Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Hans Johanns Hauptsache.

Wenn ich sage, es war ein einzig guter, rührender Mensch, so legt jeder das Buch hin und läuft davon. So sage ich lieber, er war ein Taugenichts.

Und das war er auch.

In den Schulen, wo er stets vorgeschriebene Marschroute hatte, da ging es noch an. Aber als er selbst der leitende Teil ward, als Lehrer in der Dorfschule, da ging es nicht mehr an. Die unterschiedlichen Kinder machten ihm viel zu große Sorgen, als daß er sich ihrem Unterrichte widmen konnte. Ob sie in der Fibel lesen konnten oder auf der Schiefertafel die Ziffern zusammen zählen und in einer sehr verläßlichen Ordnung hinschreiben, das war Nebensache. Hauptsache war die Gesundheit. Und so kümmerte er sich, ob das kleine Volk auch warme Jöpplein hätte und Schuhe an den Füßen, ob die Kinder wohl gewaschen und gekämmt wären – und wo es mangelte, da griff er flink zu und trachtete, beim Bäcker, beim Müller, beim Fleischer, als den Großen des Dorfes, für die armen Wald- und Gebirgskinder altes Gewand zu bekommen; er nahm auch Eßwaren und ließ durchblicken, daß solche Wohltaten an ihren eignen Kindern würden vergolten werden. Die großmütigen Spender verstanden das so, daß – wie die Kinder der Armen Not an Hemden und Strümpfen hätten – die Kinder der Reichen zumeist Not an guten Schulnoten haben, und daß der Herr Lehrer dann wohl den richtigen Ausgleich treffen würde. Hans Johann sah auch wirklich nicht ein, weshalb er die Spenden für mittellose Kinder nicht mit hübschen Fleißzetteln und ausgiebigen Fortgangsklassen der reichen Bürgerskinder schlichten sollte. Hauptsache war die Gesundheit. Und so setzte er sich auch gerne zu den Kindern auf eine Bank und gab ihnen Verhaltungsmaßregeln, wie sie gesund bleiben, ihren Körper stärken und zur Arbeit tüchtig werden könnten. Solches Bestreben war nicht fruchtlos und nach einem Jahre schon waren alle Kinder reinlich gehalten, soweit ordentlich gekleidet und von frischerem Aussehen. Der Bezirksschulinspektor aber konnte bei der Schulschlußprüfung nichts als den Kopf schütteln und die Hände ringen, und als die Kinder nach überstandener Plage lustig davondrollten, stellte er sich vor den Lehrer hin, rang wieder die Hände und rief: »Aber um Gottes willen! Herr Johann!«

Sonst sagte er nichts. War auch nicht nötig.

»Seh's eh ein,« sprach der Lehrer ganz gemütsruhig, »daß ich nicht recht tauge zu einem Lehrer.«

»Wenn Sie irgendwo eine Stelle als Kindsmagd bekommen können, greifen Sie sofort zu.« Mit diesem wohlwollenden Rate ging der Bezirksschulinspektor seines Weges.

Und der Hans Johann des seinen. Denn er war erledigt. Aber nicht auf lange. In demselben Orte hatte er unschwer die Briefträgerstelle bekommen. Er hatte täglich über Berg und Tal zu gehen und den zerstreuten Vierteln die Post zu vermitteln. Das tat er auf das gewissenhafteste, und wenn ihm ein Bauer eine Post auftrug, für ihn im Dorf Einkäufe zu besorgen, oder eine Bäuerin irgend was Wichtiges zur Nachbarin zu befördern hatte, so tat er's bereitwillig, vergaß aber dabei manchmal, einen Brief abzugeben. Es war zuwider, aber Besonderes daran konnte Johann nun nicht finden. Was pflegen sich die Leute denn zu schreiben? Daß sie, Gott sei Dank, soweit gesund sind, daß der oder die geheiratet hat oder gestorben ist, daß es sonst nichts Neues gibt und daß sie schön grüßen lassen. Ob die Bauern das wissen oder nicht, Hauptsache ist, daß man ihnen mitunter eine Gefälligkeit erweisen kann. Das ging ein Jährchen so herum. Dann kam die Geschichte mit dem Geldbrief. An den Obergamshofer in Spittelberg hatte Johann einen Geldbrief zu bestellen. Aber der Weg dahin ist ziemlich weit, unterwegs hatte er ein mühseliges Bettelweib getroffen. Dem war die Fußkrücke entzweigegangen und so konnte es nicht recht vorwärts. Johann ging ins Wegmacherhaus um Werkzeug und zimmerte der Alten eine neue Krücke. Denn es war just des Obergamshofers Weidknecht des Weges gekommen, dem konnte er den Geldbrief mitgeben. »Ja richtig, Mathes,« sagte er noch, »das Blattel da mußt unterschreiben. Nicht können tust schreiben? Nachher mach halt drei Kreuzeln. Bin froh, daß du mir den Weg ersparst. Hauptsach' ist, daß das Mutterl da wieder auf die Füße kommt. Bleib schön gesund, Mathes.«

Einige Wochen später kam's zutage, daß der Obergamshofer keinen Geldbrief erhalten hatte, daß ihm aber sein Weidknecht durchgebrannt war. Dieses Ereignis kostete dem Briefträger allerhand und auch den Dienst.

