Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Der ordentliche Augustin.

Als der Vater Augustin Kernschimmlers sein vierzigjähriges Geschäftsjubiläum beging, sagte der Festredner unter anderem auch die großartigen Worte: »Unser teurer Jubilar nährte andere und wurde selbst fett, machte andere wohlhabend und wurde reich dabei. Sein Glück gründet auf seinen Tugenden!« Und Sekt darauf. – Denn der Vater Augustin Kernschimmlers war Bäcker und Fleischermeister gewesen – der einzige in dem Städtlein. Als einziger Fleischer hatte er die einzige Bäckerin geheiratet, und Augustin war von diesem einzigen Paar das einzige Kind. Jemand behauptete, der Vater habe das aus Geschäftsrücksichten so eingerichtet, denn er konnte keine Konkurrenten leiden und wollte dem lieben Söhnlein auch die Konkurrenz von Geschwistern ersparen.

Als nun bei dem oben erwähnten Jubiläum das Wochenblatt einen Festartikel über die Doppelfirma brachte und sogar die Bildnisse des verehrten Ehepaares Kernschimmler, da war es plötzlich ausgemacht, daß der kleine Augustin weder Fleischer noch Bäcker werden dürfe, sondern ein Doktor oder Professor, womöglich ein sehr berühmter. Zwar sagte der Vater zu seiner Frau, berühmt werde man ja auch als Fleischer, was eben der große Festartikel und das mit einem Lorbeerkranz umgebene Doppelbild des Jubelpaares im Wochenblatte bezeuge. Sie wußte das freilich besser, sagte es aber nicht, daß ihr die Veranlassung zu diesem illustrierten Festartikel runde hundert Gulden von ihrem Nadelgelde gekostet hatte.

Der Augustin kam in die Stadt, ins Gymnasium, und ward ein sehr ordentlicher Student. Seine Schulbücher hatten nicht ein einziges Eselsohr, doch bei den Examinationen ging es manchmal nicht ab ohne jegliche Erinnerung an das populäre Tier, auch wenn es nicht just Zoologie gab. Die Mutter schickte dem Söhnlein häufig Geräuchertes, Milchbrot, Krapfen und Zwieback, vor allem Powidlkuchen, die er so gerne aß. Einen Teil dieser guten Dinge verzehrte der Junge, der andere verschimmelte ihm im Nachtkästchen, der seine Vorratskammer war. Und als der Rest verschimmelt war, verzehrte er ihn auch, schon aus Ordnungsliebe und weil es ihm leid tat, die mütterlichen Liebesgaben wegzuwerfen. Seine Schulhefte waren stets wie neu und die Schriften und Ziffern wie gestochen, nur recht oft unrichtig. Über Fleiß und Sittlichkeit sangen seine Zeugnisse wahre Lobeshymnen, im übrigen jedoch gaben sie ihm Anlaß zur Unzufriedenheit mit den Professoren. So kam der Tag der Maturitätsprüfung. Die schwarzen Kleider mit dem Seidenzylinder hatte der junge Kernschimmler sich schon am Vorabend auf das musterhafteste zurechtgerichtet, also auch im Notizbuche die Gegenstände, in denen er bereits geprüft war und noch geprüft werden sollte, mitsamt den erhaltenen und zu erhoffenden Noten sorgfältigst aufgeschrieben. Als er nun auf der Gasse schon nahe dem Schulgebäude dahinging, bemerkte er mit Entsetzen, daß seine Stiefel nicht frisch gewichst waren. Er kehrte in seine Wohnung zurück, fand aber weder die Quartierfrau vor, sie war auf den Markt gegangen, noch den Schlüssel zum Schrank, wo das Stiefelputzzeug aufbewahrt lag. Er mußte also zum Krämer und zum Bürstenbinder, um Wichse und Bürsten zu kaufen und dann die Beschuhung selbst in einen des Tages würdigen Zustand zu versetzen. Als er hernach die Stiefel wieder an die Beine zog, riß sich an einem derselben eine Strupfe los. Man sah zwar den Schaden hinter der Hose nicht, aber der junge Mann konnte keine Schlamperei leiden, er ging zu seinem Schuster, der die kleine Angelegenheit auch zur besten Zufriedenheit schlichtete. Als er hernach an den Lehrsaal kam, schritten die Kollegen und Professoren gerade zum Tore heraus, das Rigorosum war vorüber. Augustin hatte nun ein ganzes Jahr Zeit, um vor seiner Prüfung vielleicht auch noch andere Mängel, als die an den Kleidern, zu beseitigen.

