Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Am Styr.

Gestern abend marschierte unser Quartiermacher voraus nach Osten ab mit dem Befehl, uns in Berestetschko unterzubringen, »wenn es den Ort noch gibt«.

Noch nie ist das russische Elend so furchtbar nah wie heut an mich herangekommen. Ich brauche nur mit groben Strichen drei Ortschaften abzumalen:

Zuerst das russinische, das heißt kleinrussische Dorf. Bin nicht dabei gewesen, niemand hat mir geklagt, und ich erlebe doch vor diesem Schutt die schreckliche Stunde, wo der Schutt entstand.

Es kam der Polizist und sagte den Bauern, daß sie ziehen müßten.

»Warum? Wann? Wohin?«

Er hatte keine Antwort und deutete nur mit einem Schulterzucken nach Innerrußland. Erregt, gelähmt blieb die Menge stehen. Dann heulten die Weiber. Jammer, Schimpfen, Hilflosigkeit. Ein paar alte Männer, die ihr Rußland am längsten kennen, lösten sich wortlos und resignierend aus den Gruppen und gingen heim, um einzupacken.

Nachmittag kam die Kosakenpatrouille, und 142 da hier Geld doch nicht zu holen war, machte sie nicht viel Federlesens. »Fort!« Die Knutenhiebe klatschten; mit Tränen, Stöhnen, Winseln, Gackern, Quieken, Muhen setzte sich die Kolonne der Aussiedler in Bewegung: hochbepackte Wagen, Kind und Kegel, Rind und Schwein.

Eine Greisin saß auf der Schwelle, hatte die Hände im Schoß, ließ sich schlagen und rührte sich nicht. Ihr zündeten die Kosaken das Haus an.

Von der hölzernen Hütte ist nichts geblieben als der Herd, er war gemauert. Und einen eisernen Topf fand die Greisin in der Asche. Nun steht sie auf dem Platz, den gestern noch ein Strohdach schützte, und kocht auf demselben Herd Kartoffeln in dem Eisentopf wie alle Tage – nur eben im Freien. Eine fremde Armee, die österreichisch-ungarische, zieht vorüber. Gott, was ist dem weißhaarigen Weiblein viel genommen worden? Eine Hütte, die längst keine mehr war – ein löcheriger Pelz – eine alte Ziege mit ausgedörrten Eutern. Man wird den Rest des Lebens tragen, wie man die Zeiten früher trug.

Ein paar Stunden später traben wir durch eine deutsche Kolonie; »Sjelonaja« heißt sie, »die Grüne«. Ich verweile ein wenig, um die Leute zu begrüßen. Viele sind ihrer nicht: die jungen Männer seit dreizehn Monaten im Krieg – gefallen und verschollen – die ältern von Kosaken gejagt – nur Weiber gibt's und unmündige Kinder.

143 »Es is 'n Elend,« berichtet mir eine Frau über den Zaun, »'n Elend is es. Auch uns hat man wechjetrieben; wer nich Ferde hatte, mußte auf den Katjolnawagen (die Fahrküche). Se hatten uns Essen zujesacht, un denn bekamen wir auf dem janzen Wech zwei Brote.«

»Seid ihr weit im Osten gewesen?«

»Härr, überm Wasser Nepr (Dnjepr) un noch durch ein Gubernj. Denn hat man uns jefragt: »Wen sein Mann is einjerückt?« Un die Sapaßnoweiber (Soldatenfrauen) hat man heimjelassen. Wir haben zu Hause nischt jefunden als die vier Wände.«

Jenseits der Kolonie (sie ist übrigens nicht viel wohlhabender als das erstbeste Russendorf und die Straße ebenso tief und glitschig) am Wald treffe ich dennoch einen Mann. Er kommt mit einem Grabscheit in der Hand und sechs Rohrstühlen um den Hals. Hat sie wieder aus dem Versteck hervorgeholt.

»Wie kommen Sie denn her?«

»Es hat mir Jäld jekostet.«

Das Judenstädtchen Berestetscho am Styr. Ebenes, schwer fruchtbares Gelände, in das der Fluß eigensinnige Windungen gewühlt hat.

