Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Zweiter Teil.

Im Winter kehrte ich aus Serbien zurück, ruhte ein paar Tage, schrieb an meinen Erinnerungen und pilgerte dann abermals zum Wiener Korps; diesmal ins Poljesje.

Auf meiner ersten Fahrt hatte ich immer nur die Wiener Heeresdivision gesehen, dann die Landsturmbrigade; im Poljesje traf ich den alten Korpsstab (mit neuen Herren) und die Wiener Landwehr an.

 
Fahrt ins Poljesje.

– 1. Feber 1916.

Ich hatte mir alles viel schwieriger und abenteuerlicher vorgestellt – insonderheit die Reise hieher. Statt dessen:

Dienstag in einem blitzblanken D-Zug mit Speisewagen und bequemen, gekißten Abteilen bis Iwangorod.

Dort hieß es allerdings: hinaus in die kohlschwarze Nacht, um die Weichsel auf einem Dampferchen zu übersetzen; die Brücke ist nämlich von einem schlimmen Eisstoß beschädigt, man muß nachpilotieren. In einigen Tagen wird alles wieder in Ordnung sein. Das Dampferchen, ein Fahrzeug mit Scheinwerfern und Kanönchen, im vorigen Sommer vom Feind versenkt, wurde gehoben und unsrer Weichselflottille einverleibt.

212 Auf dem östlichen Ufer, unterhalb der Backsteinmauern des alten russischen Forts wartet schon ein andrer Zug und bringt mich in einer Nacht über Lublin und Cholm bis Kowel. Frühstück in der Verköstigungsstation auf dem Bahnhof; ich kann zum Morgentee schon das Breslauer Abendblatt von gestern lesen.

Mittags verlasse ich auf einer kleinen Haltestelle, Perespa, den Zug. Der Zug verschwindet in der Richtung nach Osten. Essen im »Offiziershotel,« einem funkelnagelneuen, geräumigen Blockhaus mit mächtigen Ziegelöfen; ihre Wärme treibt Harztropfen und Harzgerüche aus den Balken. Letzter Gang des Essens: Wiener Tascherln. Heinrich, im Frieden Koch des Restaurants Hartmann, entschuldigt sich, daß er zum schwarzen Kaffee heute keinen Rahm servieren könne.

Unterdessen fahren russische Gefangene mein Gepäck nach der Kopfstation der Lokomotivfeldbahn. Gefangene – Hunderte von Leuten – arbeiten auch im Futtermagazin. Das Lager der Russen habe ich gesehen: ganze Garnituren russischer, breitspuriger Eisenbahnkasten ohne Rädern sehr geschickt zu Stuben umgezimmert, indem man Fenster, Türen einschnitt und Schwarmöfen anbrachte.

Auf der Lokomotivfeldbahn werde ich vier Stunden bis Trostjenjetz fahren. Es zieht ein geschäftig lärmendes Maschinchen den Tagesbedarf einer Truppendivision bis in die vorderste 213 Linie, und für mich wird ein Plachenwagen mit Bänken an den Zug gehängt. Im Augenblick der Abfahrt bekomme ich noch Gesellschaft: einen deutschen Leutnant, der keuchend herbeigelaufen ist, aufspringt und Gott dankt, daß es »ihm geglückt wäre, mich einzuholen.« Ich bin über die lebhafte Begrüßung einigermaßen erstaunt – bis sich das Mißverständnis aufgehellt: dem Herrn Leutnant bin ich von einem Gendarm, der meinen Offenen Befehl prüfte, als der langerwartete Kriegsgerichtsrat bezeichnet worden. Ich aber bin nur Kriegsberichterstatter.

