Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Ein alter Luderskerl.

Auf einer meiner Reisen durch Deutschland habe ich eine Begegnung erlebt, die wert ist, aufgemerkt zu werden. Ob man alles ohne Vorbehalt drucken lassen kann, das war zu überlegen.

Es war in einer kleineren Stadt, nach der Vorlesung. Die üblichen Vorstellungen mit den üblichen Artigkeiten und auch redlich gemeinten Begrüßungen waren vorüber. Schon vorher hatte ich einen kleinen alten Herrn bemerkt mit dichtem weißen Haar und einem Gesicht, in welchem greisenhafte Züge mit jugendlichen auffallend ineinandergeprägt waren. Er stand an der Tür und schien warten zu wollen, bis der Leuteandrang vorüber wäre. Als dann die Letzten – da ja doch das Gespräch bei solchen flüchtigen Begegnungen keinerlei Vertiefungen erfahren kann, sondern auf der flachen Höhe der Phrase bleibt – sich zögernd und unbefriedigt entfernt hatten, trat der alte Herr vor. Es war zuerst nichts Besonderes, er könne es nicht unterlassen, mir die Hand zu drücken, zu danken usw. Mit ziemlich lebhafter Geberde zog ich meinen Überrock an und nahm den Hut, um in mein Hotel zu fahren. Aber er stand ganz ruhig und sagte: »Sie haben in Ihren Gestalten sich uns, Ihrem Publikum, ganz hingegeben. Wir wissen, wie Sie sind und durch Sie, wie wir sind. In Ihrer Kunst opfern Sie sich persönlich auf. Wie sollen wir uns Ihnen geben? Und möchten es doch tun.«

Das klang schon eigentümlich und ich sagte: »Ich habe manches gegeben. Aber wer kann wissen, ob auch das Wesentlichste?«

»Das werden Sie wohl selbst nicht wissen können,« entgegnete der Mann. »Es ist so vieles in uns, was wir selbst nicht überschauen, obschon es uns bestimmt. Gerade die inneren Mächte, die uns am meisten beeinflussen, können wir am wenigsten nennen. Also sind alle Bekenntnisse, ob in Kunst oder Person, so wahr sie gemeint sein mögen, ganz unzulänglich, wir täuschen leicht andere und uns selbst damit. Und doch –?« Er stockte und blickte mich mit seinem lebhaft leuchtenden Auge an. Seine scharfgeschnittenen Lippen bewegten sich, als übten sie sich in einer Form, in der das Folgende zu sagen wäre: »Und doch drängt es uns zur Mitteilung. Nicht jeder bedarf sie und ich preise den Mann, der mit sich allein fertig wird. Ich kann es nicht mehr. Der Feder bin ich entwöhnt, man würde es nicht lesen. Beichtväter haben wir Protestanten auch nicht. Und Freunde findet man so wenige, die uns ihr Vertrauen schenken. Und wer sich mir nicht ganz gibt, dem kann auch ich mich nicht geben. Sie haben sich mir gegeben, so weit – möchte ich sagen – als Sie selbst über sich verfügen. Ich glaube, Sie kennen den Menschen so weit, daß Sie alles begreifen und somit auch verzeihen können. Sie wären mein Mann. Und deshalb, geehrter Herr, hätte ich eine sehr große Bitte.«

Ei, dachte ich, wie der abgeschwenkt hat! Am Ende hat er den sattsam bekannten Dolch im Gewände. Ein Drama. Oder gar lyrische Gedichte, und will sie mir beibringen. Das Mißtrauen wurde beschämt.

