Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Bei den 84ern.

– 15. September 1915.

Endlich konnte ich auch das andre Wiener Hausregiment besuchen, Freiherr v. Bolfras Nr. 84. Die 84er sind von Beginn des Kriegs bis heute Nachbarn der Deutschmeister gewesen, haben dieselben Affären bestanden, sind Kinder einer Mutter – Wiens – von ihnen ist ebensoviel und wahrhaftig ebenso Schönes wie von den Deutschmeistern zu erzählen.

Ich möchte gleich einschalten, um welche Affären es sich da handelt. Die Wiener Heeresdivision verzeichnet in ihrer amtlichen Liste folgende Schlachten und Gefechte, in denen das Ganze oder große Teile der Division mitgefochten haben:

Ein beflissener Leser mag die Gefechtstage zählen, er wird auf weit über 300 kommen.

197 Die 84er sind, wenn man von zwei, drei kleinen Geplänkeln absieht, überall dabeigewesen, und G. d. J. Freiherr v. Bolfras, ihr Inhaber, hat sie im Geist begleitet. Mit wirklich rührender Anteilnahme. Der alte Herr studiert die Gefechtsberichte auf der Spezialkarte, er verlangt immer noch Aufklärungen über einzelne Episoden, er erlebt den Krieg mit seinem lieben Regiment.

Als ich die 84er besuchte, war's an einem Sonnentag, und ich fuhr in einem landesüblichen Wagen hin. Der Kutscher war ein Ostgalizier. Ich suchte mir mit Kompaß und Karte einen möglichst gegen Sicht und Feuer gedeckten Weg und fand ihn auch – bis mich nur mehr ein 500 Schritt breiter Sumpfgürtel von Turkowitschi, dem Dorf der 84er, trennte. Ich auf dem Wagen stand diesseits hinter dem Hügel, und jenseits am Hang lag das Dorf. Diese 500 Schritt weit werde ich in Sicht der Russen sein.

»Halt, Kutscher!« Es raucht aus dem Dorf. Ist es eben von den Russen beschossen worden? Nein, das scheinen Kochfeuer zu sein. Vorwärts also – Trab womöglich!

Es war nicht möglich, denn der Weg im Sumpf war tief. Doch es passierte auch weiter nichts. Nur waren es keine Kochfeuer, die da geraucht hatten, sondern wirklich Feldgranaten, und es krachten ihrer nur mehr drei oder vier, so lang ich da war – ans entgegengesetzte Ende 198 des Ortes. Dahin, wo ich bin, werden die Geschosse erst schlagen, wenn ich Abschied genommen habe; das ist in diesem Krieg noch immer so gewesen.

Der Kommandant der 84er hat einen langen Namen: Oberst Dr. jur. Oswald Eccher ab Echo und Marienburg. Alter Tiroler Adel. Zu Beginn des Kriegs (ich glaube auch noch in der Schlacht am San) hat der Oberst die Kopaljäger geführt; die Kopaljäger schworen einander damals, sich unter keinen Umständen zu ergeben; und sie hielten ihren Eid: sie starben.

Zu Haus in der Kanzlei ist der Oberst natürlich nicht – er ist immer vorn in der Stellung. Dahin kann man im Augenblick – bei Tage – schwer; ich muß warten Die Zeit wird mir nicht lang: die Nachricht, daß ein Gast da wäre, hat sich im Dörfchen rasch verbreitet – es sammeln sich immer mehr Offiziere der Regimentsreserve an, um . . . Neuigkeiten zu erfahren.

Neuigkeiten – von mir! Ich treibe mich seit Wochen in Wolynien umher und kriege nicht einmal die Zeitung zu Gesicht, die doch die Herren täglich haben. Die Kunde von den Vorgängen der Welt dringt nur als Etappengerücht an meine Ohren, oft genug den Tatsachen voraneilend. Alles, was ich weiß, ist: wie es vor drei, vier Tagen auf einem eng begrenzten Frontstück aussah und daß Major X. von den Y-Ulanen für eine Woche nach Lemberg auf Urlaub möchte, 199 sobald Rittmeister Z. geheilt von seiner Wunde ist. Richtig – etwas weiß ich doch: beim Korps habe ich gehört, daß eine drahtlose Depesche aus Norddeich meldet, die Russen in den Pripjatsümpfen wären . . .

