Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Bei den Feldwachen.

– 12. Feber 1916.

Mut und Feigheit.

Des Morgens stand vor dem Kommandogebäude des Kavalleriekorps Hauer ein Wagen, der mich zum Divisionsstab bringen sollte. Ich fragte den Kutscher:

»Kennst du den Weg dahin?«

»Ja, Panje.«

»Bist du ihn bei Tag gefahren? Bei Nacht? Wie oft?«

»Bei Tag und Nacht, Herr – so oft, daß ich's gar nicht zählen kann.«

»Gut.« Ich kletterte auf den Sitz und versorgte die Karte. Sie ist ohnehin nicht sehr verläßlich. »Schritt – Maaarsch! Antraben!«

Nach einer guten Stunde Wegs zwischen Sandwällen und gefrorenen Tümpeln waren wir in Serchowo angekommen. Ich wußte, daß wir da nicht hingehörten. Der Kutscher blieb aber steif dabei, wir führen recht.

Schön – reisen wir weiter! Wollen sehen, was daraus wird.

Wieder nach einer Stunde – der Kutscher war unruhig auf seinem Platz umhergerückt – da 255 sah ich am Horizont über die Sandwälle hinweg eine zerschossene Kirche. (»Mehr Löcher als Kirche,« sagte später der Divisionär.) Es konnte nur die von Jesjertzy sein.

Wir haben uns verirrt. Der Kutscher merkte es so gut wie ich. Er hatte angehalten und einen Infanteristen ausgefragt. Der Infanterist beschrieb umständlich einen Weg, den wir nehmen sollten: rechts, immer rechts im Wald – doch auf der Lichtung vorsichtig unterhalb des Kammes – so würden wir an den polnischen Batterien vorbei zur Reservestellung der Dragoner kommen; und dann hätten wir uns weiterzuerkundigen.

Ich wußte wiederum bestimmt: jedes Wort, das dieser Infanterist sagt, ist Irrtum. Da wir aber schon auf falschem Weg sind, will ich ihn in Gottes Namen vollenden.

An diesem trüben Vormittag auf einsamer Fahrt habe ich viel über Mut und Feigheit sinnen müssen. Es steht fest, daß ich irgendwo auf der langen Stufenleiter halte zwischen dem größten Helden und dem erbärmlichsten Hasenfuß: denn warum sollte grade ich unter so vielen der eine oder der andre sein? Ich meine vielmehr, ungefähr da, wo die meisten sind, zu stehen: in der Mitte. So wie ich, wird wohl die Mehrzahl fühlen.

Ich habe hier den Wald zu durchqueren, nächst den Batterien. gestern wurde am Stabstisch von diesem Wald gesprochen: er ist etwa 256 25 Kilometer lang und bekommt täglich durchschnittlich 30 russische Granaten. Gewöhnlich vormittag, demnach zu dieser Stunde. wahrscheinlich wird die Beschießung bald beginnen: planloses Streuen auf die Batterien.

Es wäre lächerlich, von einer Gefahr zu sprechen, wo die Russen mit Munition sparen, der Raum so groß und das Ziel, mein Wagen, so verschwindend klein ist. Selbst wenn eine ganze russische Artilleriebrigade den Wald 24 Stunden mit Trommelfeuer schlüge, hätte ich alle Aussicht, unverletzt zu bleiben Ich brauche nur die einfache mathematische Aufgabe durchzurechnen, um zu dem Wert der Treffwahrscheinlichkeit zu kommen: einem Bruch mit dem Zähler 1, dem Nenner 100 000 oder mehr.

