Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Wie er das Gold fand.

Aus den Schriften eines Gutsbesitzers.

Ich war von einer italienischen Reise zurückgekehrt auf mein Bergschloß. Aber recht verstimmt, denn die Reise war mißlungen. Das ganze Frühjahr eine ununterbrochene Plage von schlechtem Wetter. In Venedig hatte ich mir die Finger verfroren. In San Carlo fand ich die Spielbank geschlossen. In Rom hatte ich den Papst nicht gesehen. In Neapel hatte der Vesuv kaum geraucht, viel weniger gespien. Die Fahrt nach Sizilien mußte wegen stürmischer See ganz fallen gelassen werden.

So war ich leer und mißmutig in das Alpental zurückgekehrt. Hier waren die Saatfelder und die Wiesen wohl schon grün und es blühten an den Rainen die Eriken und es blühten an den Steinhaufen die Schlehen und Wildkirschbäume; auf den höheren Bergen aber lag noch Schnee. Besonders der Kegel, den man von den Fenstern meiner Wohnung aus so schön und hoch aufragen sieht jenseits des Tales, stand da, weiß und glatt wie ein Zuckerhut. Beinahe hat er dieselbe Form, nur daß er nicht ganz so steil und spitz ist und unten sich ausböscht zu breitem, flachem Sockel. Im Hochsommer wird er schneefrei und grün und es weidet darauf das Vieh. Er soll vulkanischen Ursprunges sein und sieht in seiner schneebedeckten Gestalt aus wie der Ätna in Sizilien. Dieser Berg, der Kegel genannt, steht so hoch über alle anderen Berge der Umgebung auf, daß er weit ins Land hinausleuchtet und von Ferne zu sehen ist wie eine ägyptische Pyramide. Besonders schön im Frühsommer, solange auf den steilen Matten desselben noch der Schnee liegt, während alles andere schon im Grünen steht. Um diese Zeit rauschen auch die Wässer so grimmig und die braunen Fluten des am Schloßberge vorüberwütenden Flusses schlagen hoch an die Felswand herauf, daß sogar manchmal ein Tropfen an die Fenster springt. Der weite Talkessel heißt die Kaal, er hat sieben Dörfer, die mit ihren grauen Holzdächern baumlos auf den Matten stehen und einst alle zum Schloß gehört haben. Der Bevölkerung liegt die Hörigkeit noch heute so sehr im Blute, daß sie mir in allem Untertänigkeit bezeigt, obschon ich ein ganz gewöhnlicher Gutsbesitzer bin und das Schloß der verkrachten Grafenfamilie, oder vielmehr ihrem Wucherjuden für Geld abgekauft habe. Ich halte mich auch nur fünf Monate des Jahres in dieser Gegend auf, um mich gerne mit Jagen, Fischen und dergleichen abzugeben. Die Wirtschaft, von der ich nicht viel verstehe, und die mir nie sonderlich den Schlaf verdorben hat, überlasse ich meinen Meiern. Die übrige Jahreszeit lebe ich in der Stadt oder bin auf Reisen, die man schon so machen muß und die das eine Gute haben, daß es einem dann zu Hause wieder auf eine Weile gefällt.

So war ich denn auch diesmal froh, wieder in der Kaal zu sein bei den gutmütigen Leuten, die man mit ein wenig Artigkeit an der Nase herumführen kann. Wieder da auf meinem alten Grafenschloß, welches sich von allen anderen derartigen Burgen darin unterscheidet, daß keine weiße Frau darin umgeht – ja daß überhaupt keine Frau darin umgeht. Ich besitze keine. Ich habe »das Schnalzerl überhört,« wie die Leute hier zu Land von einem alten Junggesellen sagen. Junggesellen, Herr Jemine! Nur allzuoft muß ich meine Kammerdiener wechseln, damit sich in einem und demselben nicht zu viele Familienerinnerung ansammelt. Aber das wollte ich ja gar nicht erzählen.

Am dritten Tage, als ich nach der Kaal zurückgekehrt war, meldete mein Diener Friedrich mir eine Bauerndeputation an. Drei Mann. Was wollen die? Wollen sie mir endlich ihre Unabhängigkeit erklären? Wollen sie mich in den Landtag wählen? Oder begehren sie Wildschadenvergütung? Na, wir wollen einmal sehen.

»Ei siehe! Welch' gute Stunde bringt mir meine Nachbarn! Der Strehlhöfinger und der Glowogger, nicht? Und der Karer-Martin.«

Die Leute freut's immer, wenn man in der weiten Welt ihre Namen nicht vergessen hat. Sie tun's bedeutend billiger mit den Wildschäden, wenn man sie beim Namen nennt und vertraulich Du zu ihnen sagt. Nirgends wird Höflichkeit so gut bezahlt, als bei den Bauern.

