Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Das gelbe Pulver.

Nachdem der Mann jahrelang gelitten hatte, schrieb er an seinen Arzt. Seine Schrift ist kaum wieder zu erkennen; er schrieb unter Schmerzen und Qualen.

»Mein lieber Doktor!

Es ist nicht mehr zum Aushalten. In letzter Nacht nicht eine Minute geschlafen. Das Herz tobt oder will ganz stehen bleiben. Und dieses schreckliche Bohren! Und dieser abscheuliche Ekel! Und diese Hinfälligkeit, – hoffnungslos! Und die Schmerzen im Magen, im Rückgrat: zum Wahnsinnigwerden! Ich bat Sie gestern kniefällig und ich bitte Sie heute um Gottes willen: geben Sie mir was, daß ich einschlafen kann. Um mich gesund zu machen, haben Sie kein Mittel; es gibt keins; ich bin morsch durch und durch. Aber ein Mittel haben Sie und viele Mittel, daß ich kann einschlafen für immer. Ich bitte Sie bei allem, was Ihnen heilig ist: seien Sie barmherzig. Und wenn Sie die Tat nicht auf sich nehmen wollen, so vergessen Sie etwas bei mir, ein Fläschchen, ein Pulver, ich werd's nutzen, auf meine Verantwortung. Das größte Gift habe ich ja längst in mir, das vergiftete Blut. Heilen Sie mich, Doktor, und lassen Sie mich einschlafen. Ich bin Herr meines Lebens und verfüge darüber; wen geht das an? Ich will erlöst sein und ich kann nicht aufhören, zu bitten: Erbarmen, Erbarmen!«

So schrieb der Kranke an seinen Arzt. Als er versichert war, daß der Brief im Postkasten lag, atmete er schwer auf. Nun ist's entschieden. Aber was wird geschehen? Wird der Doktor schreiben: Also, in Gottes Namen, wenn Sie die Verantwortung tragen, ich will Ihr Leiden enden. Oder wird er sagen: Das ist frevelhaft, was Sie verlangen. Sie müssen, was die Natur über Sie verhängt hat, tragen, wie es tausend andere tun, die nicht minder leiden als Sie. Ihr Verlangen kann nimmer erfüllt werden. – Was wird er schreiben?

Allein der Doktor schrieb nichts und sagte nichts. Er kam wie gewöhnlich zu seinem Kranken, sagte wie gewöhnlich seine beruhigenden Worte, daß sein Körper nur so verweichlicht, so widerstandslos und wehleidig, sein Geist so mutlos sei. Und gegen die rheumatischen, neuralgischen und anderen Schmerzen verschrieb er die lindernden Mittel, wie immer. Einmal, als er das von der Apotheke geholte Fläschchen mit der grünlichen Flüssigkeit in der Hand hielt, sagte er mit bedeutsamem Ton: »ich denke, mein Lieber, das wird Ihnen gut tun. Abends, wenn die Schmerzen unerträglich werden sollten, nehmen Sie etwa fünf Tropfen zu sich, nicht weniger!« . . . Der Kranke schaute ihm scharf in die Augen; die zuckten kaum merklich. Im übrigen betrug sich der Arzt wie gewöhnlich und ging gelassen davon.

Am Abend begann, wie immer, das grausame Bohren im Haupt, der Hüftschmerz, das Angstgefühl. Der Kranke starrte auf das grünliche Fläschchen, streckte seine Hand danach aus, nahm es aber nicht. Er griff zu den anderen Mitteln, die in Flaschen und Pulvern noch herumstanden, und nahm sie nach der Vorschrift zu sich. Aber die Qual stieg, er krümmte sich und ächzte und langte nach dem Fläschchen. Weniger als fünf Tropfen nicht, hatte der Arzt gesagt. Der Kranke ließ einen einzigen Tropfen auf das Silberlöffelchen heraus, goß ihn auf die Zunge und versuchte vorsichtig den Geschmack. Ölig und bitter; aber er bemerkte keine Wirkung. Der Arzt hätte es wohl sagen müssen. Er nahm zwei, nahm drei Tropfen: er merkte an seinem Zustand keine Änderung; die Schmerzen tobten wie immer. Also in des Himmels Namen! Er goß fünf Tropfen auf den Löffel; und mit bebender Hand schüttete er sie in seine Gurgel. Nichts änderte sich. Die Schmerzen tobten und waren unerträglich. Knirschend nahm er das Fläschchen und trank es aus. Nichts geschah. Nur schlief der Kranke nach einer Weile ein wenig ein, mit den Schmerzen mengten sich beängstigende Träume und dann erwachte er wieder in seiner dunklen, qualvollen Einsamkeit. Es waren ja wohl nur gewöhnliche Kirschlorbeertropfen gewesen, mit einem halben Promill Blausäure, und der Arzt erweist ihm nicht die innig erbetene Barmherzigkeit.