Und doch: Wozu die Versuchung des Glücks? Warum den heilen Leib in eine Lotterie setzen, deren Treffer das Leben kostet? Der Soldat steht in einem andern Verhältnis zu den Dingen als ich. Auch von ihm verlangt die Natur Selbsterhaltung – das Vaterland aber verlangt seinen Tod, einem sehr hohen Zweck zuliebe. Soldatischer Mut ist die Bezwingung des Selbsterhaltungstriebes. Für welche Idee sterbe ich? Welchen Zweck kann mein Tod erreichen helfen? Eine Sensationsnotiz im Abendblatt: »Heldentod unsres Kriegsberichterstatters.« Warum nicht umkehren, den richtigen, ganz ungefährdeten Weg suchen?

257 Ich tue es nicht, weil ich mich vor dem Kutscher schäme; einem polnischen Bauern dessen Urteil mich keinen Deut kümmern sollte. Alles in mir sträubt sich dagegen, daß mich dieser fremde, gleichgültige Mensch für einen Feigling halten sollte. Die Scheu vor seinem Kopfschütteln, die Rücksicht auf zwei Klepper treiben mich vorwärts. Und: die Scheu vor mir.

Die Lehre, die ich daraus ziehe, liegt auf der Hand: wie ich hier den flüchtigen Gedanken an kleine Gefahr durch nichtige Eitelkeit mühelos umbringe – wie mir im kleinen, geht's dem Mann in Reih und Glied vor den Maschingewehren: es gibt eine Gewalt, die stärker ist als der Urtrieb zur Selbsterhaltung, eine Gewalt, die den Trieb der Selbsterhaltung erstickt und vergessen macht.

Furcht vor Strafe kann's nicht sein; in der Armee wird Feigheit hart geahndet; allein es kämpfen Freischaren bis auf den letzten Mann, die an dem Feigling keine Strafe vollziehen.

Begeisterung für die gemeinsame Sache, also Trieb zur Erhaltung der Art in verhüllter Form? Es haben Söldner für fremde Erde geblutet; und ob dem letzten Bergslowaken unsrer Armee eine Vorstellung aufgeleuchtet hat von Nation, Staat und Geschichte, ist billig zu bezweifeln.

Nein, weder Furcht vor Strafe noch Begeisterung – wenigstens sie nicht allvoran – sind die Gründe der seltsamen Erscheinung, daß das so 258 allgemeine, natürliche Verlangen, weiterzuexistieren, von Millionen überwunden werden kann und überwunden wird. Ich schäme mich vor dem polnischen Kutscher und er vor mir. Mächtiger als der Selbsterhaltungstrieb ist der Trieb des Mannes, zu gelten. Ehrliebe ist stärker als die Liebe zum Leben. Wenn Ehrliebe nicht wäre, wenn es nur die Darwinschen Motive gäbe – Trieb zur Erhaltung des physischen Selbst, Trieb zur Erhaltung der Art – es wäre ein Krieg unmöglich, denn es wäre kein Heer – nur Haufen, durch Rausch und Knute zusammengehalten. Der Rausch verfliegt, die Knute versagt – der Haufe läuft beim ersten Kanonenschuß auseinander. Man wird den Trieb der Geltung als eine Ureigenschaft des Menschengeschlechtes anerkennen müssen, oder der Krieg als psychologisches Phänomen ist unerklärlich. Einer meiner ehemaligen Vorgesetzten hat das Paradoxon ausgesprochen: »Man sollte für die Tat immer den Zeugen belohnen, denn der Zeuge hat's gemacht.«

Der Trieb, zu gelten, kann sich beim rohen Gesellen zur Rauflust steigern – ihn ganz empfinden wird nur der Mensch mit sozialem Bewußtsein. Daher das Plus an Mut beim intelligenten Soldaten. Ja, es spaltet sich – auf einer obern Kulturstufe – vom Trieb der Geltung des Selbst noch der Trieb ab der Geltung der Art. Den Russen geht das bißchen Gefühl, Mitglied eines herrlichen Ganzen zu sein, in der Bedrängnis der 259 Schlacht nur zu leicht verloren. Ehrliebe wird zu definieren sein als Trieb zur Erhaltung des Selbst und der Art in einem höhern, moralischen Sinn.