Jetzt hatte er Zeit, sich den Hauptsachen zu widmen, und merkwürdig – jetzt verlangte niemand danach. Ja, es kam allmählich ungefähr so heraus, als ob für den Hans Johann nun die Hauptsache wäre, einstweilen nicht zu verhungern. Er bewarb sich also wieder um einen Dienst. Das Steueramt im nächsten Bezirksorte suchte einen Amtsboten. Aber den Johann nahm man nicht an, aus Besorgnis, er würde aus Erbarmen mit den Parteien die Steueraufträge unterschlagen. Das Bezirksgericht hatte für einen Gerichtsarrest die Profosenstelle ausgeschrieben; der Bewerber Hans Johann wurde rundweg abgelehnt; der hätte keinem Arrestanten die Türe verschlossen nach dem Grundsatz, Hauptsache bei den Menschen sei die Freiheit. Soweit war unser Johann schon in Verruf gekommen. Dann verscholl er auf einige Zeit, um später in einem Haushaltungsbureau aufzutauchen.

Hier war er fleißig und akkurat und füllte seine Stelle völlig aus. Aber es war das Haushaltungsbureau eines Siechenhauses. Seine Erholungsstunden brachte er bei den Siechenden und Krüppeln zu, um ihnen die Zeit zu vertreiben und sie aufzumuntern. Er ließ sich von ihnen ihre Anliegen erzählen; sie, auf die sonst niemand mehr hören wollte, an denen jeder gleichgültig vorüberging, waren seiner Teilnahme so froh. Er besorgte den Ofen, wenn sie fröstelte, holte ihnen ein frisches Glas Wasser, wenn sie dürstete, schrieb ihnen Briefe an Angehörige. Dann blieb er noch länger und las ihnen erbauliche oder lustige Geschichten vor oder trieb Schwänke und Späße in eigner Person. So daß die Armen getröstet und munter wurden. Wenn er darob bisweilen seinen Bureaudienst versäumte, so dachte er, ob die Reisballen, die Strohsäcke und Bettdecken und Medizinen aufgeschrieben werden oder nicht, wenn sie nur da sind. Hauptsache sind die armen Leutle und daß sie immer einmal ein bissel Zerstreuung haben.

Da war in der Anstalt ein alter Holzhändler, so vergichtet und mühselig, daß er in der dunkeln Stube bleiben mußte, wenn draußen die warme Sonne schien, weil niemand war, der ihn ins Freie führte. Als nun der Schreiber Johann erschien, der tat es gerne. Er blieb auch sitzen unter dem Kastanienbaum neben dem alten Manne und hörte geduldig seinen Klagen zu. Und eines Abends, als die übrigen Spazierhumpler und Sitzer sich verzogen hatten, weil es kühl geworden, und auch Johann seinen Schützling ins Haus führen wollte, blieb der Alte sitzen, langte mit der dürren, fiebernden Hand hinter seine Brustjacke und zog ein verknülltes, vergriffenes Paket heraus.

»Herr Johann!« sagte er leise und hastig, »das gehört Ihnen. Es ist mein Geld, sie wissen nichts davon. Ich mag nit, daß es in den großen Sack kommt, da spürt kein Mensch was davon. Sie sind der Mensch, der's recht anwendet. Es gehört Ihnen. Da, da – nur geschwind einstecken!«

Johann nahm das Paket in die Hand. »Sie meinen, daß ich's Ihnen aufheben soll.«

»Ich brauch's nimmer. Will nur, daß wer was hat davon. Erspart ist's redlich. Aber dumm dürfen Sie nit sein und es ausplauschen. Tun's es gut einschieben.«

Es schien ihm nicht weh zu tun, dem Alten, wie er nun seinen Sparpfennig hingab, an dem er wohl viele Jahre lang gesammelt hatte und an dem sein Herz gehangen war. Aber angelegentlich verfolgte sein Auge den Vorgang, wie Johann das Paket in seine Brusttasche steckte. »Schön fleißig zuknöpfeln!« murmelte der Alte und knöpfte mit krampfigen Fingern über Johanns Tasche den Knopf ein. Bald hernach wankte er am Arm des Schreibers ins Haus.