»Aber das ist ja vom Kommando aus längst hertelefoniert worden.«

Die Deutschmeister reden von Sokal, die 84er auch heute noch vom San. Am San waren ihre größten Tage. Siebzehn Nächte hat man da nicht geschlafen. Einmal in vierundzwanzig Stunden, im Dunkel gab's kaltes Reisfleisch aus einer Munitionskiste. Der Feind hatte sich aus 150 Schritt Entfernung auf 30 Schritt ansappiert, zwischen uns und dem Feind war kein Hindernis. Es gab Leichen, und man konnte sie nicht bestatten; es dürstete einen, und man konnte nicht trinken, denn die Leichen faulten in den Pfützen. Die Offiziere saßen schließlich mit gespannten Pistolen auf den Deckungen, jeder mit dem Entschluß: neun Patronen auf den Feind, die zehnte ins eigene Hirn. Der Schützengraben am Flügel war umfaßt; die eine Hälfte der Leute schoß vorwärts, die andre mit verkehrter Front; und kein Russe hat sich herangewagt. – Das waren die Tage am San.

Sokal? Darüber hätte Hauptmann Lambichler was auszusagen, der sich dort und anderswo so tapfer schlug. Doch wie lebhaft der sehnige 200 Tiroler sonst auch ist – von seinen Taten redet er kein Wort.

In der Nacht vom 8. auf den 9. Juli waren die Russen vom Bug gewichen. Die 84er folgten ihnen ostwärts in breiter Front. In der Baschantarnja, dem Hochwald östlich von Kristinopol, sollte das Bataillon Lambichler Stellung nehmen. Es gibt da zwei kleine Ortschaften: Horodeletz am Nordrand, Bendjucha am Westrand des Waldes; Entfernung voneinander vier Kilometer. Das war die Linie.

Strömender Regen. Man richtete sich, so gut es in der Eile ging, mit den zurückgebliebenen russischen Drahtreitern ein, nutzte auch die Tümpel als Hindernisse aus, legte möglichst viel Flankierungen an. . . .

Darüber war der Vormittag vergangen. Nachmittag meldeten Flüchtlinge aus dem nächsten Dörfchen: die Russen kämen. Kosaken zeigten sich. Wir schickten Patrouillen vor – sie konnten nicht mehr durchdringen. Gegen fünf Uhr prallten Patrouillen des Gegners an unsre Front. Und bei Anbruch der Nacht richteten die Russen einen Vorstoß gegen unsern rechten Flügel.

Es war ein schreckliches Feuer und rauschte tausendfältig in den Baumkronen. Regen, ägyptische Finsternis. Man mußte modriges, phosphoreszierendes Holz legen auf den Pfad von der 201 Kommando- in die Telefondeckung, damit die Ordonnanzen sich zurechttasten.

Die ganze Nacht hatte die 8., dann die 7. Kompagnie immer neue, immer wütendere Flutwellen des Feindes abzuwehren. Einzelne Russen sprangen schon in unsre Gräben; sie wurden gepackt, gefangen, oder sie entwischten.

Als der Morgen graute, lagen zwei russische Offiziere, 135 Mann tot vor den spanischen Reitern der 8. Kompagnie; die Verwundeten hat man nicht gezählt. Die gefangenen Russen sagten aus: es wären in der schwarzen Nacht, im Kreuzfeuer zwischen den Tümpeln ganze russische Rudel vor der eigenen Front, den eigenen Gewehren planlos umhergeirrt. . . .

»Eine Geschichte ohne Moral,« sagt der Hauptmann langsam und blickt ins Leere, als ließe er die Schrecken jener Nacht wiederum an sich vorüberziehen. »Die Finsternis im Hochwald – Regen – Sumpf – der Lärm des Feuers – das Telefon zerschossen – – man wußte nichts vom Nachbar, war im Weltuntergang mutterseelenallein und . . . vergessen . . .« – Auch einer von den vielen, die nie mehr lachen werden, dieser Hauptmann . . .

Am 20. Juli hat die Erde gebebt. Der Angriff der Russen richtete sich diesmal eigentlich gar nicht gegen 84, sondern auf die 17er und 25er Jäger, die nördlich von den 84ern standen, und nahm nur ganz beiläufig auch den 202 linken Flügel des Regiments Bolfras mit. Das Bataillon Lambichler, durch Landsturm verstärkt, war eben der angegriffene Flügel – dort bei Horodeletz. Das Feuer der Russen, erzählen Offiziere, die es miterlebten, das Feuer muß man gehört haben: tausend Granaten fielen auf 300 Schritt Front. Alle Reserven wurden links an der bedrohten Stelle eingesetzt. Russische Artillerie hatte die sandigen Gräben der Jäger gradezu verschüttet, eingeebnet.