Mittlerweile starben rasch hintereinander seine Eltern. Der Schlag würde für den guten Jungen vernichtend gewesen sein, wenn nicht durch denselben in Haus und Geschäft eine Welt von Unordnung aufgetaucht wäre, die in Ordnung gebracht werden mußte, Das zerstreute ihn ein wenig. Das Ordnungmachen dauerte aber Jahr und Tag, und mich wundert es nicht, daß darob die Maturitätsprüfung ganz und gar vergessen worden war.

Augustin Kernschimmler fand sich plötzlich allein auf der Welt, aber als Erbe eines großen Fleischergeschäftes und einer Bäckerei, die sich auch auf Mühle und Kornhandel verzweigte. Die Mühle und die gewerblichen Rechte verkaufte er, ebenso auch die Grundstücke; die beiden alten Häuser aber, das Fleischerhaus des Vaters und das Bäckerhaus der Mutter, behielt er aus Gründen der Pietät, und seine Lebensaufgabe bestand von nun an darin, diese Häuser und ihre Einrichtung in Ordnung zu halten. Jahraus jahrein beschäftigte er eine Anzahl Dienstboten, um die Möbel abzustauben, die Spinnweben von den Ecken zu fegen, den Schwamm im Fußboden zu vernichten und alles Geschirr und Gezier blank und rein zu erhalten. Er konnte sich nicht entschließen, irgend ein Kleidungsstück seiner Eltern wegzugeben, die Dienstboten rangen für und für einen wahren Verzweiflungskampf mit den Motten und anderem Insekt, aber mit Kampfer und anderen Mitteln gelang es immer noch, die Sachen zu erhalten, so daß sie in ihren Schränken und Kästen genau so liegen und hängen konnten, wie sie zu Lebzeiten oder beim Tode seiner Eltern gelegen oder gehangen waren. Die Wohnungen der beiden Häuser waren denn auch stets in dem Zustande, die ehrenwertesten Besuche zu empfangen, die nicht kamen. Auf der Fleischbank konnte zu jeder Stunde geschlachtet, im Ofen jeden Tag gebacken werden, es war alles dazu in bester Bereitschaft. Geschlachtet und gebacken wurde aber nicht. Doch, so fleißig auch gelüftet wurde, es war ein Modergeruch vorhanden, und die Schritte des Wandelnden hallten lauter in den Wänden als anderswo.

Kernschimmler war ein stattlicher Mann geworden, dem außer Hause seine wunderliche Art nicht einmal angesehen werden mochte. Er pflegte sich gut und kleidete sich stets mit peinlicher Genauigkeit, freilich nicht gerade nach der Mode, aber doch mit gutem Geschmacke und mit größter Akkuratesse. Wenn an einem Kleidungsstücke ein Knopf verloren ging, so mußte seine alte Dienerin von Schneider zu Schneider, von Krämer zu Krämer laufen, um genau den gleichen aufzutreiben, und wenn das nicht glückte, so wurde das ganze Kleidungsstück dem Trödler übergeben. Sein Aus- und Eingang war pünktlich, wie eine Uhr, sein Verkehr mit Bekannten verbindlich, aber gemessen, im Gespräche stets der gleichen Worte und Redewendungen sich bedienend. Alle Samstage ging er des Abends in heitere Gesellschaft, lachte aber nur, wenn bei ihm Lachenszeit war, nämlich der Ordnung halber bloß bei bestimmten, stets wiederkehrenden Späßen. Neue Witze mochten zehnmal besser sein, er machte keine Ausnahme von der Regel.

Er hätte sich zur Zeit – denn die Weiber garnten um und um – sicherlich verliebt, allein das lag nicht in seiner Tagesordnung, und wie er schon so sehr dem Gesetze der Trägheit unterworfen, so wäre nach dem einmaligen Verlieben zu befürchten gewesen, er könnte sich der lieben Ordnung halber jeden Tag wieder verlieben.