Im Verlauf der vier Stunden gesellen sich noch einige andre Gäste hinzu: ein kaiserlich-königlicher Förster aus dem polnischen Verwaltungsgebiet; er erzählt, wie gut man die Bevölkerung behandle, wie wenig Dank sie uns dafür weiß. Auch ein Militärintendant reist mit – um die Getreidevorräte der Bauern einzuschätzen; die Bauern haben ihr Korn in Fässer gepackt und vergraben; wenn der Intendant naht, fliehen sie in den Wald; wenn sie ergriffen sind und eine Erklärung fertigen sollen, weigern sie sich, die drei Kreuzchen hinzusetzen – denn »sie hätten schon unter der russischen Regierung gelernt, daß jegliche Schrift ein Todesurteil ist.«

Ich bin nun schon im Poljesje. Unendlich dehnt sich rund die Ebene. Tümpel an Tümpel, groß und klein, gefroren. Das Eis schließt struppige, kopfgroße Grasbüschel ein; es liegt 214 zerstückelt, weiß und hohl, weil das Wasser unter der Eisdecke im Sand versickert ist. Mitten zwischen den Pfützen eine mächtige einsame Eiche oder ein Trupp Birken. Grosse, schüttere, nasse Nadelwälder von Tannen und Föhren. Die Föhre, sie ist der dunkelste, der schwermütigste Baum im Land, die Pinie des Nordens. Die Erlen wollen schon knospen – und es ist doch so bitter kalt. Nur mittags in der prallen Sonne ist Frühlingsahnung.

Man sagt mir, das Poljesje präsentiere sich mir heut im Sonntagsstaat. Das Eis versilbere den ärgsten Dreck. Wenn ich den Tauwind abwarten wolle, könne ich Pferde mitten auf den Landwegen ersaufen sehen, und manch eine Feldwache wäre schon im trügerischen Sumpf vor den Augen der Kameraden unrettbar ertrunken.

Hat die russische Regierung wirklich soviel für die Trockenlegung des Poljesje getan, wie das der Duma vorgelegte Millionenbudget verheißt? Unsre Karten schreiben über riesige Gebiete, besonders des westlichen Zipfels: »In Entwässerung begriffen.« Das Wasser sollte in die Ströme abfließen. Floß statt dessen das Geld in die Taschen der Beamten?

Durch solch einen Höllenbrei von Froschlaich, Baumwurzeln und Sand eine Feldbahn meilenweit zu führen, muß eine Heidenarbeit gewesen sein. Es gibt Knüppeldämme, soweit das Auge reicht, und Brücken von sechs-, siebenhundert 215 Meter Länge. Jede Straße bedeutete eine Unzahl von Kubikmetern Erdaufschüttung, jeder Kilometer Prügelweg braucht 12 000 Bäume. 12 000 Bäume fällen, abästen, zurechtsägen, fortschaffen, verankern! Dann aber ist erst ein einziger Kilometer Wegs erbaut; die Armee braucht ein ganzes Straßennetz hinter sich und endlose, durchgehende Linien der Lokomotiv- und Pferdefeldbahn!

Die Stationen der Pferdefeldbahn mit ihren Vorratskammern an Verpflegung und Munition liegen in den Wäldern, versteckt vor Fliegern. Trotzdem ist eben heute Trostjenjetz, die Ausgangsstation, als ich sie verlassen hatte, von vier Bomben heimgesucht worden.

Ich setzte die Reise nämlich mit der Pferdefeldbahn fort, und die beiden russischen Honigschimmel vor dem Wagen trabten meiner Treu flinker, als vorhin die Lokomotive gelaufen war. Wir begegneten unterwegs einer schwerbeladenen Lori. Ich mußte meinen Wagen verlassen – die Eisenbahner zerlegten ihn sofort in drei Teile, trugen ihn an der Lori vorbei hinüber aufs Gleis, setzten ihn ritsch-ratsch wieder zusammen – und fort gings.

Spät nacht hielten wir auf einem Umspannplatz, und hier sollte mich ein Bauernfuhrwerk abholen. Ich erwartete es im Blockhaus einer Arbeiterabteilung – einem von Landstürmern erbauten hübschen, halb in die Erde versenkten 216 Häuschen. Hier war ich der Front schon ziemlich nah; man sah am Horizont das Wetterleuchten grünlicher Raketen.