Der Strehlhöfinger – ich glaube, daß er jetzt Gemeindevorsteher ist – ergreift das Wort. »Es tut uns g'freuen, gnädiger Herr, daß der gnädige Herr wieder da ist. Wenn's G'schloß so leer steht und man nichts trampeln und nichts klocken und gar nichts hört, und alles wie ausgestorben, da ist's so viel langweilig. Und alleweil sagen wir, wenn nur schon die Pfingsten da wären, daß der gnädige Herr wieder kommt. Und weil wir schon so viel eine Freud haben, daß der gnädige Herr wieder gekommen ist, so sind wir – so haben wir –?« Da stockte er endlich. Ich hatte ihn schon beneidet um seine Rednergabe. Und siehe, er war tatsächlich klüger, als die meisten Redner, die den Faden verlieren. Er suchte ihn nicht lange, um wieder anzuknüpfen. Er begann etwas frisches.

»Heut' auf den Abend, wenn's finster wird, möchten wir dem gnädigen Herrn halt gern eine kleine Freud' machen. Und wollen zu Lob und Ehr' ein Schaug'spiel sehen lassen. Sonnwenden halten, das tun wir sonst alle Jahr. Heuer möchten wir wohl extra was machen. Wie es ausfallen wird, das wissen wir nit, bitten halt, daß es der gnädige Herr so gut möcht' aufnehmen, wie es gemeint ist. – Und wie ist's gangen, gnädiger Herr, alleweil gesund gewesen?«

Die letzten Worte waren nicht mehr in getragener Ehrerbietung des offiziellen Teiles gesprochen, vielmehr in gemütlich vertraulichem Plauderton, in dem wir miteinander zu verkehren pflegen. Als ich sie dann auf ein Glas Wein einladen wollte, lehnten sie es strikte ab. Heute nicht, heute hatten sie nicht Zeit. Und sind dann unter lebhaftem Handgeschüttel davongegangen, ohne weiter etwas anzudeuten, worin das »Schaug'spiel« bestehen würde.

Ich fragte dann den Friedrich aus, ob er nichts gehört oder wahrgenommen hätte. Er wußte nur, daß zu einer Komödienaufführung oder dergleichen keinerlei Anzeichen vorhanden wären, daß vielmehr die Leute, besonders das jüngere Volk, die Häuser verließen und gegen das Gebirge wanderten. Die alten Frauen stünden vor den Haustüren, hielten die Hände über die Augen und schauten so hinaus.

Da wurde ich ein wenig neugierig. Je tiefer die Sonne sank, je höher stieg die Neugierde. Und als die Abenddämmerung anbrach, das Dorf zu meinen Füßen zur Hälfte ausgewandert war, zur andern Hälfte aufgeregt auf den Gassen herumging, da bin auch ich unruhig geworden. Es wurde finster, am Himmel glitzerten die Sterne, unten rauschte das Wasser – weiter war nichts. Nachdem ich lange am Fenster gestanden und zu überlegen begann, ob das angekündigte Schauspiel im oder vor dem Schlosse stattfinden würde, oder ob man mich benachrichtigen sollte, wann und wo, hatten Koch und Diener das Souper serviert. Meine gütigen Götter, wie traurig das ist, wenn ein einziger Mensch bei einem Tische sitzt, der reichlich für zwölf Personen Raum hat. Es gibt nichts Traurigeres. Ei doch! Trauriger ist es noch, wenn zwölf an der Tafel sitzen und sind einander nichts und haben einander nichts zu sagen als Abgeschmacktheiten. Habe es oft genug versucht und mich endlich für die Einsamkeit entschieden. Bei Tische ist der beste Freund der Magen. Wenn der gut aufgelegt ist, dann kann's manchmal ganz amüsant werden. Junker Wein leistet auch Gesellschaft und weiß sehr gut zu unterhalten. Er plaudert, er musiziert, er schäkert, produziert sich als Schnellzeichner der Welt und malt mit rosigen Farben. Nicht übel sekundiert ihm Madame Zigarre und in solchem Freundeskreise läßt sich der Abend manchmal recht passabel zubringen. Dann kommt aus Jena der lustige Studiosus, aus Ungarn der forsche Rittmeister und aus Wien der lachende Erbe der zwei Millionen eines ausgezeichneten Goldonkels. Sie kommen und sagen: Erinnerst du dich noch daran, als du ich warst? Ich der Student, der Rittmeister und der, dem plötzlich die Welt in den Schoß fiel, so heftig, daß ihm die Beine wackelten! Ha, wie da die Straßen stolz auseinandergingen in alle Winde hinein, um endlich auszumünden an der alten Räuberburg in diesem verlorenen Gebirgstal. Ja hier, da haben sie ihn ausgeworfen, den alten übersättigten Sonderling und da will er nun warten auf –

Auf was will er dann warten?

»Euer Gnaden möchten zum Fenster kommen!« sagte der Diener, der leise herangetreten war.