Augustin Kernschimmler war unverheiratet geboren und blieb also unverheiratet. Er lebte so nach seiner Art behaglich und zufrieden dahin und eine Entgleisung von dieser Lebensbahn schien ausgeschlossen. Da – in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre – erkrankte er. Es geschah so allmählich, so sachte, daß er die Ordnungswidrigkeit nicht einmal inneward. Er wurde ein wenig magenleidend, dann ein wenig leberleidend, hernach ein wenig halsleidend, endlich ein wenig brustleidend. Seine große Sorge war, die Erscheinungen, die er an sich wahrnahm, ordentlich zu verbuchen und vom Arzte die lateinischen oder griechischen Namen dafür zu erfahren. Damit konnte der Doktor recht sehr aufwarten. Wenn es aber einmal nicht stimmte, wenn der Doktor und die medizinischen Werke, die Kernschimmler genau studierte, sich widersprachen, dann war er gebrochen. Als es sich aber sachte, doch haarscharf auf eine Lungensucht wies und alle Anzeichen dazu auf das glänzendste auftraten, da rieb sich der gute Kernschimmler fröstelnd die Hände, vergnügt darüber, daß doch noch wenigstens bei schweren Krankheiten eine gute Ordnung obwalte. Sicherheitshalber hatte er mehrere Ärzte rufen lassen, und alle stimmten darin überein, daß der rechte Lungenflügel ganz kaput, der linke noch fast zur Hälfte intakt sei. Eine Frage der Zeit. In der Bestimmung dieser aber widersprachen sich die Herren, die gutmütigeren gaben ihm Monate, sogar Jahre, die berühmten gestanden fast derb, daß es sich nur noch um Tage handeln könne. – In Gottes Namen! Es liegt ja in der ewigen Ordnung der Natur, daß der Mensch sterben muß. Wenn's jedoch wirklich schon ernst ist, dann frägt es sich um die testamentarischen Angelegenheiten. Ein paar Verwandte, etliche gute Freunde werden ja wohl so gut sein, die Hinterlassenschaft in Empfang zu nehmen und ordentlich zu verwalten. Die hohe Erbsteuer ist nicht in Ordnung und ist das überhaupt ein sehr umständlicher Weg durch Behörden und Advokaten, dessen Ausgang mancher Erbe gar nicht erlebt. Da wird's vernünftiger sein, die Sachen unter der Hand zu verschenken.

Also hat Augustin Kernschimmler am nächsten Tage seine entfernten Vettern und Muhmen und einige gute Bekannte der Samstagsgesellschaft zu sich beschieden. Wäre schier zu spät gewesen, er hatte kaum noch eine vernehmliche Stimme, es versagte ihm schon der Atem. Zur Not wenigstens das Wichtigste: Die Häuser gehören den Verwandten, die Einrichtungsstücke den Freunden, das vorhandene Papier der Gemeinde für wohltätige Zwecke. Das alte Gewand in den Schränken soll verbrannt werden.

Die Beschenkten weinten vor Rührung, vor freudiger. Wer seine Sachen mitnehmen konnte, der nahm sie gleich mit. Der Sterbende konnte sich nun auf die andere Seite legen – es war in Ordnung.

Am nächsten Morgen erwachte er später als sonst. Ah, das war ein erkleckliches Schläfchen gewesen, diesmal. Er fühlte sich nachgerade erfrischt. – Nun muß aber der Erzähler sich sputen mit der Entwicklung, sonst errät es der Leser vorwegs, wo es hinaus will. Also gut, der Augustin Kernschimmler wurde wieder gesund, stocksteingesund, so gesund, als er vorher nie gewesen. Und war arm wie eine Kirchenmaus, wenn der Küster die Wachskrusten von den Leuchtern geschabt hat. Er hatte ja alles verschenkt und es war in Ordnung.

So ein Testament ist doch ein gutes, kluges Ding. Man gibt sein Vermögen so selbstlos, so großmütig hin – aber erst, wenn man es selber nicht mehr braucht. Das, was einer im Testament voll Edelsinn und Barmherzigkeit jemand vermacht, kann er unbedenklich aufbrauchen, da ist keine Pflicht vorhanden, es über den Tod hinaus zu bewahren, damit jenem, dem es vermeint gewesen, das auch richtig zukomme. Testamentarisch vermachte Sachen bleiben Eigentum des ursprünglichen Besitzers, solange er lebt; nach dem generosen Papier kann man ganze Häuser vererben, die der Erblasser mittlerweile vertrinkt oder verspielt.

Wie brutal hingegen ist das Schenken! Was du heute verschenkest, das ist morgen nicht mehr dein, und selbst wenn dein Leben darauf stünde. Wolltest du es zurücknehmen, so könnte der Beschenkte dich gerichtlich belangen, als strecktest du deine Hand nach fremdem Eigentum aus. – In diesem Falle war unser armer, stocksteingesunder Kernschimmler. Aber er fand es in Ordnung. Es fiel ihm durchaus nicht ein, auch nur auf einen Groschen seines großen verschenkten Vermögens Anspruch zu machen, oder scheinen zu lassen, daß er etwas bedürfe. Er griff seine gewohnte Lebensordnung wieder auf und führte sie so lange, bis der für sein Begräbnis bestimmt gewesene Betrag verbraucht war. Dann ging er ins Gemeindeamt und ersuchte um eine Versorgung. Er hatte früher das Wort »reich« nie ausgesprochen, jetzt sprach er das Wort »arm« nicht aus. Er war jetzt so wenig arm, als er früher reich gewesen. Er hatte früher den Lebensunterhalt gehabt, und den mußte er jetzt auch haben. Die Gemeinde hatte über seine Widmung zu wohtätigen Zwecken bereits verfügt, sie tat nichts desgleichen, als ob der Mann bei ihr etwas besonders gut haben könne; sie fand nur, daß er für das Spital zu gesund, für das Armenhaus zu fröhlich und für die Altersversorgung zu jung war. Sie ließ in sehr vorsichtiger Form bei ihm anfragen, ob er die zur Zeit offene, sorgenfreie und Achtung gebietende Stelle eines Gemeindedieners würde übernehmen wollen. Wenn ja, so wäre er der Bevorzugte. Diese einflußreiche Stelle sei weitaus gesicherter, als die des Bürgermeisters, der von drei zu drei Jahren abgelehnt werden konnte, während der Gemeindediener ohne ganz besonderen Anlaß nicht bedankt werde, sondern bestimmt sei, die Tradition des Bürgermeisteramtes von Geschlecht zu Geschlecht zu übertragen und zu überwachen.