Ich fahre durch den düstern, langen Wald, das Streuungsbereich der dreißig russischen Granaten. Habe ich mich überhaupt zu ängstigen? Ebensowohl könnte ich die Reise im Eisenbahnwagen meiden, weil von 100 000 Fällen oder mehr ein Fall Entgleisung heißt. Unsre Batterien dröhnen. Ich horche dem Sausen nach, ob es auch sicher von uns käme und nicht von Feindes Seite. Wie, wenn es den Russen einfiele, just heute über die übliche Zahl von 30 hinauszugehen? Es können ja diesmal 60 Granaten werden, die den Zähler des Bruchs verdoppeln. . . .

Ich horche eine Viertelstunde und dann nicht mehr. Die Viertelstunde Wartens hat mich abgestumpft. Oh, ich kenne auch dieses Gefühl: Damals in Dubno war's am 12. September 1915; Dubno stand unter schwerem Feuer; ich brachte den Nachmittag, den Abend darin zu. Um sieben oder acht Uhr, als es finster wurde, hatte mich das ewig gleiche Heulen und Krachen zermürbt, und ich schlief ein. Wie ich schlief! So muß, man verzeihe den Vergleich, Napoleon bei Waterloo geschlafen haben – unerweckbar selbst durch die lautesten Explosionen. Ich verschlief wohl zehn Stunden von den 21 des Bombardements – traumlos, unerweckbar. Dies 260 Nichtaufnehmenwollen der Nerven ist die zweite Wurzel des Heldentums. Der Krieg wird nicht von starken, sondern von betäubten Nerven ertragen. Der Selbsterhaltungstrieb ruht bei überlang andauernder Gefahr.

Die ganze Betrachtung schließt sich, wie man sieht, an einen äußerst unbedeutenden Anlaß – sie wäre aber bei einem schnellern und gröbern Ablauf der Ereignisse auch nicht zustande gekommen.

Brauche ich erst zu sagen, daß keine Flugbahn aus russischem Geschütz meinen Weg gekreuzt hat? Die paar Granaten jenes Vormittags blieben weit weg von mir.

Es kam die Lichtung, wo wir uns »vorsichtig unterhalb des Kammes« halten sollten. Hier war der Weg durch eine dünne Allee abgehauener Bäumchen, die man in den Sand gesteckt hatte, einigermaßen maskiert.

Und dann – dann habe ich eine ungeheure Dummheit gemacht – die, wie alle Dummheiten, glücklich ausfiel: Ich sah ein oft benutztes Wagengleis vor mir, das über die Düne nach der zerschossenen Kirche von Jesjertzy wies, sah einen Telefondraht längs dem Weg – und fuhr. Wo andre durchkommen, muß auch ich passieren können; die Russen werden einen Kriegsberichterstatter auf seinem Wägelchen nicht für vornehme Beute nehmen.

261 Wir fuhren unbekümmert, Schritt vor Schritt im Gleis am Draht. Rechts in der weiten blauen Ebene muß der Feind stehen. Wo? Und wie weit?

So waren wir etwa vierzig Minuten hingezottelt – die zerschossene Kirche immer vor uns, als sollten wir ihr niemals näherkommen – da tritt aus einem kaum sichtbaren Unterstand in den Dünen ein Offizier, Oberstleutnant, und ruft mich scharf an:

»Was wollen Sie hier?«

Ich nenne ihm Namen, Stand und Ziel.