Wir stoßen zuerst auf einen weitläufigen, wohleingedrahteten Brückenkopf der Russen, den sie nicht verteidigt haben; hätten sie's getan, da wär' viel Blut geflossen, denn die Schützengräben starren tief und dicht.

144 Eine Meierei unter alten Linden.

Dann der Judenfriedhof, der schönste, den ich sah. Wer den Prager Judenfriedhof kennt, stelle sich die Steine buntbemalt vor, in üppiges Gras gebettet, und riesige schattige Eichen darüber. Im Gras aber weideten halbwilde Schweine . . .

Das Ghetto von Berestetschko – ein Gewirr von Holzhäusern mit Holzaltanen. Ich will nur gleich den Preis nennen, um den es erhalten geblieben ist: 2000 Rubel, ein Paket Seife und einen Kamm für den Jessaul (Rittmeister), damit er selbst davonritt und die Juden mit der Brandstifterpatrouille allein verhandeln ließ; fünfmal drei mehr zehn Rubel für den Unteroffizier und die fünf Reiter der Patrouille. Hierauf noch einmal ebensoviel für eine zweite Patrouille, die angab, erst die richtige zu sein – die erste hätte nur geschwindelt.

Ich möchte dem Bild dieses Städtchens durch einen Vergleich nahekommen und sehe mich in meinen Erinnerungen um. – Hamburgs Fleete sind finster und eng; aber die Gassen hier sind ziemlich offen, die Häuser nur stockhoch. – Die äußern Quartiere Venedigs? So flüssig sind die Straßen hier denn doch nicht, wenn sie auch nach Sumpf und Moder riechen. – Stambul ist gepflastert, ist bunt. Die Vororte von Barcelona vielleicht oder die von Neapel geben ein ähnliches Gemälde. Nur ist dort Stein, was in 145 Wolynien von morschem Holz ist: die Dächer, Wände, Balkone und Veranden. Schmutz, Armut, blasse Gesichter bilden die Staffage. Dies Gotteshaus muß man gesehen haben, um zu glauben, daß der Gott der russischen Juden auch in einer zerfallenden Bretterbude wohnen kann.

Am Ausgang des Ghettos der Herrensitz eines Schlachzizen. Ein künstlerisch parkettiertes rundes Musikzimmer, Altwiener Porzellan, Bronzen aus Paris. Wir sind erstaunt, eine Büste Kaiser Josefs II. vorzufinden und ein Riesenölbild aus der Kriegsgeschichte Oesterreich-Ungarns. Im Ahnensaal Empireporträts. Der Besitzer ist entflohen. Wäre er geblieben, konnte er mit den Kosaken russisch reden, und sie hätten ihm die Dampfmühle nicht angezündet. Nun liegt sie, ein Chaos von verbogenem Eisen, in Trümmern. Zerlumpte Leute sacken das halbverkohlte, stinkende Korn ein; für die Hühner, sagen sie. Andre tragen das Blech und Eisen fort; es ist in den Flammen hellrot oxydiert, als glühe es noch immer.

Und nun geschieht etwas Unerwartetes. Von Osten her kommt Wagen um Wagen, ein unendlicher Zug, eine Völkerwanderung. Verheddert sich vor der Kriegsbrücke zu einem Knäuel, das stündlich drohend wächst, als wollte sich halb Rußland darauf wickeln; wird nach lauter, leidenschaftlicher Arbeit unsrer Feldgendarmen endlich 146 wieder zu einer Kolonne aufgereiht und haspelt sich langsam, stetig, endlos über die polternde Brücke nach Westen ab.

Das sind die Aussiedler. Die Russen haben sie bis über den Styr mitgeschleppt. »Fort!« brüllten die Kosaken, und die Hiebe klatschten. »Wollt ihr euch von den Oesterreichern die Bäuche schlitzen, die Brüste abschneiden lassen?« Und die Oesterreicher kamen, kamen immer näher. Die Bedrängnis der russischen Divisionen stieg. Schließlich wich der letzte russische Truppenkörper und ließ die Aussiedler führerlos zurück. Sie fluten in die alte Heimat: hochbepackte Wagen, Kind und Kegel, Rind und Schwein; Truhen, Pelze, Hühner, Körbe, obenauf Säuglinge in bleiernem Schlaf, und die Fliegen sitzen schwarz auf den verfallenen Gesichtchen; hinter dem Wagen trottet spießig das Kalb, vom Seil gewürgt; eine Frau kutscht das Gespann; ihr Kopf ist geschwollen von Knutenschlägen. So zieht es vorbei den Mittag, die Nacht, den Morgen, beim Donner der Kanonen.