»Wie ich höre,« fuhr er fort, »sind Sie morgen noch in unserer Stadt. Tun Sie bei dieser Gelegenheit ein gutes Werk an einem Ihrer Mitmenschen. Ich habe ein Anliegen, ein Geheimnis, eine Sünde, oder wie man's nennen mag. Ich trage sie seit Jahren mit mir herum und muß sie endlich wem mitteilen. Sie sind gekommen und gehen wieder fort, wir werden uns auch kaum je wieder sehen. Und doch sind Sie mir so nahe gekommen, ich weiß nicht wie, kaum durch die Kunst allein. Weiß nicht, wie es kommt, daß ich zu Ihnen das Vertrauen habe und Sie von Herzen bitten möchte, mein Freund, mein Beichtvater zu sein. Schenken Sie mir morgen eine Stunde.«

So hatte er gesprochen und wartete nun auf Antwort. In solcher Weise war mir noch kein Mensch nahegetreten. Ich war gefesselt, nicht etwa von Neugierde, sondern von der wunderlich sensitiven Art, mit der dieser weißhaarige Mann vor mir, dem weit jüngeren, stand.

»Von acht Uhr morgens an bis in den späten Abend,« so antwortete ich, »währt morgen das vom Komitee entworfene Programm. Die Besuche wären noch nicht das Schlimmste dabei. Ein Vormittagsausflug und ein Festessen. Das Joch ist süß – aber die Bürde ist schwer. So bleiben uns nur die Morgenstunden. Wollen Sie etwa um sechs Uhr zu mir ins Hotel kommen!«

»Pflegen Sie nicht einen Morgenspaziergang zu machen?« fragte er entgegen. »Die Au am Flusse entlang ist sehr schön. Da wären wir ganz unbehelligt.«

»Also gut. Holen Sie mich um sechs Uhr zum Spaziergang ab.«

Dann gab er mir seine Visitenkarte und empfahl sich kurz. – Von Beruf war der Mann Mathematiklehrer an einer Mittelschule der Stadt. Was konnte der mir zu sagen haben? Es hat mir ja mancher schon sein Leben angeboten, um darüber einen Roman zu schreiben. Nun kann ich aber fremde Leben für solchen Zweck nicht brauchen. Alles, was ich schaffe, muß durch mein eigenes Leben gehen. Zudem sah mir der Mann nicht danach aus, als ob er eitel wäre und mit dem, was er zu geben hatte, sich hervortun wollte. Es ging doch die halbe Nacht dran in dem Denken und Sinnen, welch ein Anliegen der alte Herr mir am nächsten Morgen vorzutragen haben würde. Erraten hätte ich es in hundert Jahren nicht.

Noch vor sechs Uhr früh, als ich aus dem Frühstücksalon trat, stand er an der Türe. Sein Anzug schien mir noch feierlicher als gestern. Zylinder, weiße Krawatte und weiße Handschuhe, die er in der linken Hand hielt.

»Also, Herr Professor, nun führen Sie mich, wohin Sie wollen. Ich werde Ihnen folgen.«

Er blickte mich lange an, um dann ganz leise zu sagen: »Das wäre schade.« Erst später habe ich verstanden, wie das gemeint. Die Mauern der Stadt waren hell von der Morgensonne beschienen, die meisten Fenster geschlossen, die Straßen noch unbelebt. Wir kamen bald zum Wasser und zu den Bäumen. Schütter, aber unabsehbar dahin standen alte Eichen, zwischen denen ein leichter, feuchter Nebelhauch strich. Dem Wasser entlang ging ein schöner breiter Weg, an dem von Strecke zu Strecke Sitzbänke waren. Auf eine solche setzten wir uns und schauten hin über den stattlichen Fluß, der herkam von einer weiten Ebene, hinter der ein blasses Gebirge aufstand. Er glitt ganz still und ruhig daher.

»Er kommt aus jenen Bergen hervor,« sagte mein Begleiter. »Dort gibt es rauschende Bäche und stürmische Wasserfälle. Der Fluß hat eine bewegte Jugend und ein ruhiges Alter. Bei Leuten kann es auch umgekehrt sein.«

Das war die Einleitung und dann suchte er anzufangen. Aber es kam ihm nicht leicht an. Ich mußte noch sagen: »Wenn Sie mir etwas erzählen wollen, Herr Professor, es ist gewagt. Denken Sie, daß ich ein Schreibersmensch bin, der sich zum Beichtgeheimnisse nicht verpflichtet hält.«