»Na ist nun etwas los?«

»Euer Gnaden wollen bloß einmal zum Fenster kommen.«

Ich ging in den Erker und blickte hinaus. Wie, was ist nur das? Hoch in den Lüften ein Feuer. Ist es der Mond? Es ist eckig und zackig wie eine Krone und steht ruhig im Himmel. »Das Fernglas, Friedrich!« – Und durch das Instrument, das ich richtete, sah man einen großen Feuerbrand, dessen Flammen langsam aufloderten, eingewölbt von rötlichen Rauchmassen. Und am Fuße des Feuers, auf weißen Wolken zitterten kleine Punkte herum, wie ausgestoßene Kohlenteile, oder Wesen, die aus dem brennenden Neste geflohen waren. Ganz fabelhaft, so daß ich aufschreien mußte: »Wie machen sie denn das, die Racker!« An eine Nebelbilderscheinung dachte ich, die von der Erde aus erzeugt werde, da sagte mein Diener schon: »Das Feuer ist auf dem Berg.« Und endlich wurde es klar, daß der Brand nicht am Himmel sei, sondern auf der Spitze des Kegels, wo – wie nun deutlich zu sehen – er sich immer mehr entfaltete. Manchmal lösten sich ganze Feuermassen los und flogen mit dem Rauchqualm hoch in die Lüfte, und eine ungeheure Funkengarbe sprühte auf, um dann als glühender Regen nach allen Seiten niederzusinken. Da kam mir plötzlich der Gedanke: Ein Vulkan! Der Kegel hat sich wieder aufgetan. Ich öffnete die Fensterflügel, um zu horchen, ob man nicht ein Brüllen oder Sausen höre. Aber in der großen Ferne war es ganz ruhig. Nur unten im Dorfe manchmal ein Aufschrei, dann wieder nichts als das Rauschen des Baches. Still und feierlich stiegen die Flammen auf. Mich packte etwas, wie ein wollüstiges Grauen – um das richtigste Wort zu sagen. Das was in Italien der Vesuv versagt, bietet mir die Heimat? Von Minute zu Minute größer wurde das Feuer und begann sich hinzubreiten über den ganzen Scheitel des Berges, als fließe es auseinander. Siehe, jetzt glitt ein Funke hernieder über den Hang des Berges und es glitt ein zweiter. Und es begannen mehr und mehr Glutkügelchen herabzurollen über den Berg, teilweise zu sehen wie sinkende Sternschnuppen, gleichsam einen glühenden Streifen hinter sich herziehend. In Bächlein und Bächen begann die feurige Lava herabzurinnen von dem Kegel nach allen Seiten, immer dichter und dichter, daß es war wie ein qualmender Lichtschleier, der sich niedersenkt. Ich hatte mir – konnte ich noch denken – einen Lavastrom eigentlich anders vorgestellt, nicht so schön, so graziös. Trotz aller Großartigkeit war das fast lieblich zu sehen, ich fürchtete mich nicht mehr, ich betrachtete die unerhörte Erscheinung wie ein Götterschauspiel, bei dem ich ganz vergaß, daß mir ja auch die guten Kaaler an diesem Abende ein Schauspiel bringen wollten. Dann griff ich mir an die Stirn, ob sie kühl sei, ob ich nicht etwa zu viel Wein getrunken hatte. Zwei kleine Gläser wie gewöhnlich. Wie ich dastand an der Fensterbrüstung, von unten das Wasser rauschen hörte, und dort den feurigen Berg sah – das war weder Rausch noch Traum. Ich regte mich aber weiter nicht mehr auf. Viel hatte ich ja in dieser Welt schon erfahren und mir angewöhnt, mich über nichts mehr zu wundern, also auch darüber nicht, daß der alte Vulkankegel plötzlich wieder ausgebrochen. Nur die Verhältnisse in der Kaal würden sich jetzt ändern, die Ruhe und Einsamkeit würde dahin sein. Die alten gemütlichen Bauernhöfe würden von Fremdenhotels verdrängt werden und man würde nicht mehr wissen wohin, wenn man die Welt fliehen wollte.

Lange stand ich da und schaute hin, wie immer noch die glühenden Striemen niedergingen. Ich wartete nun auf den Aschenregen, der geflogen kommen mußte und gab meinen Hausleuten Auftrag, die Fenster wohl zu verwahren und Wassereimer bereit zu halten. Aber der Aschenregen kam nicht, das feurige Spiel auf dem Kegel wurde dünner und matter; der Brand auf der Spitze war in sich zusammengesunken und den Hang herab glitten nur einzelne Lichtkügelchen.

Nach einer Stunde war alles verglommen und vergangen und der Berg stand da dunkel in der dunklen Nacht, kaum daß sein blasses Dreieck sich abhob vom schwarzen Himmel. Dieses schnelle Ende hatte mich fast mehr erregt, als die Erscheinung selbst. Denn nun konnte ich mir erst gar nichts erklären. Wenn es kein Vulkan war, was soll es denn gewesen sein? In wirklicher Besorgnis darüber, ob ich wohl noch richtig bei meinen gesunden Sinnen sei, befragte ich die Dienerschaft. Ja, auch sie hatte alles so gesehen, wie ich, ihre Ausrufe der Verwunderung, des Schreckens, der Angst hatte ich ja wohl gehört. Friedrich der Belesene behauptete, das könne nichts anderes gewesen sein, als Elmsfeuer, während der Kutscher daran erinnerte, daß heute die Sonnwendnacht sei, in der sich in alten Zeiten oft große Wunder zugetragen hätten. In dieser Nacht würden manchmal die alten Heidengötter lebendig und ritten auf feurigen Rössern durch die Lüfte.