Die Kanonen donnern am 2., am 3. September, und es regnet, regnet jeglichen Tag. Wir haben »stille Marschbereitschaft«. Wir – nämlich der Korpsstab. Die Trainbespannungen stehen im Geschirr, die Reitpferde gesattelt Tag und Nacht auf dem Hauptplatz von Berestetschko. Im Schloß, im Zimmer des Generalstabschefs Obersten Grafen Szeptycki brannte heute nacht 147 bis 2 Uhr Licht, morgens um 5 Uhr brennt es schon wieder.

Die Russen haben sich jenseits des Styr gestellt, im Bergland südwestlich von Dubno. Da ist es gestern zum Kampf gekommen. Die von Sokal weichenden Scharen des Feindes sind dort wohl von Verstärkungen, die aus Dubno flossen, aufgefangen worden. Andre neu herangeführte Kräfte des Feindes versuchten in den sumpfigen, finstern Wäldern so etwas wie einen Durchbruch zwischen der Wiener Division und ihrem nördlichen Nachbar, dem Krakauer Korps. Kosaken und Landesbewohner störten unsre Telefone. Wie schlau sie das machten! Sie ließen die Isolation unverletzt und zogen nur ein Stückchen Litze, nicht länger als ein Finger ist, aus der Leitung. Die Patrouillen brauchten Stunden, um den Schaden aufzufinden.

Das waren erregte Stunden. Die Stabskompagnie sogar war ausgeschritten, um jenseits des Styr eine Aufnahmsstellung zu besetzen. Allein was hätte eine Kompagnie viel vermocht, wenn die Division zurückmußte?

Sie mußte aber nicht zurück. Bolfrasinfanterie behauptete sich tapfer auf dem Südflügel bei Dobrowodka, Oberleutnant Paradeiser nahm die Schanze von Stanislawy. Der Nordflügel der Deutschmeister kämpfte im Sumpf, ward beinah umfaßt und hatte erhebliche Verluste. Doch alles 148 verlief glimpflich; die Russen verzogen sich auf Dubno.

All das ahnte ich nur halb. Ganz erfahren habe ich's erst, als die Gefahr beschworen war. Denn auch ich hatte »stille Marschbereitschaft«, und das will heißen, daß ich mein Quartier nicht verlassen durfte.

Mein Quartier war die katholische Pfarrei. Sie wimmelte von jungen Mädchen, Polinnen, die sich vor den abziehenden russischen Soldaten unlängst hierher geflüchtet hatten. Sie waren gut beraten: die Kosaken hatten nur die Glocken mitgenommen, ansonsten Kirche und Pfarrei nicht angetastet. Eine Kirche übrigens, die keinen Gläubigen mehr diente: denn der Gutsherr und sein Gesinde waren ja entflohen, und außer ihnen hatte es nur Juden und Russen in Berestetschko gegeben. Der Pfarrer zeigte mir seine schöne, große Kirche, die Marmorstatuen und goldnen Leuchter. Ich sah kopfschüttelnd ein sonderbares Bildwerk: einen Christus, schwarz von Antlitz, mit langem Negerhaar, in kostbarem Brokatkleid.

Als die Marschbereitschaft gar so lange dauerte, nun schon den zweiten Tag, da ging ich zum nächsten Kaufmann, Zigaretten kaufen. Der Laden war geschlossen. Doch der Kaufmann lud mich in sein Haus – er wolle mir Tabak aus seinem persönlichen Vorrat überlassen.

Ich war in die Stube getreten, und der Kaufmann riegelte sie sorgfältig ab. Hier saß die 149 Familie mit den Nachbarn – wohl ein Dutzend Menschen. Der Kaufmann rollte und klebte Zigaretten für mich mit seinen Fingern und seinen Lippen. Ich versuchte vergebens, ihm begreiflich zu machen, daß ich die Zigaretten doch nicht rauchen würde . . .