»Wenn Sie es verbreiten, so wird das zwar wenig nützen, aber auch nicht schaden. Nur den Namen nennen Sie nicht. – Sehen Sie, es ist sehr merkwürdig, lieber Herr, wie wir jetzt hier beisammen sitzen und ich will Ihnen etwas heben, was sich eigentlich doch nicht heben läßt. Gestern abends glaubte ich, es gar reinlich hervorschälen zu können. Aber es ist doch alles zu sehr verwachsen. Ich habe mir jetzt oft gedacht: Der Mensch sollte ja nur darauf sehen, daß alle seine Eigenschaften und Neigungen sich gleichmäßig entwickeln. Sobald eine bestimmte Neigung gewaltsam zurückgedrängt wird, kann sie einmal ebenso gewaltsam hervorbrechen. Und anderseits, wenn eine Neigung besonders gepflegt wird, so kommt die Zeit, da sie uns beherrscht. Die unschuldigste Anlage – übermäßig bevorzugt – kann zum Laster, zum Verbrechen werden. Denken wir an – kurz gesagt – an die Liebe.«

»Ja, ja, Professor. Aber das sind alte Sachen, derentwegen man doch nicht um fünf Uhr aus dem Bette steigt.«

»Merken Sie mir denn wirklich nichts an? Man müßte es einem ja anmerken. – Kurz und gut, Herr!« rief er plötzlich aus, während er das Gesicht von mir abwendete, gegen den Fluß hin: »Ich bin ein alter Luderskerl!«

Das sonst schier gemütlich dreinschauende Herrchen war in diesem Augenblicke völlig anders, sein Blick war gleichsam flüchtig, sein Gesicht verzerrt, als ob er einen Schmerz empfände. Endlich kam er doch ins Erzählen.

»In meiner Jugend sah es aus, als würde ich heil entkommen. Als Mittelschüler hatte ich einen Freund, der um einige Jahre älter war als ich. Wir bewohnten zusammen ein Zimmer und lasen mitsammen die Klassiker. Er war ein bildschöner schwärmerischer Jüngling. Wenn er des Abends in seinem Bette laut Liebesgedichte oder Liebesromane las, da wurde seine Stimme unsicher und erstickte fast. Dann hielt er Nachtwanderungen, die mich so schlaftrunken fanden, daß ich nicht schwören könnte, ob sie wirklich gewesen sind. Dann kam eine Zeit, daß er sich ein besonderes Zimmer nahm und seine eigenen Wege ging, ich wußte nicht welche und kümmerte mich wenig darum. Ich stellte damals meinen Ehrgeiz darauf, zwei Studienjahrgänge in einem Jahre zu machen. Ein sogenannter braver Junge. Eines Tages besuchte mich der Freund, um, wie ich glaube, ein paar Bände Shakespeare zurückzubringen, die er von mir entlehnt hatte. Dann stand er noch eine Weile schweigend herum, was sonst nicht seine Gewohnheit war. Und sprach plötzlich: daß ich dir mal was sage, Louis! Er sagte aber nichts weiter, sondern ging langsam zur Türe hinaus. Als er draußen am Fenster vorüberkam, denn es war ebener Erde, klopfte er an die Scheibe. Als ich aufgetan hatte, sagte er: Hüte dich vor der Liebe! Und dann ist er die Straße dahingegangen. Am nächsten Tage hat er sich erschossen. Ich weiß nichts weiter, wir haben nichts rechtes erfahren können. Ich habe es nur erzählt, weil ich von derselben Zeit an über meinem Schreibtische den Spruch geschrieben hielt: Hüte dich vor der Liebe! Übrigens war ich in jenen Jahren durchaus nicht geplagt von dieser Sache. Das Weibervolk bekümmerte mich wenig, mein Kopf hatte anderes vor. Wenn der Tag mit den Studien, mit den Reitpartien und Fischfängen, die ich leidenschaftlich pflegte, vorüber war, fiel mein Blick manchmal noch auf den Spruch: Hüte dich vor der Liebe! dann legte ich mich hin und schlief ein. Da war es einmal, daß mein Geographie-Professor, ein schlanker, gütiger und ernsthafter Herr, aus irgendeiner Ursache in mein Zimmer kam und den Spruch sah. Er schüttelte den Kopf und sagte: Diesen Spruch sollten Sie wegtun, Louis. Er erinnert Sie zu sehr an das, wovor er Sie warnen will. An Liebe soll man denken so wenig, als möglich. So habe ich den Spruch ausgelöscht. Die Sache interessierte mich überhaupt wenig. Was die Leute da für ein Aufhebens von der Liebe machen – ich verstand es nicht recht. Ich lebte meinen Studien, meinen körperlichen Übungen. Ich war der Erste in meiner Klasse und nach vollendeten Schuljahren erhielt ich bald eine schöne Lehrstelle in einem Gymnasium. Später kam ich in diese Stadt und habe eine Weile die Leitung der Realschule geführt. Das nährte gar angenehm meinen Ehrgeiz, um so mehr, als einige mathematische Werke, die ich schrieb, in den Gelehrtenkreisen Aufsehen erregten. Nebenbei beschäftigte ich mich mit Kunst, malte Landschaftsbilder und versuchte mich sogar in der Dichtung. Sorglos und froh war mein Leben, so recht harmonisch ausgefüllt mit Nützlichem und Schönem. So frisch und rege war mein Wesen, daß ich mir an geistiger Arbeit gar nicht genug tun konnte; schwere Aufgaben löste ich ohne Schwierigkeit; jetzt darf ich das ja sagen. In späteren Jahren kam eine große Naturfreude in mich, Wanderungen über Berg und Tal, Reisen zur Ferienzeit in die Alpen, nach Italien, auf dem Mittelländischen Meere machten mich zu einem größeren Menschen, dessen Ebenmaß und Kraft ich immer mehr empfand. Wenn je ein Mensch glücklich genannt werden kann, so war es ich. Und weil ich dementsprechend leicht heiter und freundlich sein konnte, so bin ich überall gerne gesehen worden. Meine Schüler liebten mich und in Gesellschaft unterhielt ich mich ebenso gerne mit trefflichen Männern, als mit anmutigen Frauen. Nachher habe ich erfahren, wie manches heiratslustige Dämchen, wie manche schöne Frau ihre Schlingen nach mir ausgeworfen hätten; ich habe nicht viel darauf geachtet, war stolz auf meine Freiheit.«