Um vier Uhr nachmittag nahten die Russen, ohne einen Gewehrschuß zu tun, bis an die Brust watend durch den Sumpf (der auf der Spezialkarte als See eingezeichnet ist), und entwickelten sich mit tausendstimmigem Hurra vor den 84ern. Unsre Herren haben es mit eigenen Augen gesehen: die Herden der Russen waren von peitschenschwingenden Kosaken angetrieben worden.

Man verstehe die Kampflage nur recht: da die Nachbargräben der Jäger nicht mehr existierten, stand das Bataillon Lambichler isoliert im Wald, vorn und in der linken Flanke von einem viel-, vielfach überlegenen Feind umfaßt. Ein Wunder nur konnte die einsame Abteilung vor der Vernichtung retten, aber um den Preis furchtbarer Verluste.

Doch was geschah? Vor den stürmenden Russen waren die 84er verschwunden. Einfach verschwunden, wie aus dem Dasein gefegt. Sie sind, ohne daß die Russen es merkten, zweimal 203 abgeschwenkt und schlichen in einem Fluß, »einzeln abgefallen« durch den Wald davon in ihre Hauptstellung. Solch ein Manöver kann nur ein Truppenkörper ausführen, der eisern diszipliniert ist. Tote: keine. Verwundet: niemand. Vermißt: ein Offiziersdiener, der im Höllenfeuer geschlafen, den Ueberfall der Russen versäumt hatte.

Assistenzarzt Dr. Zanko (der seit dem Tag der Mobilisierung im Bataillon ist) unterbricht:

»Unser Lambichler war unterdessen im heftigsten Granatenhagel bei der Sechsten (Kompagnie) und hat dort einen verschütteten Mann ausgeschaufelt.«

Der Hauptmann lehnt ab. »Es ist Legende. Ich versichere, nur Legende. Ich habe den Rückzug mit den andern angetreten.«

Wenn es auch Wahrheit wäre, würde er's vor mir leugnen, der bescheidene Hauptmann, der seine Dekorationen niemals trägt, »weil er sie nicht verdient habe«.

In den Stellungen vor Kristinopol, die man nun bezog, fand man – die Cholera. Es kriegte sie grade jener Zug, der in ein ehemals russisches Grabenstück zu liegen kam, und als erstes Opfer starb Stabsarzt Dr. Fischer, der Türklinken nur mit dem Ellenbogen angefaßt, die Hände stets mit Alkohol gewaschen, alle im Regiment geimpft hatte, nur sich selbst nichts Auch die andern Kranken waren durchwegs Leute, die (als 204 Feldwachen oder Horchposten) ungeimpft geblieben waren.

Den Schlachten bei Sokal folgte bekanntlich ein langwieriger Stellungskampf am Bug und schließlich der russische Rückzug an die Ikwa bis Dubno. Er führte zu schweren Verfolgungsgefechten im Raum Dobrowodka-Wolkowyje-Dublany, 2. bis 4. September. (Man suche die Orte östlich des Styr, ungefähr im Parallelkreis von Berestetschko). Die 48er stritten bei Dobrowodka, am Südflügel also, und der Belohnungsantrag hebt besonders den Reservefähnrich Heinrich Wohl hervor, dann den Reservefähnrich Georg v. Winternitz, die Zugsführer Rohrwegh, Scherleitner, Spiller, den Korporal Holly, die Infanteristen Feitsch und Brenner. Jeder in seinem Kreis hat das Herrlichste vollbracht.

Held des Tages von Dobrowodka aber war Oberleutnant Paradeiser, 11. Kompagnie. Unser Angriff richtete sich auf eine russische Schanze bei Stanislawy, nordöstlich von Dobrowodka. Oberst v. Eccher kommandierte damals die Brigade, Führer des Regiments war Oberstleutnant v. Kamler. Das Bataillon Lambichler war schon seit dem Morgen ins Gefecht verwickelt, die Bataillone Major v. Görgey und Major Hasenbeck sollten die Schützenlinie links und rechts verlängern.

Kaum hatten sie die Ortschaft verlassen, da erhielten sie Schrappnelle. Ein Volltreffer blies 205 den Einjährigen Bernhard, Kompagnie Paradeiser, um, verletzte ihn aber nicht. Der Oberleutnant sah die russische Schanze noch nicht voll besetzt und rief:

»Rasch, Leute – so lang's noch billig ist!«

Das hat die Situation entschieden Die Kompagnie stürmte in wildem Lauf, übergreifend den Hügel.

Der erste Zug wird mit sehr lebhaftem Feuer empfangen; die Schwärme arbeiten sich sprungweis heran und stehen an den Drähten. Zwei Schwärme schießen, zwei durchbrechen das Hindernis. (Was für ein Hindernis! Ich, Roda, hab es später gesehen: drei Klafter breiter, fünffacher, siebdichter Draht. Er wurde gar nicht geschnitten – einfach umgetrampelt.) Kommandant dieses braven Zuges war Fähnrich Wengraf.