 

– 2. Feber 1916.

Ich schlief die Nacht beim Stab des Wiener Korps in Omelno – gottvoll auf einem in Zeltblätter gepackten Strohbund – im Lehrerzimmer einer ehemaligen jüdischen Schule. Morgens lud mich der Oberstabsarzt ins Militärbad; man darf sich darunter beileibe nichts Primitives vorstellen – das Zimmerchen mit der Wanne müßte nur Tapeten statt der Balkenwände haben, dann wär es jedem Berliner recht.

Ich besuchte einige Offiziere in ihren Wohnungen; die einen haben sich in Bauernhütten eingerichtet – warm und reinlich; andre in den neugezimmerten Unterständen loben sich's noch mehr. Man führte mich in die Räume der Stabs- und Reservemannschaft, in die Stallungen – immer das Bild des Behagens nach entbehrungs- und arbeitsreicher Zeit. Holzbelegte Pfade führen von Tor zu Tor. Die Brunnen sind gereinigt, eingefriedet; Zäune und Pforten von zierlichen Birkenstämmchen. »Nur vor Regenwetter bewahr' uns Gott!«

Das Poljesje ist ein verdammtes Stück Erde – oder Ozean? – von allen Kriegstheatern, die ich kenne, nur mit der serbischen Matschwa zu verglichen Wer das Wort »Matschwa« hört, 217 muß das Gelände schon im Geist vor sich sehen; »Poljesje« wieder bedeutet Urwald, Sumpfwald. Poljesje, das Dreieck zwischen Dnjepr und Brest-Litowsk, groß wie eine Provinz, porig wie ein Schwamm, arm wie die Wüste, ist niemals Schauplatz von Kämpfen gewesen. Es hat keine Generation vor unsrer sich – und das im Winter, mit Heeresmassen und schwerer Artillerie – in die Dolomiten, in die Karstberge Albaniens, in die Ursümpfe Rußlands gewagt.

Das Poljesje ist eine einzige Ebene; und wenn ein Hügelchen daraus drei Meter hochragt, gilt es schon als beherrschender Gipfel. Das ganze häßliche Land ist Sand und Ried. Stellenweis liegt eine Schichte Lehm unter dem Sand: undurchlässiger Lehm, der das Wasser geizig zurückhält; beim ersten Spatenstich des kämpfenden Schützen quirlt es schwarz und brodelnd auf. Manchmal auch milchweiß – wenn unterhalb des Sandes Kreide liegt.

Die vornehmste Sorge des Sappeuroffiziers ist nun, die Infanteriegräben so zu trassieren, daß sie möglichst die Höhenlinien ausnutzen; auch da noch muß man Bedacht auf die Schneeschmelze nehmen, die im Frühling den Boden weithin überschwemmen und aufweichen wird.

Wer die Höhenlinien hat, kann bewirken, daß das Wasser von ihm zum Gegner ablaufe; und die russischen Gefangenen klagen, daß uns 218 der Streich nur zu gut gelungen wäre: der Feind stände bis an die Brust im Sumpf.

Hier gilt es nichts die Gräben ins Erdreich zu ritzen, vielmehr: die Brustwehr aufzuschütten und mit Pfahlverkleidung und Korbgeflecht aufrechtzuhalten. Von den Stellungen müssen Laufgräben zurückführen – auch sie nicht in der Erde, sondern über ihr, von zwei Dämmen gebildet.

Und an die Laufgräben schließt das wirre, dichte Netzwerk der Pfade, Straßen, Feldbahnen an.

Anfangs, sagte man mir, hätten die Truppen selbst in dem ungewöhnlich trockenen Herbst hier Qualen von Nässe und Gliederreißen ausgehalten. Der Stellungskrieg mit seiner Unbeweglichkeit erlaubte aber, selbst dieser Natur durch kluge Beharrlichkeit kriegsgemäße Bequemlichkeiten abzulisten.