Wieder vergingen die Tage. Der Arzt kam und wechselte die Mittel und hatte manchmal ein wunderliches, geheimnisvolles Benehmen, das den Kranken beunruhigte. Am Ende besinnt er sich doch noch. Mit Hoffnung und mit Mißtrauen nahm er jede neue Medizin, fade Tränklein, widerliche Pulver, bittere Pillen. Doch wenn die Qualen nicht geradezu furchtbar waren, nahm er am liebsten gar nichts. Er hatte sein Schreiben an den Arzt schon bereut. Diese Ungewißheit! Ob er nun eine Medizin nimmt, eine Speise oder ein Getränk: wer bürgt ihm dafür, daß nicht der Doktor sein Gift hineingelegt hat? So war zur Leibespein noch eine Seelenqual gekommen, eine immerwährende Todesangst ohne Tod, – ein unerträglicher Zustand.

Und eines Tages, als es wieder arg ist, als wieder der Arzt an seiner Seite sitzt, klammert der Kranke seine mageren Finger an einander und sagt: »Warum, Herr Doktor, haben Sie mir noch immer die Bitte nicht erfüllt?«

»Welche Bitte, mein Freund?«

»Ich hätte es längst überstanden. Sonst, wenn Sie mir nicht helfen konnten, hatten Sie keine Schuld; es liegt nicht in des Menschen Macht. Meine Lebenskraft ist aufgebraucht. Aber nun Sie meinen Wunsch kennen und ihn nicht erfüllen, sind Sie verantwortlich für mein Leiden. Sie können mir helfen und tun's nicht. Sie lassen mich nun schon Monate lang hinsterben und, statt daß es schnell vor sich ginge, tun Sie, daß es langsam geht. Die Qual verlängern: Das allein liegt noch in Ihrer Macht. Sagen Sie mir doch wenigstens, daß Sie mir meine Bitte nicht erfüllen wollen, damit ich weiß, wie ich dran bin. Vielleicht finde ich dann noch selbst den Mut, mich besser zu betten. So reden Sie doch!«

Hierauf sagte der Arzt: »Ich will wohl reden, lieber Freund, aber ich kann Ihnen nur mein Staunen ausdrücken. Sie haben mich in Ihrem Schreiben gebeten, Sie zu vergiften. Welcher Arzt wird nicht entrüstet sein, wenn ihm ein Mord zugemutet wird? Ich aber, wissen Sie, war nicht entrüstet. Ich dachte: wenn die Krankheit unheilbar ist, weil alle Kräfte zur Neige gehen, dann ist es ja wirklich gewissenlos, ihn so lange leiden zu lassen. Man gibt ja kein momentan und heftig wirkendes Mittel, aber man gibt ein nicht minder sicheres, das ruhig betäubt und lähmt und auflöst. Und das, lieber Freund, hören Sie, das habe ich Ihnen gegeben! An jenem Tag, als ich Ihnen die gelben Pulver daließ, habe ich in Gedanken von Ihnen Abschied genommen. Morgen, dachte ich, wird nur noch ein bewußtloses, verlöschendes Geschöpf daliegen. Aber Sie, der so leidenschaftlich um den Tod bettelt, haben die Pulver ja gar nicht genommen!«

»Die gelben Pulver vor einigen Tagen? Die in blaues Papier gewickelt waren? Die so widerlich schmeckenden gelben Pulver? Die habe ich genommen!«

»Ja, und wahrscheinlich zum Fenster hinausgeworfen!«

»Zu mir genommen! Ganz nach Vorschrift, jede Stunde ein Pulver!«

Der Arzt blickte den Kranken betroffen an. »Sie hätten die Pulver eingenommen?! Sie hätten diese Pulver in der Tat eingenommen?«

»Aber ganz gewiß!«

»Ich meinte anfangs, als Sie am nächsten Tage noch lebten, daß ich mich vergriffen hätte, und versuchte ein solches Pulver an meiner alten Hauskatze. Das Tier verfiel in Starrkampf und verendete am zweiten Tage.«

Der Kranke schnellte aus seinem Lehnstuhl auf.