»Herr,« sagt er, »wissen Sie nicht, daß hier nur Fahrküchen fahren, nur bei Nacht? Dort vorn« – er zeigt mit dem Finger auf die Kirche – »steht unsre Schwarmlinie. Die Russen dicht gegenüber. Traben Sie davon, so rasch Sie können, über den Knüppeldamm, und danken Sie Gott, wenn Sie es überleben!«

Ich ließ mir's nicht zweimal sagen, und der Kutscher hieb in die Pferde. Sie trotteten an der Kirche vorbei. Immer wieder zwang uns der tiefe Sand zum Maßhalten im Tempo, der Sumpf zu Wendungen. So lang wie diese zwanzig Minuten ist mir selten eine Spanne Zeit geworden. Dann waren wir, gegen Sicht gedeckt, in einem neuen Wald.

Bei der Division war meine Ankunft schon vom Korps her telefonisch angekündigt; nur die Richtung überraschte, aus der ich auftauchte.

262 Zufällig traf ich zuerst auf den Chefarzt. Er ließ sich's nicht nehmen, mir gleich die Sanitätsanstalt zu zeigen, und in der Anstalt den letzten eingelieferten Verwundeten. Das war ein Mann, der eben dort bei der Kirche einen Bauchschuß abbekommen hatte; einen Bauchschuß ganz seltener Art: unterhalb des Nabels, am Kreuzbein vorbei, und keine einzige Darmschlinge war verletzt.

 
Das Kavalleriedorf.

Blockhäuser, viele Gassen von Blockhäusern. Das vornehmste heißt »Neues Palais«, da wohnt Feldmarschalleutnant Baron Leonhardi. »Palais« – die Bezeichnung übertreibt ja. Dennoch stellt man sich die Behausung eines Divisionsstabes im russischen Sumpf lange nicht schön genug vor, ehe man sie gesehen hat.

Früher war Exzellenz in der »Villa Tolstoj« untergebracht gewesen – da bekam er aber zuviel Granaten. Er zog sich hinter einen Sandhügel zurück und baute von neuem.

Wie baut man aber solch ein hübsches Haus?

Zuerst ist eine metertiefe Grube. Rundum rammt man eine Doppelreihe von Pfählen ein – von kurzen da, wo Fenster entstehen sollen. Die Türen bleiben ausgespart, die Zimmerwände sind von dünnern Stämmen. Sind die Pfähle mit Moos ausgedichtet, so stampft man den gewonnenen Sand in den Zwischenraum der Pfahlreihen. Fußboden: längsgespaltene Bäume, mit 263 der ebenen Seite nach oben; darauf Dachpappe, dann Bretter. Zimmerdecke: Tragbalken, Bretter, Dachpappe, gespaltene Bäume. Oben das Dach. Nun heißt es, Türen und Fenster suchen. Sie sind das kostbarste Gut im Poljesje, und Requisitionskommanden fahren weithin, um sie herbeizuschaffen. Ich habe auch kunstreiche Butzenscheiben gesehen von lauter Flaschenböden. Ueber den Fenstern bringt man Ventilationskasten an. Die Schwarmöfen werden in Ziegel eingemauert, und die Ziegel dazu holt man bei Nacht von der zerschossenen Kirche.

Stallungen geben weniger Mühe. Alle Unterkünfte im Stellungskrieg aber sind so trocken, warm, rein und luftig, daß man sich im künftigen Friedensmanöver gar manchesmal nach dem Kavalleriedorf zurücksehnen wird.

»Wer was auf sich hält, hat hier eine eigene Hütte und seinen eigenen Knüppelweg.« So sind neben dem »Neuen Palais« noch viele Offiziers- und Mannschaftsbuden entstanden, dann ein Spital mit Operationszimmer und Isolierabteilung, ein Bad mit Entlausungsanstalt und Wäscherei, eine Offiziersmesse, eine Kapelle von Birkenholz. Jedes Regiment hat seinen besonderen Stil. Hier war Vorbild »die Försterei«. Man kann aus Birkenholz nicht materialechte, aber sehr lustige Hirschgeweihe schnitzen.