Zum Glück gibt es Holz in Menge; und was sonst an Baustoff vonnöten war, hat die Heeresverwaltung freigiebig nachgeschoben. Man kann der Schneeschmelze und Rasputitza – Weglosigkeit – ruhig entgegensehen; die Wege und Schützengräben werden unter allen Umständen gebrauchsfähig sein. Nächstens will ich den vordersten Schützengraben besuchen, um das Wunderwerk der Sappeurkunst mit eigenen Augen zu sehen.

Infanteriekampf ist dort nicht. Die Artillerien donnern heute fleißig; sie benutzen den kristallklaren Tag zum Einschießen. 219

 

– 5. Feber 1916.

Die Stadt Wien ist gleichsam Oberstinhaberin zweier Truppenkörper: der k. k. Landwehrinfanterieregimenter Wien Nr. 1 und Wien Nr. 24. Das erste Regiment besteht aus lauter Wienern, das zweite zum Teil auch aus Niederösterreichern vom Land. Beide Regimenter kämpfen seit Beginn des Krieges auf dem russischen Schauplatz.

Sie fochten bei Komarow, bei Lemberg, am San, an der Schrjenjawa; sie hatten rühmlichen Anteil am Erfolg von Limanowa; verteidigten den Dunajetz, die Biala und litten in den Karpaten mit. Als unsre Truppen im wiedereroberten Lemberg einzogen, waren die Wiener unter dem Obersten Pohl an der Spitze.

Ich habe gestern das Landwehrregiment Nr. 1, Interimskommandant Oberstleutnant Friedrich Bitterlich, in den Reservestellungen besucht, in Schurawitsche. Ein russisches Dorf, das groß wäre, hätten die Moskalen nicht die Hälfte niedergebrannt, darunter auch den Gutshof. Man mußte mir aber ausdrücklich sagen, daß der russische Rückzug hier mit Feuerbrand 220 durchgezogen ist, denn Ruinen sind nicht zu erblicken, an ihrer Stelle liegen halb in der Erde vergrabene lange Alleen von saubern Holzbaracken, aus Kieferstämmen gezimmert, elektrisch beleuchtet (jawohl – mit Hilfe eines Motors), mit Dachpappe und Sand bedeckt. Ein Flieger wird sie schwerlich finden; von oben gesehen, müssen diese endlosen Gebäude sich wie ein breit gebeeteltes Ackerfeld ausnehmen, und nur die qualmenden Schornsteine der Schwarmöfen können auf den Gedanken führen, daß unter diesen Furchen Menschen wohnen.

Drinnen in den luftigen Gelassen reihen sich auf Holzpritschen dicht die Lagerstätten. Paradiesische Betten sind es nicht; nur eine Schicht Stroh oder Wollin und darauf die grobe Decke. Doch man ist im Krieg und liegt trocken, warm und – was die Hauptsache ist: ruhig. »Die Strapazen und Gefahren,« sagte mir unlängst ein Offizier, »habe ich willig und gern erduldet; nur eins hat mich besonders gequält: das Gefühl, eine eben begonnene Rast könnte durch eine Befehlsänderung unterbrochen werden.« Wenn viele dieser Sinnesart sind hier beim Wiener Landwehrregiment, dann müssen sie sich in ihren Baracken wohlfühlen. Es ist ein halber Frieden, in dem sie leben; dem jüngsten Tambur wird einleuchten, daß man der Truppe weniger Bauarbeit aufgebürdet hätte, wenn sie die schönen Baracken nicht noch Wochen ausgenießen sollte.

221 Gestern zeigte sich – zwar nicht Nervosität, aber doch ein plötzliches Erwachen in Capua. Man scharrte in Eile die Prügelwege zurecht, kilometerweit; man richtete eine kleine Triumphpforte auf, man schmückte Türen und Tore mit ein bißchen Grün. All das diskret und unauffällig; wenn feindliche Flieger kämen, dürfen sie ja nichts merken Die schwarz-gelbe und die rot-weiß-grüne Flagge des Stationskommandos bleiben noch zusammengerollt. Bis heute, Samstag mittag.