»Ich hätte . . . Sie hätten mir Gift gegeben?«

»Und Sie hatten – trotz Ihrer Zusage – nicht die Güte, zu sterben.« Gereizt war der Doktor, geradezu aufgebracht. Lebhaft fuhr er zu sprechen fort: »Sie wollen krank sein? Ein Simulant sind Sie und nichts anderes! Ein Organismus, der von diesem Pülverchen nicht einmal ein bißchen Zuckungen bekommt, ist schon ein hartgesottener Sünder!«

»Dann bin ich eben schon zu sehr tot, um noch ordentlich sterben zu können,« antwortete der Kranke bitter.

»Sie haben Galgenhumor,« sagte der Arzt. »Doch ich versichere: Sie haben Grund zu wirklichem Humor. Wenn Sie sich nicht geradezu vor eine Eisenbahnmaschine legen oder in einen Hochofen springen, so erreichen Sie Methusalems Alter. Erzählen Sie nach hundert Jahren meinen greisen Urenkeln, daß Sie mich, den Urgroßvater, ersucht hätten, Sie zu vergiften. Vielleicht ist einer davon Staatsanwalt und läßt Sie nachträglich noch einsperren.«

»Ich weiß nicht, Doktor, was Sie reden!«

»Bei meiner Treue, wenn Sie, Sie unheimlicher Mensch, die gelben Pulver wirklich verzehrt haben! . . . Aber nein, Sie irren sich wohl nur oder renommieren . . .«

»Bei meiner Seele Seligkeit! Ich habe die Pulver gegessen!«

»Dann sind Sie immun. Dann ist Ihr sogenanntes Leiden nur die Folge überschüssiger Kraft, die nirgends hinauskann, weil sie nicht betätigt wird. Werfen Sie doch Ihre Kleinkunst, den Plunder, zum Satan und werden Grobschmied oder Maurergehilfe oder Arbeiter auf einem Frachtenbahnhof und schlagen jeden Sozialdemokraten tot, der es auf Achtstundenarbeit abgesehen hat. Sie bedürfen keiner Rast, Sie vertragen keine, Sie Urelement, Sie, Sie . . . na, Mensch, ich schweige!«

Der Arzt reichte dem Kranken mit großer Gebärde die Hand. Dieser war bloß verblüfft. Er war einer von denen, die in solchen Momenten nicht recht wissen ob . . ., und deshalb das annehmen, was ihrer Neigung entspricht.

In der nächsten Nacht bohrte es wieder im Kopf, grub und krampfte es wieder in der Brust, zuckte es wieder in allen Nerven, aber nicht ganz so schlimm wie sonst. Wenn man weiß, daß es nur das Rumoren der überschüssigen Kraft ist, erträgt man's wesentlich leichter, als wenn es das letzte Krampfen des vergehenden Lebens bedeutet. Am nächsten Tage nahm er den Spaten und ging in seinen Gemüsegarten. Zum Umfallen war ihm, so schlecht, aber er fiel nicht um. Er begann, zu graben und Erde zu schaufeln; seine Glieder empörten sich über die Zumutung und taten rasend weh, er aber dachte: Ihr habt das gelbe Pulver ausgehalten, Ihr werdet auch das bißchen Anstrengung aushalten! Und sie hielten's aus. So trieb er's nun manche Stunde und manchen Tag; und je müder er sich arbeitete, um so schwächer war das Bohren in seinem Haupt, das Krampfen in seinem Magen, das Zwacken in seinen Nerven. Natürlich: weil die Kraft anderswo aufgebraucht wurde. Das Vertrauen zu sich und seiner Kraft wuchs immer mehr, bis er sich das körperliche Arbeiten so angewöhnte, daß er dabei blieb und allmählich vergaß, einmal krank gewesen zu sein.

Der Doktor aber hält seit diesem Falle seinen Puder, mit zerriebenen Harzkörnern vermischt, für ein ausgezeichnetes Heilmittel; denn man macht daraus die gelben Pulver. Das Pulver kann übrigens auch weiß sein oder rot, aus Maismehl oder aus geriebenem Kalk, aus was immer, – wenn es nur mit der gehörigen Dosis Suggestion versetzt wird. Den Kranken ein Heilmittel zu suggerieren: Das ist nicht mehr neu. Doch glauben zu machen, daß der mutlose Kranke noch schwere Gifte zu besiegen vermöge: das Kurstück hat mein Doktor erfunden. Seine Adresse mag ich allerdings nicht angeben, weil man nicht wissen darf, wer unter den Schlauen der Schlaueste ist.

 


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