Weiter vorn, in »Fröhlichsdorf,« bei der Truppe fand ich's ähnlich komfortabel. Fast jede 264 Schwadron hatte ihr Bad. Eins war zweistöckig: auf dem Dach ein alter Schnapskessel; aus ihm mündeten Röhren in Gießkannen, die unten an der Stubendecke angebracht waren, und sie dienten als Dusche. Ein Meisterwerk der Improvisation. Keine Armee tut es der unsern in Improvisationen gleich.

In Fröhlichsdorf bewirtete mich der Gründer der Niederlassung, Major Fröhlich, mit einem feldmäßigen Festmahl, und ein vorzüglicher, im Egerland sehr beliebter Lautenschläger, der Zettel Franz von der Arbeiterabteilung, spielte und sang dazu.

Es sang auch ein Chor von Viererdragonern, und ihre Lieder habe ich aufgezeichnet. Das Regiment ergänzt sich aus Salzburg und Oberösterreich; die Sprache der Lieder aber war – sonderbar genug – ein geschraubtes Hochdeutsch:

Russisch-Polen, gar weit und breit –
Hat jeder seine Pflicht getan,
Und auf weitem Felde, kampfbereit
Erlebten wir den ersten Streit
In Polen.

Bei der Ortschaft Turobin
Standen wir dem Feind so nah,
Und daß unsre Büchse sicher schoß,
Das macht dem Feinde viel Verdruß
In Polen. 265

Unser Rittmeister Eisenstein
War gewiß ein tapfrer Held.
Aber kaum daß er den Säbel zog,
Erlitt er schon den bittern Tod
In Polen.

Zürnet nicht, daß ich hier steh'
Und so viele Leichen seh' –
Denn vielleicht trifft uns noch unbewußt
Eine Kugel in die junge Brust
In Polen.

Fällt der Abschied uns noch so schwer,
Denn viele von uns sind nicht mehr,
Denn manche Brüder schlummern schon
Von der 4. Feldeskadron
In Polen.

* * *

Soll ich es noch erleben,
Mein Land befreit zu seh'n,
Soll ich auf fremdem Boden
Am Grabe siegreich steh'n?
Es blitzt ein Schuß durch mein Gefühl,Ich fand die beiden Texte später in Bernhard Paumgartners »Oesterreichischen Soldatenliedern«, 2. und 3. Heft, in andrer Fassung wieder. Dieser Vers z. B. lautet bei Paumgartner: »Es blitzt ein Schuß durchs Kampfgewühl.« Die Lieder sollen aus den Feldzügen von 1848 und 1864 stammen.
Es tönt als wie ein Saitenspiel –
Es war bei Warschau, Russisch-Polen:
Mein Vaterland, leb wohl! 266

Dort drunt auf grünen Auen
Im weit und breiten Feld,
Dort stand ein junger Krieger
In dunkler Nacht als Held.
Die Augen rot, die Wangen bleich,
So stand er da für Oesterreich –
Er stand bei Warschau, Russisch-Polen –
Mein Vaterland, leb wohl!

Das Bajonett gepflanzet,
So stand der wackre Mann.
Sein Herz war schon gekühlet,
Die Jäger rufen schon.
Die Salve kracht dann dumpf und schwer –
Mein teurer Bruder lebt nicht mehr –
Er liegt bei Warschau, Russisch-Polen –
Mein Vaterland, leb wohl!

 
Die vorderste Linie.

Oestlich von Fröhlichsdorf, da dehnt sich der Wald. Man kann ihn nur da betreten, wo Knüppel liegen, viele Kilometer lange, überhöhte Pfade auf Piloten. Sonst ist der Boden kniehoch bedeckt mit Wasser. Damit man bei Nacht die Pfade nicht verfehle, ist ein glatter Draht als Geländer gespannt, und zwar über Birkenpfähle, deren Weiß auch im Dunkel schimmert. So kommt man zu den Feldwachen.