An demselben Abend war's, daß der Direktor der Anstalt dem Hans Johann eröffnete, daß er entlassen sei. Grund gab er keinen an, war auch überflüssig. Johann wußte recht gut, daß er nicht aufgenommen worden, um die Pfleglinge zu unterhalten, sondern um die Rechnungen und Wirtschaftskorrespondenzen zu besorgen. Da er letzteres vernachlässigt hatte, so fand er seine Abdankung völlig in Ordnung.

Stärker überrascht war er nachher auf seinem Zimmerchen, und zwar von der Menge Geldes, die er im Paket fand. Dafür kann man ja ein Schloß kaufen und den alten Holzhändler in der Kalesche hineinführen! Und dann kann der Hans Johann sein Kammerdiener werden – so ist allen geholfen.

An einem der nächsten Tage, als er mit solch neuem Lebenslaufe beginnen will, ist der alte Gichtkrüppel richtig schon seit frühmorgens tot. Der Johann steht wie zerschlagen da. »Was tu ich jetzt!« Auf die Leiche verwendete er nicht viel, denn davon hat niemand was und der Hans Johann ist ein praktischer Mann. Auch Almosen teilte er nur spärlich aus; Almosen sagte er, mache Bettler; den Leuten müsse man viel gründlicher helfen. Von seinen großen Mitteln ließ er noch nichts verlauten, nur daß er ein Weilchen später im vorderen Labachtal, dort wo es windgeschützt und sonnig ist, ein Grundstück kaufte und große Erdarbeiten beginnen ließ. Eine Anstalt für Gichtleidende und Unheilbare soll errichtet werden, wo die armen Kranken besonders gut gehalten werden müssen und wo er mitten unter ihnen leben will, um zu helfen, zu trösten, wie es nötig sein wird.

Während die weitläufigen Grundfesten zu diesem Gebäude gegraben und gebaut wurden und stellenweise schon ein Mauerwerk emporzustreben begann, half der Johann einem notigen Kleinhäusler das Heu und das reife Korn unter Dach bringen, denn das – meinte er – sei für den Bauern die Hauptsache. Inzwischen, zu den kleinen Ruhepausen, trachtete er im Heu oder auf den Garben dem Söhnlein des Kleinhäuslers das Abc beizubringen; derlei Buchstaben, sagte er, seien zwar nicht die Hauptsache, auch die Lesekunst nicht und auch die Gelehrtheit nicht, aber daß man mit solchen Wissenschaften in der lieben Welt weiterkomme und ein tüchtiger Mann werde, das sei die Hauptsache.

»Wann d' schon alleweil von der Hauptsach' redest, da hast eine!« Mit diesen Worten versetzte ihm der Kleinhäusler eine klatschende Ohrfeige. »Garbentragen heißt's jetzt und nit schulfuchsen!«

Der Johann griff sich an sein also besachtes Haupt und schwieg. Richtig ist's eh, dachte er, wenn sie im Winter was zu essen haben wollen, muß man jetzt ernten. Daß er für sich nur Undank erntete, das war er schon gewohnt und fand es auch für selbstverständlich. So viel Tiefblick hatte er wohl, um zu wissen, daß es am besten sei, einem, dem man was Gutes getan hat, nachher in weitem Bogen auszuweichen; denn die Begegnung mit dem Wohltäter, den sie nicht mehr brauchen, ist den Leuten zuwider und der ganze Mensch wird ihnen zuwider, sie wollen am liebsten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Außer sie brauchen ihn wieder plötzlich einmal, dann halten sie es auch für selbstverständlich, daß er ihnen neuerdings hilft, und wenn er das zufällig einmal nicht kann, so werden sie ihm weit feindseliger als einem anderen, der ihnen nie was Gutes getan. Das alles hatte Johann erfahren und er dachte weiter nicht darüber nach. Er war jedem dankbar, der sich von ihm etwas Gutes tun ließ und blieb ihm dankbar und betrachtete ihn als einen Gönner, dieser mochte oft noch so roh und erkennungslos sein. Nun, so hat den Johann auch die Ohrfeige nicht im mindesten beirrt, er half emsig Garben tragen, und abends, als der Häusler ihm freundlich eine gute Nacht zurief, schlich der Johann gerührt in seine Behausung und dankte Gott für die vielen guten Menschen, die er erschaffen hat.