Heute, Samstag mittag kommt nämlich der Thronfolger.

Er wird in Perespa den Hofzug verlassen und ein Stück auf der Lokomotivfeldbahn weiterfahren, der Front zu. Von der Feldbahnhaltestelle bringt ihn ein Auto her. Das Gotteswunder, daß hier ein Auto verkehren kann – im berühmtesten Sumpf – hat der Fleiß unsrer Soldaten bewirkt, und der Frost war ihr Helfer. Der Erzherzog wird sehen können, was es heißt: Krieg führen im Sumpf – und dann auch: wie brav die Wiener ihre Nachschublinie bestellt haben. Es ist ein Straßennetz im Rücken der Armee entstanden, daß man zu den Promenadenwegen nur noch die Kurhotels herbeizaubern müßte, um das Bild der Winterfrische zu vervollständigen.

Ich habe mich gewundert, wie rasch, sozusagen kriegsgemäß solch ein hoher Besuch an der Front eingeleitet wird. Im Frieden gäbe es da 222 schon Monate vorher Aufregung, Absperrung, Ueberwachungen. Jetzt? Im tiefsten Rußland? Man stellt ein paar Patrouillen auf zu Fuß und zu Pferd, läßt sie die Gegend abstreifen und Verbindung halten, bannt die Zivileinwohner für zwei, drei Stunden in den Häusern fest – und damit ist das wichtigste getan. Alles nur die selbstverständlichsten Vorsorgen; nichts darüber.

Um zwölf Uhr mittag trifft der Thronfolger auf der Haltestelle ein, und eine halbe Stunde braucht das Auto bis hierher. Um zwölf Uhr marschieren die Truppen zum Stelldichein an den Saum des Waldes: ein Teil des Landwehrregiments Bitterlich und dann noch ein Nachbarbataillon der andern Brigade – jene Einheiten, die grade in der Reserve stehen. Marschadjustierung. Genau so, wie sie aus dem Schützengraben gekommen sind. Festlich sind nur die Gesichter und das Tannenreis auf den Kappen.

Man formiert sich in zwei Treffen – unter den Bäumen, gegen Fliegersicht gedeckt; die Pferde der Offiziere verschwinden im Wald. Wenn jetzt einer dieser verdammten moskalischen Spähvögel heransurrte – er sähe nichts als einen Trompeter an der Wegkreuzung, der das Hornsignal bei Ankunft des Gastes blasen wird.

Es ist trüb, nicht allzu kalt. Man läßt die Bataillone hie und da ein paar Griffe klopfen, um sie wach und gelenkig zu halten. Im Busch steckt eine fliegende Telefonstation; ihre 223 Ordonnanz meldet, daß Seine kaiserliche Hoheit eben das letzte Dorf passiert hat.

Und eh' man's gedacht, schmettert an der Wegkreuzung der Generalmarsch. Die Autos rollen heran: im ersten der Divisionär mit seinem Generalstabschef und Ordonnanzoffizier. Im zweiten der Korpskommandant. Im dritten der Armeeführer Erzherzog Josef Ferdinand. Endlich der Thronfolger selbst mit den Herren seiner engsten Umgebung.

Die Musik spielt das »Gott erhalte«; es braust mächtig im Wald. Kommandorufe; die Bataillone stehen wie aus Stein gehauen.

Der Erzherzog erwidert munter und lebhaft den Salut. Laut, damit man es weithin höre, bestellt er dem Divisionär die Grüße des Kaisers an die brave Wiener Landwehr. Dann schickt er sich an, die Front abzuschreiten. Oberstleutnant Bitterlich ihm zur Linken mit gesenktem Säbel. Hinten folgt die lange, glänzende Suite.

Der Oberstleutnant ist reich dekoriert.

»Wofür?« fragt der Erzherzog.