Der zweite Zug hat unterdessen eine Mulde ausgenutzt und taucht in der Flanke der Russen auf. Schon ist der erste Zug innerhalb der Schanze; die Russen heben die Arme hoch. Nur 60 Mann waren's; die Schanze sollte ja erst richtig besetzt werden. Die Gefangenen sagen aus: im Wald hinten ständen noch zwei Roty (Kompagnien) bereit.

Die beiden Züge hocken sich in die eroberte Schanze und schießen aus den 60 erbeuteten russischen Gewehren 10 000 Patronen auf die Roty im Wald. Der Oberleutnant geht gleichzeitig mit den beiden andern Zügen ein paar Häuser an, 206 auf deren Dachboden die russischen Maschingewehre nisten. Sie sind nach einigen Schüssen verjagt und fallen einer Nachbarkompagnie, der 10., in die Hände.

Am 10. September, an der Ikwa, mußten die 84er wieder tolle Abenteuer bestehen. Sie waren es auch, die als Erste in das Sperrwerk Dubno drangen – Hauptmann Medici mit einem Zug. Die Kämpfe im tiefen Sumpf der Ikwa lösten sich in ein Ringen auf Schwarm gegen Schwarm, Mann gegen Mann; Scheherezade könnte tausendundeine Nacht allein von diesen Kämpfen im Sumpf erzählen; einem Sumpf, worin einmal vor den Augen der 84er eine Kuh versank, verschwand, erstickte. Die Kompagnie Paradeiser bekam für den 10. September von ihrem Obersten eine Kiste Rathauskellerwein.

* * *

Spät am Nachmittag konnte ich mich endlich dem Obersten v. Eccher vorstellen. Er war aus der Front zurückgekehrt, und sein Kommen wurde von Kanonendonner angekündigt, wie es einem Kriegsmann seines Rangs gebührt.

Ich habe nicht allzu oft im Leben so deutlich wie diesmal den Eindruck gehabt, einer Persönlichkeit gegenüberzustehen. – Ich spreche von seinem unermüdlichen Fleiß und er von der Kontinuität der Verantwortung. Der Regimentskommandant ist von allen Vorgesetzten der Truppe 207 wohl der geplagteste. Er ist die ausführende Gewalt der höhern Leitung; er muß die nach der Karte vorgeschriebene Stellung in Wirklichkeit im Gelände bezeichnen und besetzen, für Munition, Verpflegung, Sanitätshilfe sorgen – er allein unter den Führern sieht die Hungrigen, die Verwundeten – zu ihm dringen noch die Reibungsgeräusche des kleinen Dienstes und schon das Räderknarren der großen, ganzen Heeresmaschine.

Ich gratuliere dem Obersten zu so vielen Erfolgen, die er an der Spitze der Kopaljäger und der Bolfras-Infanterie erzwungen hat – er schiebt alles dem Soldatenglück zu und der Hilfe des Oberstleutnants Füller von den Schweren Haubitzen. Ein echter Soldat, ein strenger Soldat – (die Deutschmeister nennen ihn »den Firmgöd«) – ein Oberst, den seine Leute innig verehren, ein erprobter Taktiker – und über all das hinaus noch Sarkast und Philosoph. Schade, daß ich wegmußte – ich sollte noch vor Abend jenseits der Hügel auf einem andern Punkt sein und von dort auf der Bahn – zur Abreise ins Kriegspressequartier des Armeeoberkommandos.

Brauche ich's erst ausdrücklich zu sagen? Ich war noch nicht zweihundert Meter weg aus Turkowitschi, da kam ein russisches Schrappnell. Die Pferde gingen durch, mein Kutscher rollte aus dem Wagen. Aber ich konnte das Gefährt noch glücklich aufhalten. Wobei ich mich nicht sehr beeilte: 208 sie mochten gern soweit durchgehen, daß ich außer Sicht der Russen kam.

 
Abschied von Wolynien.

Ich konnte (sagt' ich) beim Obersten v. Eccher nicht bleiben – ich hatte anderswo zu tun.

Dies anderswo – ich erfuhr's erst später – sollte Serbien sein. Dort griffen Mackensen, Kövess, Gallwitz an, und ich durfte den Marsch bis tief in den Sandschak begleiten. Die schönsten, die reichsten Wochen meines Lebens, acht Wochen; ihnen wird ein andres Buch gewidmet sein.

 


 


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