Wenn Johann dann wieder hinausging, um die Fortschritte seines Baues zu beschauen und wie emsig hier brave Leute arbeiteten, um armen Kranken ein Heim zu schaffen, da freute ihn die ganze Welt. Jedoch aber! Als die dritte Auszahlung war und der Baumeister darauf drang, endlich doch auch einen Kostenüberschlag zu bestimmen, da kam für unsern Idealisten einmal eine wirkliche Überraschung. Er hatte gemeint, mit seinen zweieinhalbtausend Gulden, dem Nachlasse des alten Holzhändlers, ein stattliches Krankenhaus mit den hierzu erforderlichen Stiftungen bestreiten zu können, und nun zeigte es sich, daß das Geld schon verbraucht war, während das Mauerwerk kaum noch mannshoch aus der Erde hervorstand. Da haben wir's jetzt. Der Johann griff sich an den Kopf und rief: »Deuxl, Deuxl noch einmal, daß so was so saumäßig teuer mag sein!« Nun mußte der Bau eingestellt werden und mit dem Gelde, das zu so hohen Dingen bestimmt gewesen, war nichts geschaffen als ein durchwühlter Boden mit Schutt und Steinen. Hans Johann wollte sich jetzt den Kopf wegreißen. Nicht ob der Leute Gelächter und Spott, denn hierin hatten sie ja recht, und er lachte und spottete mit ihnen – ach wie bitter bitterlich ist es, sich selbst auslachen zu müssen. Daß er aber ein so grundschlechter Verwalter des Nachlasses gewesen und kein einziger Notleidender davon auch nur um eines Hellers Wert Erleichterung hatte, das wollte ihm nicht gestatten, einen solchen Kopf noch länger auf dem Rumpfe stehen zu lassen. Jetzt wußte er endlich auch, was bei ihm die Hauptsache war. Eine grenzenlose Dummheit.

Fast schien es, als hätte er nun auch allen Kredit verloren. Wenn er jemand auf der Straße das Bündel wollte tragen helfen, oder wenn er am geländerlosen Labachsteg schwindelige Leute hinüberführen wollte, da sagten sie dreist: »Schau du auf dich selber!« Und das war tatsächlich ein guter Rat, denn er begann leiblich zu verkommen und zu verderben. Auf der Baustelle, zwischen den Mauern und Sandhaufen baute er Erdäpfel an, aber diese wußten, daß der stolze Grund nicht ihnen vermeint gewesen, fühlten darob ihre Ehre verletzt und wollten nicht recht wachsen. Als sie im Spätherbste endlich doch so weit waren, daß sie den Spaten lohnten, dachten die Nachbarsleute: der Johann verschenkt sie ja doch! und stahlen ihm die Erdäpfel in der Mondnacht.

So ist die praktische Seite von Johanns Tätigkeit stets unpraktisch ausgefallen, während über die ideale das Fazit im Himmel gezogen wird, wir einstweilen also keinen Einblick haben. Zu jener Zeit aber behauptete ein tiefsinniger Mensch, der Hans Johann würde seinen Mitmenschen noch einmal tüchtig imponieren und er hätte das Zeug zu einer großen Heldentat. Man hörte aber nichts weiter, als daß Johann in einem Eisenwerke ein Weilchen Schichtenschreiber war. Später soll er in einem Meierhofe des Unterlandes als Taglöhner gesehen worden sein. Und dann hörte man gar nichts mehr von ihm. Er war verschollen und auf der verlassenen Baustelle, wo das große Krankenhaus hätte stehen sollen, wucherten Nesseln und Disteln.

Um so merkwürdiger ist es, daß viele Jahre später von Leuten, die darum wußten, bei Mostar in der Herzegowina auf einem Friedhof ein halb verwitterter Grabstein gefunden wurde, der die Inschrift trug: Hans Johann, Soldat aus dem steirischen Infanterieregimente 27. Und darunter einige Worte in türkischer Sprache. Die darauf angestellten Forschungen ergaben folgendes: Hans Johann soll unter außergewöhnlichen Umständen für einen jungen Rekruten, der sehr an Heimweh litt, eingestanden sein, sei aber ein spottschlechter Soldat gewesen. Bei dem Einmarsche der Österreicher in die Herzegowina habe sich auf einem Bergpasse zwischen den Österreichern und den Türken ein Gefecht entsponnen. Johann sollte schießen, da sah er in demselben Augenblick, von einer anderen Kugel getroffen einen türkischen Soldaten fallen. Das Gewehr warf er weg und eilte hin, um dem Schwerverwundeten beizustehen. Während er ihm aus seiner Feldflasche Labung einzuflößen suchte, sank er selbst nieder, von einer österreichischen Kugel getroffen. Der türkische Soldat, der mit dem Leben davongekommen, habe den barmherzigen Österreicher mit Ehren begraben lassen und den Denkstein mit der Inschrift gestiftet. Die türkischen Worte auf demselben heißen zu deutsch: Aller Hauptsachen Hauptsache ist die Liebe.

 


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