Da konnte ich den Morgen kaum erwarten, um hinabzugehen in das Dorf und zu sehen, wie die Leute sich zu diesem Ereignisse verhielten. Als ich um Sonnenaufgang die steinerne Treppe hinabstieg – der Kegel stand dort, wie er jeden Morgen steht – war schon der Maurer bei der Arbeit, um das Stiegengeländer auszubessern. Er lüpfte seine Mütze, nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Auch schon auf, gnädiger Herr! Recht gut ist's ausgefallen, heut bei der Nacht, gelten 's?«

»Aber Freund, so sagt mir doch, wer hat denn das gemacht?«

»Weiß man nit mehr, wird noch aus der frühern Grafenzeit stammen. Mit der Zeit morscht halt auch der beste Stein.«

»Ich meine nicht die Mauer, mein guter Meister. Aber das möchte ich wissen, was das war, heute nachts, dort auf dem Kegel.«

»Nit wahr, gnädiger Herr, das hat sich sauber gespielt, recht sauber. So ein Sonnwendfeuer werden die Kaaler wohl noch keins gesehen haben. Die Holzknecht' haben's gemacht. Schon die halbe Woche lang haben sie Holz hinaufgeschleift, und dürren Strupp, und sogar Birstlingheu, daß es tüchtig brennen und die Feuerfetzen recht hoch auffliegen sollten. Sind auch hübsch geflogen, gelten's? Die jungen Leut' nachher, die sind erst gestern in der Geschwindigkeit zusammengebracht worden. Aus allen sieben Dörfern sind's hinauf. Grad wie eine Gottsleichnamsprozession ist's gewest, aber viel größer noch, wie sie gestern hinauf sind hinten über die Buchkarrwiesen, jeder den Handschlitten auf dem Buckel.«

»Den Handschlitten – wieso?«

»Na freilich, daß sie nachher haben können herabrutschen vom Kegel, jeder eine Pechfackel in der Hand. Sauber haben sie's g'macht. Hat's gefallen, gnädiger Herr? Na, wenn's nur gefallen hat. So was sieht man nit alle Tag. Vor hundert Jahren, oder wann – wie der Kaiser auf der Jagd ist da gewesen – sollen sie auch einmal so was gemacht haben.«

So ähnlich sprach der Maurer, dann wußte ich es. Nichts hatte ich mir vorher reimen können, und nach diesen wenigen Andeutungen erklärte sich mir alles. Und so etwas machen die Bauern. Machen es mit einigern Klaftern Holz und Stroh und mit einigen hundert Schlittenfahrern und Pechlunten. Vielleicht waren es auch einige tausend. Alles ohne viel Gerede und Getue. Und solches war mir zu Ehren so gemacht worden. Ich war sehr gerührt, nur Schade, daß es nicht in die Zeitungen kommen wird. Vielleicht, daß der Friedrich etwas schreiben könnte. Wenn derlei nicht veröffentlicht wird, hat's ja eigentlich keinen Sinn. – Jetzt würde ich aber auch was tun sollen. Man kann sich's von armen Leuten ja nicht bieten lassen. Noblesse oblige. – Es ist aber nicht so einfach. Ihnen ein Armenhaus bauen? Sie haben keine Armen, jedes Haus versorgt seine alten mühseligen Leute selbst. Ein Schulhaus? Das steht schon da. Eine neue Kirche? Sie hängen so sehr an der alten, in welcher die Vorfahren gebetet haben. Hingegen aber eine gute breite Straße, die sieben Dörfer bequem mit einander verbindend. Oder die Gemeinde Kaal hat vielleicht Schulden. Wir wollen einmal darüber nachdenken.

Schon am nächsten Tage habe ich erfahren, wo die Leute der Schuh drückt. Die Wildschäden. Sie wollten mir dieselben nicht so hoch anrechnen, als sie ihnen zu stehen kämen, denn ich hätte von der Jagd ohnehin nur Unkosten und es wäre unbillig, einem so guten Herrn dieselben noch zu vergrößern. Deshalb wäre es ihnen am liebsten, die Gemeindejagd zurückzunehmen. Der Pacht dauere zwar noch sieben Jahre, aber vielleicht hätte der gnädige Herr die Gnade, denselben gleich zu lösen.

Nein, der gnädige Herr hat die Gnade nicht. Das einzige Vergnügen, das mir noch geblieben ist auf der öden Welt, die Jagd sollte ich nun auch hingeben? Das kann niemand von mir verlangen.

Diese Wildschädengeschichten habe ich schon satt. Jedes Jahr die Jammerei. Sollten sich anderswo ansiedeln. In den Waldgegenden ist's ohnehin nichts mehr mit dem Landbau. In den Wald gehört der Jäger und nicht der Bauer.

Die Sache schien abgetan zu sein. Doch ging die Sonne noch zweimal auf und einmal unter, da ist wieder etwas Außerordentliches geschehen. Es rächten sich die alten Heidengötter, daß in der Sonnwendnacht ihr weiland feuriger Wolkenritt so arg verweltlicht worden war.