Augustin Kernschimmler ward Gemeindediener und als solcher ein wahrhaft bedeutender Mensch. Er hatte zwar nichts zu tun, als den Willen anderer auszuführen, aber die Ausführung ist ja schließlich Hauptsache. Er war ganz glücklich, der Selbstbestimmung enthoben zu sein, denn er hatte nie etwas mit sich anzufangen gewußt, er fühlte sich als Werkzeug anderer geborgen und gekräftigt und funktionierte mit wunderbarer Präzision. Sein Wirkungskreis erstreckte sich nicht etwa über die Kanzlei, sondern über die ganze Gemeinde bis zum Bezirksgerichte und zu der Landeshauptmannschaft hinauf. Man soll gerade einmal nachdenken, was ein Gemeindediener zu tun hat. Kernschimmler besorgte sein Amt mit so unerhörter Ordnung, daß die Leute sich fragten, wer denn das Räderwerk eingefettet haben könne, daß es nun so glatt ginge? Sie wurden sich der Ursache kaum bewußt, merkten nur, daß der Gemeindediener ein ordentlicher Mensch sei.

Als er fünfundzwanzig Jahre lang der musterhafte Gemeindediener gewesen, machte er etwas Dummes. Er ließ sich pensionieren. Als siebzigjähriger Mann, meinte er, sei es in Ordnung, sich zur Ruhe zu setzen. Bald sah er aber, daß bei ihm die Ruhe als solche nicht in Ordnung war. Denn er hatte zu lange in regelmäßiger Tätigkeit gelebt; jetzt auf einmal nichts zu tun, als spazieren zu gehen, das war doch die größte Schlamperei. Jeden und jeden Tag dieselbe Schlamperei. Das war freilich auch Regelmäßigkeit – aber in diese neue Ordnung konnte er sich nicht mehr finden. Er erbot sich dem neuen Gemeindediener freiwillig zu Diensten und wurde des Dieners Diener. Die schwersten Kränkungen seines Alters bestanden darin, wenn ein Foliant, statt im dritten Fach, etwa im vierten lag; wenn die Empfangsbestätigung für Zustellungen von dem Empfänger mit Bleistift geschrieben war, anstatt mit Tinte; wenn der Bürgermeister ihn »Herr Kernschimmler« nannte, da er doch fünfundzwanzig Jahre lang in treuen Diensten bloß der Kernschimmler gewesen war.

Seine persönliche Tagesordnung war das Uhrwerk geblieben, das seit einem halben Jahrhundert kaum ein einziges Mal stillstand – täglich dieselbe Sekunde zum Aufstehen, dieselben dreiundzwanzig Minuten zum Anziehen des immer gleich geformten Gewandes, dieselben neun Minuten zum Rasieren, und die Haare kämmte er sich mit der gleichen gewohnten Sorgfalt auch noch zur Zeit, als er längst keine mehr am Kopfe hatte.

Eines Tages aber ließ Augustin sich eine große Unregelmäßigkeit zu schulden kommen. Er kämmte sich nicht und rasierte sich nicht, er kleidete sich nicht einmal an. Lange über die gewohnte Zeit hinaus blieb er in seinem Bette liegen und war tot.

Als der Schreiner ihm den Sarg zurechtmachte, sagte er zu einem Nebenstehenden: »Ich wüßte schon, was zu machen wäre, daß der Kernschimmler wieder aufstände. – Man brauchte bloß einige Hobelspäne auf den Boden zu verstreuen, alsogleich wäre er mit dem Besen da, um Ordnung zu schaffen.«

Tue es nicht. Laß ihn rasten mit neunundsiebzig Jahren – es ist in Ordnung.

 


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