Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Kwassow.

– 1. September 1915.

Für mich war diese Nacht die erste auf wolynischem Boden, und sie hatte darum schon besondern Reiz. Ueberdies schlief ich mutterseelenallein in einem weitläufigen Haus ohne Türen und Fenster. Auf dem Kirchturm nebenan pfiffen in tiefen Flötentönen die Eulen. Im Mondschein erschien eine Katze und klagte mir miauend ihren Hunger; der entflohene Hausherr hatte die Katze dagelassen. Dann kam spät nacht ein altes Weib, offenbar um Beute zu machen, und erschrak mächtig, als sie das Haus bewohnt fand. Rasch gefaßt gab sie sich für eine Verwandte des Besitzers aus. Ich untersuchte die Familienbeziehungen nicht und ließ die Alte gewähren – unter der Bedingung, daß sie den Diebstahl lautlos ausführe und meinen Schlaf nicht störe.

Am Morgen war es sehr schön und sehr kühl. Ursprünglich hatte es geheißen, wir würden heute nur einige wenige Kilometer, bis Brany, marschieren, und ich hatte meine Bagage, dem kleinen Weg entsprechend, auf den Trainwagen verladen lassen. Da sah ich bei der russischen Dorfschule 132 einen Auflauf: die Leute vom Telegrafen holten sich dort Dutzende von blau-weiß-roten Fähnchen und rissen von jeder den blauen Streifen ab; mit den weißroten Wimpeln schmückten sie ihre Telegrafenkarren. Halloh, da mußte etwas Besondres geschehen sein. Richtig war nachts die Nachricht eingetroffen, daß die »Festung« Lutzk gefallen ist; demzufolge wird der Feind wohl auch uns gegenüber nicht standhalten. Wir gehen heute statt der einigen – viele, o, sehr viele Kilometer vor.

Um sechs Uhr – eben kreiste ein russischer Flieger im Himmel über uns – saßen wir zu Pferd. Wie gestern und wie alle Tage ging's in welliges, offenes Land. Sonne und Wind hatten die Wege ziemlich ausgetrocknet. Sonne und Wind kämpften miteinander. Im Eichenwäldchen rauschte es, daß man sein eigenes Wort nicht hörte. Der Wind trieb uns einen stinkenden Qualm ins Gesicht, und jenseits des Waldes sahen wir, was das russische Regiment Nr. 58, Praga, angerichtet hat: der Gutshof von Brany war eine Ruine geworden; an Stelle der Schober schwarze Flecken, die Stallungen ein Trümmerhaufen; vom Verwalterhaus stehen nur die verkohlten Pfähle, die Kornspeicher brennen noch. Ueber der Verwüstung ragt, von einem gepflegten Park umkränzt, weinumsponnen, unangetastet das Grafenschloß.

Der Graf, er heißt Rafail Iwanowitsch de 133 Bossalini, ist vor uns nach Kiew entflohen. Er muß sonderbare Vorstellungen von unserm Heer haben, da er die eiserne Kasse offen stehen ließ, um jedermann zu zeigen, daß sie leer ist. Im Schloß ist nur ein Kastellan zurückgeblieben, der den Herren des Stabes Hände und Rocksaum küssen möchte und fleht, man solle ihm bestätigen, daß er schuldlos an der Zerstörung des Hofes ist; und eine bejahrte Wirtschafterin ist da, raucht Zigaretten, wischt den Staub von den eilig ausgeräumten Schränken und mault. Ein schneeweißes verwöhntes Angorakätzchen kreist schnurrend und schnuppernd durch die Räume.

Im Schloß ist eine Telefonstelle eingerichtet. Der Generalstabschef spricht mit den unter- und übergeordneten Kommanden. Die übrigen Offiziere rasten indessen im Speisesaal und in den Gemächern nebenan. Das Schlafzimmer der Gräfin ist überstark parfümiert; sie ist eine robuste Schönheit, nach den farbigen Photographien zu schließen, die zahlreich an der Wand hangen. Auf den Tischen zerstreut liegen Bücher, die die wolynische Gräfin zuletzt gelesen hat: ein paar Bände Tschechow und Max Halbes »Jugend« in russischer Uebersetzung; so viel literarischer Ernst paßt gar nicht in die schwüle Pracht dieses Gelasses. Ah, hier auch eine nicht zu alte Nummer des »Rußkoje Slowo«; ich finde einen Aufsatz meines Freundes Georg Bittner darin zitiert, dann sogar mich selbst.

134 Nachdem der Generalstabschef sein Ferngespräch beendet, der Kommandant den Truppen neue Weisungen gegeben hatte, trabten wir ins weglose Hügelland weiter. Jawohl, ins weglose. Man braucht nur die Karte anzusehen – die russischen Chausseen führen nicht bis an unsre Reichsgrenze. Allenthalben längs des Wegs Aeser von Schweinen, Pferden, Gänsen, die von verlassenen, streichenden Hunden angerissen sind: die Russen haben ihre Bauern zur Abwanderung gezwungen, das arme Vieh konnte nicht mit und blieb verendet liegen.