Nun schwieg er, nickte mit dem Kopf und lachte fröhlich. Dann stand er von der Bank auf und sagte: »Wir könnten ja einmal weitergehen.«

Wir schritten den leise wogenden Fluß entlang. Er streifte die weißen Handschuhe an die Finger. »Es kommt bald der feierliche Moment,« sagte er. »Ich gestehe nur, daß mein fünfzigster Geburtstag mich noch in diesem ruhigen und schönen Glücke fand. Es mußte aber erst einmal eine Blamage kommen. Um dieselbe Zeit schrieb ich für eine bekannte Monatsschrift einen Essay des Inhalts, daß nicht jeder Mann des Weibes bedürfe, daß es für den geistig Schaffenden, der persönlicher Vollkommenheit zustrebe, geraten sei, sich nicht zu vermählen. In meinem Alter glaubte ich mich als Beispiel anführen zu dürfen.« Plötzlich riß er sich die Handschuhe von den Fingern, knüllte sie zusammen und warf sie in weitem Bogen ins Wasser. – »Kurze Zeit später war ich der tollste, dümmste Liebeshahn von Europa.«

»Jener Aufsatz,« so fuhr er fort, sich zu entwickeln, »hatte mir nämlich statt Ehre Widerstreit und Spott eingetragen. Man sprach von einer geschlechtslosen Moral, die das Lebenswerteste dieser Welt verlästere. Da fiel es mir einmal auf, daß dieses Lebenswerteste eigentlich überall und immer so lebhaft anerkannt wurde. Daß die größten Leidenschaften gerade um dieses Beste wüteten. War es denn auch danach? Und ich fragte mich selbst, ob ich denn am Ende wirklich das Beste versäumt hätte? Und als ob da neben untergeordneten Lebensaufgaben gerade die höchste unerfüllt geblieben wäre. Und als ob solcherart die immer mit Sehnsucht erhoffte Unsterblichkeit unmöglich geworden sei. Am empfindlichsten traf den alten Knaben der Vorwurf der geschlechtslosen Moral und gleichzeitig begann es mir klar zu werden, daß immer noch die besten Bedingungen vorhanden wären, Versäumtes so weit nachzuholen, um die Ehre zu retten. Schon eine Weile hatte mir eine Hauptmannswitwe den kleinen Haushalt geführt, nun sah ich sie einmal daraufhin an, ob sie hübsch sei. Zum Donner, das war sie eigentlich, trotz ihrer vierzig Jahre. Und dann, eines Abends, habe ich sie gefragt, ob ihr noch nie was eingefallen sei? »O, sehr oft!« lachte sie. Da bekam ich Angst und hub an mich vorzusehen wie einer, der sich nicht recht auf sich verlassen kann. Doch der Vorwitz riß mich immer weiter. Ein paar Wochen später erwog ich theoretisch schon den Unterschied, der wohl bestehen muß zwischen einer vierzigjährigen Witwe und einem jungen Weibe, und da das Exempel einmal aufgestellt war, so mußte es auch gelöst werden. Dann konnte ich ja wieder zurückkehren in meine einsame Studierstube. Beim Satan, jetzt hatte ich auf einmal gemerkt, daß die Studierstube eine Zelle ist, daß die Umherlaufereien an den Wässern, in den Wäldern langweilig sind. Andererseits schien es mir, daß wie alles, so auch Liebesglück geübt werden müsse und einer Steigerung fähig sei. Ich horchte unauffällig aus nach Andeutungen und Gesprächen, die mich früher angewidert hatten, ich las Liebesgedichte und derlei Bücher, lernte da zwischen den Zeilen und Gedankenstrichen