Es gibt in diesem Abschnitt der Front nämlich keine durchlaufende Schützenlinie; wie sollte 267 man sie denn im Wasser etablieren? Der Abschnitt wird nur bewacht – von uns und drüben von Russen. Die Truppe brauchte Holz für die vielen Blockhäuser und hieb Schneisen durch den Wald; nun läßt er sich besser übersehen.

Da leiten aber stellenweis Furten über den Morast, und bei klarem Nachthimmel friert er gar zu: zwei Gelegenheiten zum Durchschleichen für die Unsern wie für den Feind. Man bringt Alarmdrähte an (mit rasselnden Konservenbüchsen), »Leuchtvedetten« (Raketen, die bei Berührung eines Drahtes losgehen), Fußangeln, Wolfspfähle und – selbstverständlich – auch Stacheldrähte. Erbeutete russische, sehr starke Drähte. Schneise, Hindernis und Alarmvorrichtungen werden von Doppelposten bewacht, die einander von ihren Hochständen aus sehen. Die Hochstände, der Jäger kennt sie, sind Kanzeln oben zwischen zwei Bäumen – nur ist die Brüstung hier so stark, daß sie gegen Insanteriefeuer schützt. Ronden patrouillieren spät und früh. Die Doppelposten können durch Klingelzüge Hilfe herbeirufen. An seichtern Furten stehen Scheinwerfer bereit und Maschingewehre.

Drüben? Da liegen Tscherkessen im Wald ohne Dach und Fach. Alle vier Tage werden sie abgelöst, sonst erfrören sie wohl. Zu Plänkeleien kommt es oft: unsre und die russischen Reiter kämpfen um das Heu, das in Schobern zwischen 268 den Linien liegt. Weiter hinten war ja auch Heu, das ist aber längst verfuttert.

 
Das Poljesje.

Man darf nämlich nicht glauben, das Poljesje wäre ganz güst. Hier wohnen im Frieden Menschen (36 auf die Quadratwerst – nach Hauptmann Schmidt), Bauern, die Herden von Vieh haben und im Sommer, wenn der Sumpf ausgetrocknet ist, Gras mähen und stapeln, um die Ernte im Winter auf Kähnen oder Schlitten einzuholen.

Ich habe einmal gesagt, man sehe im Poljesje kein Ergebnis der großen, von der Regierung angeblich mit Aufwand von Millionen begonnenen Entwässerung. Die Millionen müßten irgendwie verschwunden sein. Das Urteil war vorschnell gefaßt: für die Gegend von Fröhlichsdorf gilt es nicht. Um nicht wieder gegen die Wahrheit zu fehlen, gebe ich einem Kenner das Wort. Schmidt schreibt in seiner »Militärgeographie Rußlands«:

»Die Versumpfung rührt vom mangelnden Gefälle der Wasseradern und dem Umstand her, daß die südlichen Zuflüsse viel eher auftauen als die nördlichen. Von 1874 bis 1899 sind 59 Prozent des Gebietes durch Kanäle entsumpft worden. Ueber den Fortgang nach 1899 fehlen Angaben. Trotzdem gehört die Pripjatniederung auch heute 269 (1913) noch zu den am dünnsten bevölkerten Landschaften Rußlands.«

59 Prozent – die Zahlangabe wird sich auf allzu rosige russische Berichte stützen. Immerhin ist, hier wenigstens, viel geschehen.

Schon zweimal ist das Poljesje Kriegsgebiet gewesen, wenn auch nicht Kriegsschauplatz. Kannenberg berichtet:

»Als im Jahre 1706 die russische Armee unter dem Feldmarschall Ogilwi bei Grodno stand, hatten die Schweden die russische Rückzugslinie nach Moskau in ihrem Besitz. Peter der Große befahl Ogilwi, sich hinter das Poljesje zurückzuziehen und, mit diesem Hindernis im Rücken, den Abmarsch aus Kiew einzuleiten. Die Russen gelangten auch glücklich über Brest-Litowsk hinter das Sumpfgebiet, während Karl XII. zur Verfolgung gegen Pinsk rückte, in dem sumpfigen Waldlande aber nur sehr langsam vorwärts kam und seinen stark erschöpften Truppen bei genannter Stadt eine mehrwöchige Erholungspause gewähren mußte; inzwischen erreichte Ogilwi Kiew. – Im Jahre 1812 stand anfänglich die Erste und die Zweite russische Armee nördlich, die Dritte südlich des Poljesje. Die Anwesenheit dieser Armee veranlaßte Napoleon, zur Deckung seiner rechten Flanke ein ganzes Korps zurückzulassen. Schon im Juli gingen Teile der Dritten russischen Armee durch den westlichen Teil des Poljesje gegen den Rücken der Franzosen vor, so daß sich 270 Napoleon nunmehr genötigt sah, zwei Korps gegen diese Truppen abzuzweigen, worauf sich die Russen vor dem überlegenen Feinde wieder hinter das Poljesje zurückzogen. Im Oktober ging die durch die Vierte Armee verstärkte Dritte russische Armee von neuem über das Sumpfgebiet gegen die Verbindungslinie der von Moskau zurückgehenden Franzosen vor, denen ein vernichtender Schlag hätte beigebracht werden können, wenn Tschitschagow an der Beresina glücklich gekämpft hätte.«

Auf der Karte sieht das Poljesje trostlos aus; selbst die sogenannten Höhenlinien sind durch wagrechte blaue Strichelchen markiert, das konventionelle Zeichen für Sumpf. Die Sümpfe haben Namen wie anderswo die Täler: es gibt einen Faulen Sumpf, einen Großen, einen Schwarzen Sumpf. Dennoch entbehrt die Landschaft keineswegs der Reize. Hinter den majestätischen Kronsforsten geht die Sonne himmlisch glanzvoll auf und unter. Im Frühling werden Birk- und Auerhähne balzen. Rehe sind nicht selten; ob es auch Wildschützen und Schlingenleger unter den steirischen Dragonern gibt? Elche, jetzt auch Wölfe, schnüren durch die Moore; ein braver Wolfsrüde ist gestern der Patrouille gefolgt und wurde erst flüchtig auf den dritten Schuß. Die Elche werden geschont. Das deutsche Ob. Ost., Oberkommando der Ostfront, verbietet das Abschießen bei 10 000 Mark Strafe.

Vorn an den Feldwachen duldet man die 271 Zivilbevölkerung begreiflicherweise nicht. Im Etappenraum leben Bäuerinnen mit ihren zahllosen Kindern in unbeschreiblich schmutzigen Hütten – ein Volk, das verwahrlost ist, dumm, mißtrauisch, feindselig und verkommen. Lungenschwindsucht, Geschlechtskrankheiten und Pocken sind hier zu Hause. Auf den Ortstafeln warnen unsre Truppen auch vor Räude, Rotz, Klauenseuche. Vor den befohlenen Impfungen fliehen die Leute. Die Männer sind entweder im russischen Heer, oder sie halten sich mitten im Sumpf in ihren Scheunen versteckt, um nicht arbeiten zu müssen.

 
Die Kämpfe.

Große Kämpfe gab es hier zum letztenmal anfang November, als die Russen bei Tschartorysk durchbrachen. Damals spielten sich Vorgänge ab, von denen man noch heute erzählt: wie ein Leutnant, von den Russen im Schlaf überrascht, in einen Brunnen stürzte; die Russen wußten nicht, wo er hingeraten war; sie schöpften Wasser aus dem Brunnen und sahen den Leutnant nicht; ein Vorstoß der Unsern erst befreite den Armen aus seiner übeln Lage.

Zu Weihnachten wurde es ganz ruhig. Da konnte ein geputztes, leuchtendes Christbäumchen auf einem Wägelchen unsre Front entlang fahren.