An einem warmen Regennachmittage gab es Stöße in der Luft. Dann begann es zu donnern und man glaubte, daß es ein Gewitter sei. Es war aber ein anderes Donnern. So weit die weiße Pyramide des Kegels von unten hinauf nebelfrei war, sah man an derselben schwarze, breite Bänder herabrinnen. So wie drei Tage vorher die feurigen Sterne und Fäden niedergeglitten, so waren es die schwarzen Streifen, vorangespannt die Walzen der Schneelawinen, die da zur Tiefe fuhren, in die Waldschluchten hinein. Mit jedem Donnern bekam der Berg ein neues schwarzes Band, bis an manchen Stellen aller Schnee dahin war. Die Leute schauten erschrocken und schweigend hin. Wer das vollbrachte, das waren nicht mehr die Holzknechte und auch nicht die Bauernburschen mit ihren Schlitten. Man konnte auch nicht sagen, daß es so schön war, wie vorher das Feuerschauspiel; ich aber empfand ein Wohlbehagen. Das empfinde ich immer, wenn die Elemente im großen zerstören. Fast ballt sich dabei selbst die Faust und möchte mit dreinschlagen. Warum, das weiß ich nicht, denn im ganzen hat mich diese Welt ja verzärtelt. Vielleicht eben deswegen. Ich wollte den Leuten eigentlich nichts Übles, aber wenn ein wildes, grauses Unheil über sie kam, da war ich ganz unwillkürlich erfrischt. Gleich auch bereit, die Verunglückten zu trösten, ohne das ich übrigens besonderes Mitleid empfand. Gab es nur wieder einmal eine besondere Abwechslung, die mich den Rücken prickeln machte, dann war mir wohl und froh zumute.

An demselben Abende, als vom Kegel die Lawinen abgegangen waren, erhob sich in den sieben Dörfern großer Jammer. Denn das Wasser war ausgeblieben. Auch am Fuße meines Schlosses war es still geworden, auf dem Sande zappelten Forellen, die nun – am Ende ihres Lebens erst – inne wurden, wie notwendig das Wasser ist. In den Dörfern ging es zu wie bei einer Feuersbrunst; die Häuser wurden geräumt, das Vieh aus den Ställen gejagt und auf den erhöht am Waldrande liegenden Wiesen breiteten sich bald große Lager aus, von allerlei Habseligkeiten und aufgeregten Menschen. Am Flußbett, in dem zwischen weißen Kieseln die toten Tümpel standen, eilten Wasserwächter auf und ab, die von Stunde zu Stunde erregter wurden, denn je länger das Wasser ausblieb, je verheerender müsse es dann kommen.

Und am nächsten Tage ist es gekommen. Das ist nicht zu vergessen. Nicht Wasser kam, Berge von Schlamm, Steinen, Bäumen und Blöcken kamen. Sie wurden herangewälzt, so unerhört wuchtig, daß sie über das Tal sich mit dumpfem Rauschen verbreiteten und alles, was ihnen im Wege stand, hinwarfen und verschütteten. Wie lebhaft sehe ich es heute noch. Das untere Dorf ist zerstört. Das Dorf am Fuße meines Schloßberges ragt noch halb aus dem Schutte hervor. Das am Eschenberg ist unversehrt. Von den übrigen Dörfern, die hinter der Schlucht liegen, ist noch nichts bekannt. Als unten die Fluten kamen, zitterte das Schloß wie der Oberbau einer Mühle, in welcher die Räder laufen. Ununterbrochen klirrten die Fenster und manchmal sprang draußen ein Gischtschwall herauf und goß in das Zimmer. Und sind doch die Fenster vierzig Meter hoch über dem Grunde! Meine Leute waren jammernd beschäftigt, um ihre Habseligkeiten zu sammeln und wunderten sich, daß ich so ruhig wäre und mich um meinem Schätze nicht kümmere. Nun – die liegen in der englischen Bank. Was liegt mir an diesem Spielzeug! Nur daß es nicht uninteressant ist, solche Elementarspiele zu beobachten. Leider hatte Regen und Nebel die Gegend derart verdeckt, daß man nichts Rechtes sehen konnte. Nur die Stromschnelle an der Schloßbergwand war und blieb ganz gegenwärtig. Dieses braune, dicke Wasser, das zornig die größten Stämme vorüberschob! Sie wehrten sich, diese Stämme und Zimmerbäume und Brückenbalken, klammerten sich an Ufervorsprünge, wurden losgerissen und über die Wogen dahingeschnellt. An einen solchen Waldstamm klammerte sich ein Tier fest; ein Rehbock, es konnte auch ein Hirsch sein, es hockte zu sehr im Geäste. Noch heute höre ich sein angstvolles Plärren. Es wird wohl ein junger Hirsch gewesen sein. In der Luft schossen Raben auf und nieder und ich glaubte sogar einen Adler gesehen zu haben, der vom Hochgebirge her zur Kadaverjagd erschienen war. Als der hohe Herr an den Fenstern vorüberflog, huschte ein dunkler Schatten durch die Zimmer. Wie ich mit der Flinte ans Fenster komme, ist nichts mehr zu sehen.