zu lesen und fand auf einmal alles reizend. Auch auf die Körperpflege hieß es nun bedacht zu sein; wenn ich sonst den alternden Jahren Rechnung getragen, nun gab ich mich dem Schneider und dem Friseur völlig frei, und sie machten etwas so Leidliches aus meiner Wenigkeit, daß ich mir im Spiegel mit großer Sympathie entgegenlachte. Der Friseur pflegte meinen Haarboden und behauptete, daß der Bart um rund fünfundzwanzig Jahre jünger sein müsse als das Haupthaar, was schließlich auch stimmen dürfte. Mit süßem Schauer wurde es wahr, daß die Liebe jung mache. Das Überraschendste war mir zuerst die Leichtigkeit der Siege; selbst schwerere Aufgaben bei ehrenwerten Frauen und sittigen Mädchen gelangen auf das verblüffendste. In Gesellschaft wie auf der Straße, in der Kirche wie im Konzert sah ich nur nach Liebe aus und wurde nicht müde, glücklich zu sein. Zur großen Verwunderung der Stadt zeigte ich mich mit meiner Hauptmannswitwe, zu ihrem Entsetzen gelegentlich auch einmal schäkernd mit einem blühenden Mädchen. Man konnte nicht einmal vom Johannistriebe witzeln, weil ein dem notwendig vorhergegangener nicht zu beweisen war. Freilich merkte ich glühend, daß es längst nicht mehr ordentliche Beweggründe waren, sondern daß es mir angetan sein mußte. Auch wenn ich auf der Jagd war oder in den Bergen, immer und überall fiel mir die Liebe ein. Ich konnte keinen Menschen ansehen, sei es Weib oder Mann, ohne an Liebe zu denken. Wie ich in den Blättern sonst nur die Rubriken der Geisteskultur beachtet hatte, so spähte ich nun nach gewissen Inseraten. An pornetischer Kunst und Literatur ergötzte ich mich heimlich, während in der Öffentlichkeit natürlich geheuchelt werden mußte. In den Nächten floh mich der Schlaf, ein heißes Gift fluidete durch die Glieder und machte alle Behaglichkeit unmöglich. Erst dachte ich in der Tat, es sei eine Hexerei mit im Spiele und es würde vorübergehen. Aber, mein Herr! Jetzt währt das schon Jahre! Meine Freude an der Kunst ist lau geworden, mein Vergnügen an Sport und Reisen ist matt geworden, meine wissenschaftlichen Arbeiten gehen nicht vorwärts, ich bin kein eifriger Lehrer mehr und die Leitung der Anstalt entglitt meinen Händen. Immer und immer muß ich mit geringen Unterbrechungen an die Weiber, an diese Weiber denken und es scheint, das will sich noch immer steigern, jetzt am Beginne der Sechziger. Was ist denn das? Eine Luderei. Hart an der Schwelle des Irrenhauses! – Junge Leute lieben nicht so. Nein, so lieben sie nicht. Wohl wenige werden es erfahren, wie das ist, wenn's erst in späten Tagen losbricht. Ich weiß mich in der Gewalt eines Dämons und möchte mich retten. Möchte um Hilfe rufen! Gestern abends faßte ich den Entschluß, Ihnen, gerade Ihnen, dem fremden, aber mir langst Vertrauten, meine Not zu gestehen, daß von allen Menschen doch einer sei, der es wisse, wie mir ist. Aber in dieser Nacht hätte es mich beinahe wieder reuen mögen. Doch ich will nicht untergehen in diesem Elende. Mensch will ich wieder werden, meine Seele will ich wieder haben. Sagen Sie, was soll ich tun?«