Auf dem Meierhof Wengjerschtschina, »Ungarn«, der uns heute nacht beherbergen soll, erwarten uns schon Opfer und Zeugen dieser Brutalität: ein Dutzend Flüchtlinge ist nämlich den Russen ausgekommen, von unsern Truppen eingebracht und der Gendarmerie des Stabes vorgeführt worden Auch gefangene russische Soldaten hocken im Gras, etwa hundert; ihre Brotsäcke sind mit gerupftem Geflügel angefüllt. Versonnen auf einem Wagen sitzt ein russischer Offizier und streicht sich immerfort nervös die Stirn. Von den Gefangenen strömt ein peinlicher Geruch nach Birkenteeröl aus, mit dem ihre Kleider zum Schutz gegen Läuse getränkt sind.

Es ist ein prächtiger Obstgarten da; darin macht sich unser K.-Offizier sofort häuslich und läßt die Gefangenen zur Vernehmung antreten. Um so rasch wie möglich Daten zu 135 erlangen, befiehlt er, daß die Russen nach ihren Truppenkörpern geordnet zu kommen haben, und zwar ohne ihren Offizier, vor dem sie doch kaum frei aussagen würden.

Siebzehn Mann vom Regiment Nikolai Nikolajewitsch Nr. 53.

»Wo seid ihr gefangen worden?«

»Wir wissen es nicht, Herr. Man marschiert, wie die Vorgesetzten befehlen. Vom Diener des Herrn Fähnrichs hörten wir, daß es nach Dubno gehen sollte. Wer nicht mitkonnte, wurde mit dem Putzstock geprügelt; es gibt mehr Hiebe bei uns zum Frühstück als Tee.«

»Ist die Verpflegung ausreichend?«

»Tak totschno. (Gewiß.)« Sie weisen ihren schokoladebraunen Zwieback vor. »Aber der Kaptenarmus (Capitain des armes, Rechnungsführer) verkauft alles weiter, statt es uns zu geben.«

Aus den siebzehn ist nicht viel herauszubringen; alle bis auf einen sind wenig intelligent, und der letzte, ein Maler namens Alexej Bobroff, will sich nicht äußern Die Leute können abtreten.

Vierzig Mann vom Regiment Nr. 56, Schitomir. Unter ihnen ist ein deutscher Kolonist, der in seiner Mundart berichtet.

»Ich komme freiwillig zu euch rüber; die Rejierung hat meine Frau und die Kinder nach Tiefrußland jeschickt und die Kühe wechjenommen. Da dachte ich: wenn ihr so an mir tut, denn hol euch der Plunder. Ich will auch nach 136 dem Kriech nich in Rußland bleiben; es ist da kein Jedeihen.«

Von uns, sagt er, kämen niemals Ueberläufer zu den Russen, und die Deutschen und Juden hätte man meistens nach dem Kaukasus befördert, damit sie dort gegen die Türken kämpfen.

Ein russischer Sergeant erzählt, sie hätten zehn Kompagnien im Regiment zu hundertdreißig Mann, dreihundert Mann davon bilden aber das »unbewaffnete Kommando«, weil es an Gewehren fehlt.

Nun erscheint der Offizier, ein junger Artillerist, den man zur Infanterie eingeteilt hat.

»Wohl weil es eurer Infanterie an Führern fehlt?«

Er verweigert die Antwort, ist überhaupt der Trotz selbst. Man möge ja nicht glauben, er hätte sich feig ergeben; nein, man habe ihn zu Fuß auf Erkundung hierher gesendet; er wäre, des Marschierens ungewohnt, todmüde eingeschlafen, und als er erwachte, seien lauter Oesterreicher um ihn gewesen. Dabei öffnet er den Mantels, offenbar, um sein Georgskreuz zu zeigen, die Auszeichnung für Tapferkeit.

Unser K-Offizier versteht solch stolze Gefangene sehr geschickt zu behandeln. Er stellt sich zunächst durchaus unwissend und fragt nach so selbstverständlichen Dingen, daß selbst dem verschwiegensten Gegner nichts übrig bleibt, als 137 lächelnd, mitunter mitleidig lächelnd, Auskunft zu geben.

»Sagen Sie,« beginnt der K-Offizier besorgt, »was ist es nur, daß die russische Armee immerfort zurückgeht?«

Der Gefangene läßt triumphierend die Augen blitzen.

»Es ist die Methode von 1812,« entgegnet er. »Ihr werdet in die Sümpfe rennen, ohne Nachschub bleiben, euer schweres Geschütz nicht weiterbringen – wir stürzen aus auf euch, und ihr seid vernichtet. Rußland ist groß und schon wegen seiner Größe unbesiegbar.«

»Aber sind eure Soldaten durch die großen Rückzugsmärsche nicht sehr mitgenommen?«

»Nicht mehr als die euern durch den Vormarsch,« antwortet der Russe selbstverständlich. »Eine neue Mobilisierung wird fünfzehn Millionen neuer Leute zu den Fahnen rufen.«

Unser Offizier noch besorgter: »Fünfzehn Millionen? Das ist viel.« Er tut, als notiere er die Zahl, glaube also an die Sache, und der Russe lächelt wieder leise triumphierend.