Am nächsten Morgen war die Luft klar wie Kristall, der weiß- und schwarzgefleckte Kegel stand da wie ein Tiger und in der Kaal war ein brauner See, aus dem Bäume, Zaunhecken und Häuser verlassen aufragten. Die Leute standen auf Gassen und Straßen herum und waren betäubt. Etliche, darunter mein alter Maurer, falteten die Hände und priesen das Glück. Das Glück, daß die Lawinen nicht in der Sonnwendnacht losgegangen waren! Aber die Sonnwendnacht könne doch an allem Ursache sein, meinten andere. Die Leute und die Schlitten hatten den Schnee erschüttert, die Feuer, die Fackelabfälle hatten Löcher gebrannt in den Schnee, da ist er gerissen. Und wieder andere sagten, man könne nichts sagen. So lange wie diesmal sei der Schnee seit Menschengedenken nicht kleben geblieben an dem Kegel. Die Junisonne habe den kalten Bergwinden nicht aufkommen können, aber der warme Regen habe alles auf einmal gelöst.

»Es ist alles eins, ob es so oder so gewesen. Wir sind Bettelleute!« Das war dann der Schluß aller Meinungen.

Dann kam der Sonntag. Mein Verwalter erzählte, daß diesmal die Kirche zu klein geworden sei, sie steht im oberen Dorf. Die Leute waren noch außen herumgesessen, wollten von den Trostworten des Pfarrers etwas hören und durch die Messe gesegnet werden. Am Nachmittag haben sie sich bei dem Friedrich erkundigt, ob ich zu Hause sei und dann sind sie zu mir gekommen, die Vorsteher der sieben Dörfer. Redner ist wieder der Strehlhöfinger, aber nicht mehr so gewandt, wie bei meiner Ankunft – heiser, klobig, kurz gebrochen hat er es gesagt: »Jetzt sind wir fertig, lieber Herr, jetzt ist die Kaal zu nichts mehr zu brauchen, als zum Jagdrevier. Herr, kaufen Sie uns Grund und Boden ab!«

Ich konnte nicht ja sagen und wollte nicht nein sagen, so wurden sie auf später vertröstet. – Grund und Boden! Wozu brauche ich Grund und Boden in der Kaal! Die Jagd gehört auch so mein. Alles andere brauche ich nicht. Wieso sie immer nur zu mir kommen, wenn sie sich nicht zu helfen wissen! Ich werde es ihnen kurz und entschieden sagen lassen, daß ich mich weiter in nichts einlassen kann. Die Leute muß man sich vom Hals halten.

Jedoch – bevor ich es ihnen sagen ließ, hatte sich wieder etwas geändert. Als das Wasser abgelaufen war, ging ich mit meinem Oberförster über die Sandschütten den Bach entlang, um zu sehen, inwiefern der Fischstand etwa Schaden genommen hätte. Die Jahresbrut ist hin. Abscheulich, was man da wieder für einen Schaden hat. Aber der Pacht, natürlich, der muß regelmäßig erlegt werden. Und da wird man wohl noch beneidet um solche Vergnügungen. Ich danke schön! Das will ich ihnen gesagt haben.

Der Oberförster stocherte mit seinem Stock im Sand, dann bückte er sich und hob eine Hand voll davon auf. Der Sand glitzerte in winzigen Sternchen, daß es ganz poetisch war. Die Feuer der Sonnwendnacht in Miniatur! »Wie in die Erde gelegte Samenkörner des Lichtes, daß daraus wieder Licht soll wachsen.«

»Bitte, gnädiger Herr!« sagte der Oberförster, während er mir die Hand voll Sand mit dem zarten Funkeln vor das Gesicht hielt, »das ist Gold!«

»Was du nicht sagst!«

»Es ist Gold, gnädiger Herr! Echtes Gold. Man hört ja davon, daß dieses Gebirge goldhaltig sei; aber so reich, wie es dieser Sand zeigt – das hätte ich nicht gedacht. Die Lawinen müssen ein Goldlager aufgetan haben. Da soll man nachforschen.«

Na, das war also nicht mehr »Poesie«, das war schon Besseres.

Auch an anderen Stellen untersuchten wir den Sand, weniger oder mehr gab es überall darin die funkelnden Sternchen. Ein kleiner Stein, den wir im Schutte fanden, war sogar mit deutlichen Goldäderchen durchsetzt. Als wir einem Bauern begegneten, der nach davongeschwemmtem Hausgeräte suchte, haben wir den Sand gleichgiltig weggeworfen. Den Stein steckte ich in die Tasche und dann wollten wir durch die Schlucht hinein. Das ging aber nicht, da waren schauerliche Verheerungen. So gingen wir über den Kaalhals, um an den Fuß des Kegels zu kommen. An vielen Stellen war dem Berg die Brust aufgerissen worden, Granit, Quarz – Gold. Steinflächen mit Goldeinsatz lagen zutage an mehreren Stellen. Wir arbeiteten den ganzen Tag, um sie mit Erdreich und Gebüsche zuzudecken, dann sind wir nach Hause gegangen.

