vorwärts, 2. 3. 1924

Ich leugne die Wirklichkeit des bedeutenden Ereignisses, das in dieser Woche Deutschland so schwer betroffen hat: ich leugne die Wirklichkeit des Hitler-Prozesses.

Man muß solche phantastischen Erlebnisse in das Gebiet der ohnehin in München heimischen Metaphysik verweisen. Auch der Zeitpunkt, in dem dieser angeblich tatsächliche Prozeß sich vollzieht, ist meiner Auffassung sehr günstig: Mitten im Karneval kommt ein Gerichtshof zusammen, macht seine Reverenzen vor den Angeklagten, diese werfen den Damen im Hörsaal Kußhände zu, die Justiz ist in eine Kaserne übersiedelt, die Angeklagten erheben die Anklage, die spanischen Reiter dräuen fürchterlich vor dem Eingang in den Kasernensaal, die Öffentlichkeit entsendet 60 gespitzte Bleistifte, und den armen Hausierern ist es verboten, Hosenträger in der Nähe des Gerichtssaals feilzubieten. Man müßte blind sein, oder, was dasselbe ist, ein naives deutsches Publikum, um aus all den oben angeführten Begleiterscheinungen nicht zu erkennen, daß in München kein »politischer Prozeß«, sondern ein Fastnachtstraum stattfindet.

Infolgedessen degradiere ich das Ereignis dieser Woche und zerre es aus den oberen Regionen des ernsten Leitartikels in die tieferen unter dem Strich. Es ist keine Erscheinung des politischen Lebens, sondern der geistigen Dekadenz. Es ist keine Gerichtssaalsitzung, sondern eine spiritistische Séance. Sie ist irrtümlich aus der Fakultät des Geisterprofessors Schrenck-Notzing in die des Ministers Emminger gefallen. Ich lasse mich nicht irreführen.

Ich lasse mich nicht irreführen, – und wäre der Ton, in dem die Zeitungen von diesem Prozeß berichten, noch so ernst, noch so sachlich, noch so pathetisch. Denn, hört Ihr nicht, Brüder, daß die Toten reden? Seht Ihr nicht, daß die Stenographen Geisterreden nachschreiben? Erkennt Ihr nicht aus den Bildern der »in den Gerichtssaal entsandten Sonderzeichner«, daß sie die Gestorbenen abkonterfeien? In München öffnen sich die Gräber der Weltgeschichte, und aus ihnen steigen die begraben gewähnten Leichname. Ein grotesker Traum tritt in Funktion – und ganz Deutschland nimmt dieses Wunder gleichgültig hin, als wäre es eine Selbstverständlichkeit.

Es erscheint ein Tapezierer, nennt sich »Schriftsteller«, und alle glauben es ihm. Ein Schuster, der nicht bei seinem Leisten geblieben, erzählt seine belanglose Biographie und schildert, wie er sich aus einem »Weltbürger«, der er noch in Braunau gewesen, zu einem »Antisemiten« in Wien entwickelt hat. Und die deutschen Zeitungen drucken es fleißig. Es fährt ein bereits im Totenregister der Historie unter dem Namen Lindström verzeichneter General im eigenen Auto vor und hält eine Rede gegen den Papst. Dieser mußte es sein, just dieser General, der noch bei seinen Lebzeiten kein anderes Buch gelesen hatte als ein militärwissenschaftliches – und sogar dieses mit sehr geringem Nutzen. Aus dem Jenseits der abgeschafften Lesebücher steigt ein Oberleutnant Röhm auf und sagt: »Ich bitte zu berücksichtigen, daß ich nur Offizier bin und als ein solcher denke. Ich stand als Generalstabsoffizier an der Front und gehörte zu den wenigen, die glaubten, daß wir immer noch siegen würden.« Selbst unter Generalstäblern ein Rekord an Dummheit! Bedenkt, Brüder: wie lange ist es her, daß jemand noch glaubte, wir würden siegen? Mußte man nicht annehmen, daß diese Menschen schon lange tot und begraben seien? Nein, seht! Sie leben! Sie sagen aus! Sie wollen Revolutionen machen! Oh, welch ein Totentanz!

Es scheint mir, daß die deutsche Geschichte der Gegenwart und der letzten Vergangenheit irgendeinen konservierenden Stoff ausscheidet, mit dem sie ihre Verstorbenen umgibt, so daß sie zur Faschingszeit auferstehen und ihre Weltanschauungen in München darlegen können. Aber das wäre die private Angelegenheit eines Geister beschwörenden Zirkels gewesen und nicht eine der Öffentlichkeit und der Politik. Weil aber dem so ist, und weil sechzig Berichterstatter die Worte der Toten stenographieren, muß ich annehmen, daß ich diesen hier geschriebenen Aufsatz und seine Veranlassung geträumt habe; daß ich ganz Deutschland geträumt habe; seinen analphabetischen Tapezierer, meinen Kollegen, der, kaum, daß er lesen und schreiben aus einer Rassenfibel gelernt, schon Schriftsteller und eine politische Persönlichkeit ward; seinen General, der, ein Schweizer im Vatikan zu werden, wozu seine Begabung ausgereicht hätte, gegen den Papst zu Felde zieht; dieses Rasseln verrosteter Säbel, dieses Kadaverleuchten lebender Leichname, diese Zeitungen, die Witzblätter wider Willen werden, indem sie über den Prozeß in München berichten.

Es ist nicht anders: ich träume einen Fastnachtstraum, und der heißt: Deutschland.


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