Man nötigte mich, Platz zu nehmen. Die Tochter des Hauses, eine Schönheit von vierzehn oder fünfzehn Jahren, radebrechte deutsch. Sie sagte, sie besuche das Gymnasium in Petersburg.

»Oh,« rief ich, »ich wußte nicht, daß . . .«

»Daß Jüdinnen in Petersburg studieren können?« vollendete sie. »Doch. Wenn sie sich als Prostituierte einschreiben.« Sie sagte es so ruhig, die kleine Studentin, als spräche sie von irgendeiner alltäglichen Aufnahmsbedingung ihrer Schule.

Da rief ihr Vater, der Kaufmann:

»Herr! Trösten Sie uns doch! Nicht wahr –die Russen werden nicht zurückkommen? Nicht wahr – wir sind erlöst? Für immer?«

Und der Chor gramvoller, furchtgeschüttelter, weinender Menschen wiederholte:

»Herr! Trösten Sie uns!«

Ich wußte ihnen nichts zu antworten.

»Aber sehen Sie nur!« Der Kaufmann war ans Fenster gesprungen und zeigte entsetzt hinaus. »Eure Kolonnen fahren zurück.«

Es waren leere Wagen, die zur Fassung 150 gingen, um nachmittag mit neuer Verpflegung wieder an die Front zu kehren.

Dem Laden gegenüber im Feldspital lud man eben Verwundete aus Demidowka ab. Der erste, den ich sah, war Hauptmann Nedjela von den Deutschmeistern mit einem Steckschuß im Schenkel. Ein Trainsoldat hob den Hauptmann aus dem Wagen und trug ihn auf seinen Armen fort ins Bett. Der Hauptmann war frohgelaunt; draußen gehe alles gut. Leutnant Dr. Denk hatte einen Leistenschuß; er zeigte lachend auf den Blutfleck und den Riß im Mantel. Ein Fähnrich, den ich nicht kannte, hüpfte behend aus dem Wagen und auf einem Bein davon in das Spital. Alle, alle lustig: diese Lebensfreude nach überstandener Gefahr ist charakteristisch für Leute, die aus dem Gefecht kommen, ob sie nun heil oder verwundet sind; die Aerzte kennen ein ähnliches Aufleuchten gefährdeter Energien: »die Euphorie«. Nur jene Verwundeten, die durch Blutverlust allzusehr geschwächt sind, blicken teilnahmslos und fühlen weder Befreiung noch auch Schmerzen.

Oberleutnant Eichler und Zugsführer Kerschbaum waren angeblich schwerverletzt in russische Gefangenschaft geraten. Der tapfere Leutnant v. Cammerloher war gefallen.

Vor dem Feldspital wartete schon eine johlende Schar auf mich.

151 Zuerst galizische Bauern. Die Russen hatten ihnen das Vieh geraubt. Nun zogen die Bauern gläubig und vertrauend unsrer Armee nach, die den Russen das Vieh sicherlich abgenommen haben mußte, um es den rechtmäßigen Eigentümern, eben den galizischen Bauern, wiederzuerstatten. Ich sollte die Schar doch sofort zum gnädigen Herrn General führen.

Ich entzog mich mit Körpergewalt den Bittstellern, die mich umrangen – und fiel auch schon dem Kaufmann und seinen Nachbarn in die Hände.

»Herr,« riefen sie, »es steht geschrieben: wer einen Telefondraht zerreißt, wird erschossen.«

»Nun ja . . . gewiß . . . . Und?«

»Und vor unserm Haus ist der kaiserliche Telefondraht vom Balkon gefallen. Der Sturm weht . . .«

»So hebt doch den Draht in Gottes Namen wieder auf den Balkon!«

»Wir wagen es nicht, Herr, wir wagen es nicht. Die Hand soll verdorren, die den Draht berührt. Kommen Sie!«

Die Leute drangen in mich, bis ich willfahrte, den Telefondraht auf den Balkon zu heben.

Die Angst war in Berestetschko, das Elend und der Tod. Gott hatte sein Israel »mit beiden Händen gestraft«. 152

 


 


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