Der Kegel ist Eigentum der Gemeinde Kaal. Auf dem Heimweg sprach ich beim Strehlhöfinger zu, der in einer Nothütte wohnt, weil sein Haus die Grundmauer verloren hat und sozusagen in der Luft hängt. Er sagte, es sei ihm ein Gang erspart, er hätte eben wieder zu mir gehen wollen. Sie hätten halt sonst niemand, zu dem sie Vertrauen haben könnten. Ob ich denn nicht eine Fürsprache tun möchte, daß ihnen jetzt das Land zu Hilfe käme, oder die Regierung oder sonst wer. Sie müßten alles verkaufen und warten, was man biete.

Ich versprach ihm, das Meinige zu tun und der Gemeinde etwa den Kegel abzukaufen. Für sie habe der Berg wenig Wert. Ich wollte ihn anständig schätzen. Zu Jagdzwecken habe er allerdings auch für mich keinen Wert; müsse schauen, ihn sonst irgendwie nutzbar zu machen. Die Hauptsache sei, daß die Gemeinde jetzt ein Stück Geld bekomme.

In wenigen Tagen bin ich Herr des Kegelberges gewesen, und habe Bergleute gedungen, um »Quarzbrüche aufzumachen und nach Steinkohlen zu schürfen«. Als vom Schluchtgrund hinein am steilen Berghang ein Stollen geschlagen wurde, zuerst durch Erdschutt, dann durch Stein, machte ich mir manchmal darin zu schaffen. Von oben troff Wasser herab, das meinen Golddurst nicht löschen konnte; immer spähte ich verstohlen nach den glänzenden Äderchen und Sternchen, die von den Arbeitern kaum beachtet wurden, weil sie das Flimmern für eine Eigenschaft des Steines hielten. Und einmal nach der Schicht, als sie ihre Krampen, Brechstangen und Sprengstoffe verwahrt hatten und davongingen, blieb ich immer noch zurück. Im Licht einer Grubenlampe begann ich mit dem Brecheisen zu bohren und zu stemmen, den harten, goldenen Spuren nach, immer tiefer in den Berg. Ich dachte an die Pochwerke, an die Goldraffinerien und Goldwäschereien, die in der Kaal errichtet werden sollten. Ein wahres Goldmacherdorf würde das werden. So grub und grub ich. Die Hände wurden mir heiß, der Schweiß rann mir über's Gesicht. Das erstemal im Leben empfand ich, welch eine Lust körperliche Arbeit ist. Je tiefer ich kam, je häufiger wurden die Goldadern und Sternchen im weißen Gestein, das glitzerte und funkelte ringsum wie eine Sternennacht unter der Erde. Ich glaube auf allen meinen Jagden durch die weite Welt nach Schönheit eine so berückende noch nicht gefunden zu haben. Der blasse Tag schien nicht mehr zur Stollenmündung herein, es war Nacht geworden und ich allein bei meiner Lampe und bei meinen Sternen. Was dieser wunderbare Berg nur für Lichtquellen hat nach außen und nach innen. Die Glut der Wände wurde allmählich so rosig und tief, daß sie anfing zu knistern. So schien es mir fast. Wenn ich von meinem Graben und Brechen einen Augenblick abließ, um zu rasten, da war es bisweilen ein Schnalzen im Gestein und Gebälke. Ein Knappe hatte einmal davon gesprochen, daß die Berggeister sich ihrer Schätze wehrten, ich dachte jetzt nur flüchtig dran. Meine Seele war gleichsam in den Armen, die da gruben und in den Augen, die nach Gold und immer größeren Goldspuren ausblickten. Und nun geschah es. Ein Rollen hub an, ich wußte nicht wo, ein hohles Dröhnen, Schmettern ringsum, ein Krachen und ein dumpfer Schlag, der mir, so viel mich heute dünkt, die Besinnung raubte.