Es ist wohl kein Wunder, daß ich diesem Ausbruche des alternden Mannes, der ihn unheimlich machte, mit aller Spannung zugehört hatte. Und nun meine Antwort: »Aber, lieber Professor, das ist doch leicht gesagt. Heiraten müssen Sie!«

»O Herr, das habe ich ja getan!« rief er aus. »Seit fünf Jahren schon bin ich mit der Hauptmannswitwe verheiratet. Das ist es ja, daß dieses Feuer nicht zu löschen ist! Daß mir der Satan in allen Arten zusetzt. Ach, vorwitzig habe ich leicht den Amor wecken wollen, und jetzt umgaukeln mich die Faune und ziehen mich hinab. – Sie ist mir nicht genug!«

»Eine Krankheit!« sagte ich.

»Knabe, das weiß ich. Will auch keinen Namen dafür. Mir ist nur, daß ich's einem Menschen habe sagen können. In diesem Augenblicke steht mein Vorsatz wieder fest: Umkehr! Aber ich glaube nicht mehr daran, dieser Vorsatz ist schon hundertmal gemacht und gebrochen worden. Ich glaube, ich bin verloren. Es wird wohl das klügste sein, jenem Jugendfreunde zu folgen. Er war doch gewiß unschuldiger als ich. Aber ich bin ein bißchen feige. – Wenn mich jemand da von rücklings ins Wasser stoßen wollte. Es ist nicht um das allein, daß ich gemein geworden bin, ich habe unglücklich gemacht. Es geht ein blasses Mädel um in der Stadt, dessen Blick mich verdammt macht. Es gehen andere Leute um. Ich bin ein Scheusal!«

Jetzt begann er mir wirklich unheimlich zu werden. Weit war mein Verstehen mit ihm gegangen, nun wollte es zurückbleiben. Eigentlich verkommen sah er ja nicht aus, das war kein geknickter Wüstling, das war noch lohes Feuer in den Augen. Man konnte doch an aufgespeicherte Jugendkraft denken, nur die Willensschwäche wollte sich dazu nicht reimen. Und wohin denn, wenn die wilde Bestie keinen Bändiger hat!

Als die Stunde kam, die uns – wohl fürs Leben – trennen mußte, wußten wir beide nicht, was zu sagen war. Das von ihm vielleicht erwartete Pathos war ausgeblieben; seinen jüngeren Beichtvater, dem er wohl die Gewalt eines hochgemuten Wortes zugemutet hatte, sah er gedrückt und stumm. – Mit schlecht gesetzten Worten entschuldigte er sich; als ich ihm die Hand gab, legte er nur die Fingerspitzen hinein, dann ging er wie flüchtig davon.