Seither ist Kleinkrieg, und unsre Dragoner, Husaren und Ulanen fechten schneidig. Wenn 272 auch zu Fuß, mit Gewehr und Bajonett – der Stolz, das Ehrgefühl des Reiters verleugnen sich nicht. Die Dragoner, Bauernsöhne aus wohlhabendem Land, sind anspruchsvoller im Essen, Rauchen, Wohnen, dafür aber selbstbewußt und kräftig. Die polnischen Ulanen, bescheidener und weniger rauflustig, schicken sich wieder besser ins Gelände. Jeder Reiter aber möchte beim Jagdkommando sein, wenn es gilt, russische Feldwachen bei Nacht mit Handgranaten anzufallen. Den Russen kommt Ortskenntnis zugute, Hilfe der Bevölkerung. Sie haben hier einmal, wie bekannt, einen deutschen Stab aufheben können – der Divisionär wird seither vermißt. Sie haben ein andresmal zwei Knaben ausgeschickt, die den russischen Telefondraht an unsern legten. Der Anschlag wurde rechtzeitig entdeckt.

Als Cetinje erobert war, stellten unsre Truppen Transparente auf und brachten, man hatte vorher die Uhren genau gerichtet, um acht Uhr abend ein viermaliges, lautschallendes Hurra auf die vier verbündeten Herrscher. Die aussen glaubten an einen Angriff und verpulverten Hunderte von Granaten in einem unnötigen, wirkungslosen Sperrfeuer.

 
»Nike

Eines Tages flammte eine Leuchtvedette in der Feldwachenlinie, und unser Posten fing drei Männer in Bauerntracht ein. Sie waren 273 unbewaffnet. Einer trug seine Wäsche; man mutmaßte, er wäre Offizier.

Zuerst wollten sie friedliche Landleute sein, dann ließen sie sich zu einem Geständnis herbei:

Sie waren Zöglinge der Kiewer Bandenschule »Nike« (griechisch: »Der Sieg«) – russische »Komitadschi,« Freischärler. Nach dem Muster ihrer einstmaligen serbischen Genossen waren sie ausgebildet worden im Sprengen, im Telegrafieren, und ihre Bestimmung ist, unsre Etappenlinien zu stören und zu spionieren. Sie hatten je fünfzig Rubel erhalten, gleichsam als Anzahlung, und 2000 Rubel waren ihnen versprochen für den Fall, daß es ihnen gelänge, eine bestimmte Arbeit auszuführen: Sprengung der Brücke von Rosischtsche.

Die drei Partisane wurden im russischen Divisionsstabsquartier mit Konserven, Dolchen und Pyroxylinpatronen ausgerüstet. Der General war skeptisch. »Leute,« sprach er, »die Oesterreicher werden euch ja doch erwischen und hängen. Besser wäre, man hängte euch gleich hier – dann könntet ihr wenigstens nicht plaudern.« Er ließ die drei denn auch mit verbundenen Augen in die vorderste Linie geleiten, damit sie nichts sehen, was sie drüben verraten könnten.

Die Partisane zogen also los. Ihr erstes war, Dolche und Patronen zu vergraben: sie wollten erst mal versuchen, ob überhaupt durchzukommen wäre, und dann zurückzukehren, um 274 die Waffen zu holen. Unsre Posten haben die Patronen und Dolche auf Grund des Geständnisses der Drei gefunden.

Die österreichisch-ungarischen Wachen verdoppelten nun ihre Aufmerksamkeit und nahmen in der nächsten Nacht wieder fünf Leute der »Nike« fest. Wie die Sache weiterlief, weiß ich nicht. Ich fuhr da schon auf der Heeresbahn Kowel-Oderberg dem Hinterland zu.

Kein Genuß, diese Bahnreise in den ungeheizten, unbeleuchteten, überfüllten Wagen des »engern« Kriegsgebietes . . . 275

 


 


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