Wie lange das währte, ich weiß es nicht. Als ich mich wieder fand, war es finster. Die Lampe war verloschen. Ich wollte dem Ausgange zu und stieß an die Wände. Endlich fand ich die Richtung, aber stolperte über Schuttmassen, die früher nicht dagewesen. Der Ausgang war verstopft mit Schutt und Gestein und nun wurde mir furchtbar klar, was da geschehen. Der Stollen war eingestürzt, oder eine Lawine hatte ihn verlegt – ich war verschüttet. – Nach dem Gemütszustand, der nun eintrat, frage mich niemand. Von Angst und Grausen, so viel mir erinnerlich, keine Spur. Ich suchte meine Werkzeuge, aber im Dunkeln waren sie nicht zu finden, auch die Lampe nicht. An den scharfkantigen Quarzwänden, wo die Goldfasern sein mußten, tastete ich mich dahin. Warum funkeln sie jetzt nicht, diese Goldblätter und Sterne? Als noch Lampenlicht war, da glimmten die Wände wie ein Sternenhimmel und nun nichts als tiefe schwere Nacht. – Vor Kurzem, in jener Nacht war vom Gipfel dieses Berges so viel Licht herabgeronnen. Dann hatte des Berges Eingeweide in tausend Funken geglüht. Und jetzt? Spricht man nicht von der Treue des Goldes? Etwas wie Zorn kochte in mir auf; dann allmählich eine andere Stimmung. – Morgen früh werden die Knappen ja das Unheil sehen und mich befreien, aber – jetzt kam die Ewigkeit. Schon glaubte ich, mehrere Tage lang zu schmachten, aber es ging immer noch meine Taschenuhr, die unaufgezogen um drei Uhr morgens stehen zu bleiben pflegt. Endlich war sie still geworden. Ich zog sie natürlich auf um beiläufig ein Zeitmaß zu haben. Das war gut, sonst hätte ich um Leben und Sterben für viele Tage gehalten, was doch nur zweimal dreißig Stunden gedauert. Ich weiß nicht, ob der Schlummer kam, ich glaube es nicht. Als die Uhr endlich das zweitemal stehen blieb, war immer noch die dunkle Grabesruh um mich. Und jetzt kam's mir das erstemal bei: Sterben müssen! – Es wird ein großer Bergsturz gewesen sein, sie können der Unmasse nicht Herr werden, sie finden die Stelle des Stollens nicht mehr. O Tor, der sich verlocken ließ vom Golde! Der diesem falschen Metalle nachstieg bis ins Grab hinab! – In der Sterbestunde kommen die Sünden. Gold und Vergnügen, das waren die zwei Rappen, die mich durch die Welt schleiften, bis ich zerrissen hier liegen bleibe in der goldgesättigten Unterwelt. – Man hört, daß es Leute gibt, die in ihrem Leben nicht bloß immer an sich selbst, die auch an andere denken. Du hast viel empfangen von Menschen. Was hast du ihnen gegeben? Selbst die armen Kaaler haben dich, den reichen Mann beschämt. Denke an ihre Anhänglichkeit, an ihre Uneigennützigkeit im Jagdwesen, denke an den fürstlichen Willkommgruß, den arme Bauern und Waldleute dir in der Sonnwendnacht gebracht haben. Und du ihnen? – Ein Glück, daß es nichts gibt. Wenn es aber doch etwas gebe! Ein Gericht, eine Vergeltung! – Ich fühlte Atemnot, ich fühlte heftigen Durst. Der Körper bebte in Fieber, ich konnte nicht ruhig liegen und zum Sitzen fehlten die Kräfte. Alles fällt hin, nur das Bewußtsein bleibt lebendig; wenn alles andere schon Moder ist, bleibt vielleicht das Bewußtsein noch und schreit: Nichtsnutz, du! Bist Leib und Seele gewesen und hast vergessen Mensch zu sein. Herr Gott im lichten Himmelreich, laß' mich noch einmal leben! Ich will anders sein.

Hier schreibe ich und schreibe, und weiß doch nicht, ob es so war. Was weiß ich denn aus jener Zeit des Begrabenseins? Ich finde nur Fragmente von Eindrücken, die der Wahnsinn zerrissen hat. Ich könnte es kaum glauben, daß ich wirklich einmal vierundsechzig Stunden lang in einem Berge eingeschlossen gewesen bin, wenn nicht die ganze Bevölkerung der Kaal Zeugnis davon ablegte. Es fängt erst wieder an, als ich mich am rauschenden Bache auf einer Tragbahre fand, über mir den hellen Himmel, um mich hunderte von jubelnden Menschen. Mit Labemitteln hatten sie mich umdrängt. Nun kniete der alte Strehlhöfinger neben mir, küßte mir lachend und schluchzend die Hände und rief fort und fort: »Weil wir Euch nur wieder haben! Weil wir Euch nur glücklich wieder haben, lieber gnädiger Herr!«

Zwei Tage und zwei Nächte hatte alles, was Werkzeug führen konnte, gearbeitet, um die Riesenlawine, die vom Berge niedergegangen war und den Stolleneingang verschüttet hatte, zu durchbrechen.

Das habe ich aufschreiben müssen, wie man eine Rechenschaft ablegt vor Gott und den Menschen. Seit jener Zeit ist es anders geworden mit mir und mit den Leuten in der Kaal. Über die sieben Dörfer, so wird gesprochen, sei eine glücklichere Zeit gekommen. Es ist ihnen geholfen worden. Sie haben alles wieder gut aufgebaut, haben den Fluß reguliert, haben eine landwirtschaftliche Schule, betreiben die Wirtschaft, wie es in diesen Bergen am zweckmäßigsten ist. Sind zufrieden. Die Jagd macht keinen Schaden mehr, sie ist aufgelassen. Am Bache steht eine Pochmühle, um das Gestein der Kegelbrüche zu zerkleinern; sie haben nicht viel zu tun und weisen mehr wissenschaftlichen als praktischen Erfolg auf.

Ich habe erst in meinem einundfünfzigsten Lebensjahre die Erfahrung gemacht, daß man echtes treues Gold nicht im Mineralreich suchen soll, vielmehr in den Herzen der Menschen.

 


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