Ich konnte mich zum mit anderen verabredeten Stelldichein um acht Uhr nicht einfinden. Ging lange planlos in der weiten Au umher, das Herz voll Unbehagen.

Hatte sich denn gar kein gutes Wort finden lassen? Ein fremder Mensch kommt im Vertrauen und schenkt dir das Intimste, was er hat, seine Sünde. Und du bist kalt wie ein Stein, und doch empfindest du sein Elend mit. Dann die Frage ins Leere hinaus: Wenn ich mit einem solchen Bekenntnisse zu ihm gekommen wäre, was hätte er antworten können? Ebenfalls nichts. Das ist eine stumme Schose. Die muß jeder mit sich allein ins Reine bringen. Aber wissen möchte ich es erst, ob dieses Naturphänomen unentwegt seinen Lauf in den Abgrund nimmt. Ist es eine notwendige Folge seiner Entwicklung? Sollte ein fremdartiger Zwang so spät in sein Leben eingegriffen haben? Schließlich dachte ich mir: Es ist der alte Adam. Wir kennen ihn alle. Aber für die Öffentlichkeit ist das nichts.

Und doch habe ich es hier vor aller Welt erzählt. Es hat sich nämlich noch etwas zugetragen, und das ändert die Sache. Jetzt muß sie unter die Menschen. Von meinem Mathematikprofessor hatte ich einstweilen nichts mehr gehört. Da war es einige Jahre später, daß aus jener Stadt in Teutschland ein Pastor nach Grah kam und mich in meinem Hause besuchte. Bei dem erkundigte ich mich nach dem Bekannten in seinem Berufsorte, besonders nach dem Professor.

»Der ist schon lange tot,« war die Antwort. »Das ist ein wunderbarer Mensch gewesen. Er ist verbrannt mitsamt seiner Frau.«

»Verbrannt? Mitsamt seiner Frau? Was soll das heißen?«

Und hat mir nun der Pastor die traurige, nein, die herrliche Geschichte erzählt.

In jener Stadt war eine Epidemie der schwarzen Pocken gewesen. Und eines Tages, als der Professor von seiner Schule nach Hause kommt, findet er seine Frau nicht mehr. Von der Seuche ergriffen, war sie rasch auf die Isolieranstalt gebracht worden. Der Mann überlegte es sich nicht einen Augenblick, folgte ihr in das Seuchenlazarett und pflegte sie Tag und Nacht, inmitten der Schwerkranken und Sterbenden. Sie genas, hatte aber das Augenlicht eingebüßt. Nun gab der Professor seine Stelle auf, seine literarischen Arbeiten, alle seine Passionen, um ganz der armen Frau leben zu können. Er besorgte persönlich den Haushalt, die Küche, die Kleider; unterhielt sie mit Lesen und Erzählen. Ihr das schwere Geschick erträglich zu machen, war sein einziges Bestreben. Er wich nicht von ihrer Seite. Er führte sie ins Freie, in die Kirche, ins Konzert und ein junger Bräutigam – bemerkte mein Pastor – könne nicht zärtlicher mit seiner Braut sein, als es der alte Professor mit seinem blinden Weibe war. Nachbarn wollten auch bemerkt haben, daß er Notwendiges sich selbst abkarge, um ihr besonders Musikgenüsse zu verschaffen. Anfangs hatten vorwitzige Leute gespottet, das ging allmählich in stille Bewunderung über. Man suchte ihm heimlich Vorteile zuzuwenden, so daß zum Beispiel durch vertrauliche Anzahlungen seiner alten Kollegen und Schüler scheinbar die Pension erhöht wurde. Aber das dauerte nun nicht mehr lange. Dann kam das Ende. Eines Tages, während der Alte in das Kasseamt ging, um seine vierteljährige Pension zu holen, brach in dem Hause seiner Wohnung Feuer aus. Es griff rasch um sich, die blinde Frau konnte sich nicht retten, sie stand, während über ihrem Kopfe schon der Schwalch herausschlug, am Fenster und rief nach ihrem Manne. Dieser eilte durch Rauch und Brand die Treppen hinauf und – ist nicht mehr zurückgekehrt.«

Das war die letzte Kunde.

 


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