»Werden Sie denn auch Waffen genug für diese Menge aufbringen? Da gibt es einzelne Regimenter, die zu wenig Gewehre haben. . . . Zum Beispiel Ihres, Herr Leutnant.«

Der Gefangene schüttelt energisch den Kopf. Doch der K-Offizier kommt ihm mit genauen 138 Zahlen. Der Russe ist auf einer Lüge ertappt, beißt sich beschämt die Lippen und blickt zu Boden.

»Wie weit gedenkt ihr denn den Rückzug fortzusetzen?«

»Bis Lutzk,« sagt der Gefangene kleinlaut.

Der andre, sehr ruhig:

»Lutzk ist doch gestern abend von uns genommen worden.«

Der Moskale sieht unsern Offizier entgeistert an, öffnet überweit die Augen; es ist, als würden im nächsten Moment die Tränen daraus stürzen.

»Lutzk genommen!« ruft er bitter. »Unsre Strategen! Wir sind nur Drahtpuppen in ihrer Hand. Man hat sich Verbündete angeschafft, die monatlich zwanzig Yard (Ellen) vorgehen. Wir müssen unser Blut für eine verlorne Sache vergießen. 1812 im Zeitalter der Automobile und Eisenbahnen! Welcher Irrsinn!«

»Denken bei Ihnen alle so?«

»Alle, und alle haben recht.«

Er bittet noch bescheiden um ein Zimmerchen, um auszuschlafen, nur zu schlafen, und geht erregt davon.

Die Szene hatte so mächtigen Eindruck auf mich gemacht, daß ich dachte, sie könne sich nicht mehr steigern. Die Tragödie des russischen Volkes hat aber noch ganz andre Effekte.

Ein Feldwebel wird herangeführt. »Ich diene zwölf Jahre im selben Regiment,« erzählt er, »und kannte jeden Mann. Zu Beginn der 139 Karpatenschlacht wurde ich verwundet. Als ich nach zwei Monaten wieder einrückte, waren fremde Gesichter um mich. Alle, die mit mir in den Krieg gezogen waren, lagen unter der Erde.«

Dann trat ein Mann vor, so heiter und dick wie der Vollmond.

»Mein Krieg hat nicht lang gedauert. In Lutzk haben sie ein Sapaßnij- (Marsch-) Bataillon formiert aus Train, Sanität, aus Lahmen, Halbblinden und Schneidern, sechshundertdreißig Mann. Gewehre sollten wir vorn kriegen. Wir aber hörten, vorn stände es schlimm, und sagten: Nein, da gehen wir nicht hin, wir werden die Dinge doch nicht ändern.«

»Und euer Kommandant?«

»Er sagte: Gut, Kinder, dann kehren wir eben um.«

»Ihr seid wirklich umgekehrt?«

Der Dicke grinste. »Es ist weit nach Lutzk. Wer weiß, was unterwegs hätte passieren können. Wir haben uns lieber gleich im Wald zerstreut.«

Unser Stab blieb die Nacht im Meierhof. Der Kommandant und zwei Herren des Generalstabs schlugen ihre Feldbetten im Stübchen des Hofrichters auf. Der Oberstabsarzt, der Intendanzchef, der Justizchef, der Technische und der Artilleriereferent, die Adjutanten, die Ordonnanzoffiziere und meine nichtige Wenigkeit – wir alle schliefen im »gelben Stadel«. Die Mannschaft der Stabszüge und Trains lagerte unter Zelten. 140 Die Mannschaft zündete sich bei Anbruch der Dunkelheit Feuer an. Wir im Stadel froren; was aber um so weniger empfindlich war, als die Nacht nur sehr kurz dauerte. Zeitig am Morgen ging die Russenjagd wieder an.

 
Nachschrift.

Der bedrückte junge russische Offizier hat seinen Mut bald wiedergefunden. Als unsre Stabsdragoner die Gefangenen zurück nach Brany brachten – dort vor dem Wald bemerkte der Korporal eine gewisse leise Unruhe in der Schar.

Der deutsche Kolonist raunte dem Korporal zu:

»Mann, seht euch vor! Die Moskalen wollen euch überfallen!«

Im selben Augenblick zischte der Offizier den Seinen etwas zu.

Im selben Augenblick aber hatte der Korporal die Säbel ergreifen lassen und stand mit einer Lançade vor dem russischen Offizier.

Der Russe warf die Flügel des Mantels zurück und zeigte ein Gewehr.

Er konnte es nicht mehr anschlagen: ein Primhieb des Korporals sauste ihm auf den Kopf.

Der russische Verräter ward schwer verwundet, in Ketten, auf einem Wagen dem Kriegsgericht in Brany eingeliefert. 141

 


 


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