»Eiserne Krone und Eisernes Kreuz für Limanowa; das Militärverdienstkreuz für den zweiten Vormarsch an der San.«

Der Erzherzog erinnert sich gleich der Situation: bei Limanowa hat ja die Wiener Landwehr im Verein mit Heeresinfanterie Nr. 14 Hunderte von Gefangenen gemacht.

Jeder sichtbar ausgezeichnete Offizier und 224 Mann wird angeredet, jeder nach seiner feindlichen Affäre befragt – auf Deutsch, auf Ungarisch, auf Tschechisch – je nachdem. Denn es gibt allerhand Muttersprachen hier bei den Wienern: als das Regiment damals in der Karpatenschlacht so in Bedrängnis war, schob man ihm die erstbesten freien Marschbataillone zu, ohne viel zu fragen, woher sie kämen.

Dem Hauptmann Seda gratuliert der Erzherzog noch besonders zu dem Militärverdienstkreuz, das er sich bei Karpilowka holte, desgleichen dem Hauptmann Wanka. Nicken, Händeschütteln, Schulterklopfen – stundenlang, unermüdlich. Als das erste Treffen abgeschritten ist, setzt der Thronfolger sein wißbegieriges Fragen, das innige Beloben der Leute ebenso unermüdlich im zweiten Treffen fort.

Der Erzherzog erblickt einen Unteroffizier, der die goldne Tapferkeitsmedaille trägt. Es ist der Reserve-Offiziersstellvertreter Anton Artner, im bürgerlichen Leben Weinschenker zu Wien. Artner meldet, wie er sich die Auszeichnung erwarb: es war am San, südlich von Sjenjawa, im Herbst 1914 – da deckte Artner mit einem Zug den Rücken einer von Russen eingekreisten Abteilung. Er bekam einen Schuß ins Kreuz, blieb aber tapfer und kämpfend acht volle Tage im Schützengraben bei seiner Schar. Die eiserne Ration war verzehrt, man nährte sich von Wasser und Zigaretten. Als die Munition 225 verschossen war, fand man zufällig in dem von andern Truppen verlassenen Schützengraben eine neue Kiste. Das Vorfeld war von russischen Leichen übersät. Endlich kam Entsatz.

Der Thronfolger hört nicht auf, nach Einzelheiten zu fragen; er möchte offenbar der Seele auf den Grund schauen eines Soldaten, der in solch einer verzweifelten Lage war.

Das Regiment hat zahllose Tapferkeitsmedaillen erhalten. Da ist der Offiziersstellvertreter Pacula: er trägt drei auf der Brust und überdies die deutsche Kriegsverdienstmedaille für Krasnik, Lublin und die Kämpfe an der Schrjenjawa (nördlich von Krakau.) Feldwebel Seidler, ein Wiener Portier, ist zum drittenmal freiwillig im Feld, nachdem er zweimal verwundet worden war. In der Schlacht bei Limanowa hat er die Kobylahöhe erobern helfen und war einer jener Helden, die nach einem abenteuerlichen Handgemenge mit den Russen in Gefangenschaft geraten waren, bis unser Vormarsch sie befreite.

Viele der Besten von »Lir 1« (Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 1) fehlen heute: Oberst Kneisl, der eigentliche Kommandant. Major Puchalak, der Tapferste von Karpilowka: er hat dort als Letzter bei den Maschinen ausgeharrt. Major v. Schönowski (als Lyriker unter dem Namen v. Schönwies bekannt.) Von den drei Herren sind die einen auf Erholungsurlaub, der dritte im Schützengraben. Ebenso fehlt heute 226 Feldwebel Seidelböck, ein Mann, der mit Narben bedeckt vom Kopf bis zu den Füßen ist aus den ersten Schlachten des Regiments.

Hauptmann Roller fiel auf der Jasionka bei Schymbark. Als ein Brustschuß ihn gefällt hatte, hauchte er noch: »Die Höhe ist zu halten.« Dann ging er hinüber. – Reservehauptmann Lichtensteiner liegt hier draußen am Waldrand begraben.

Der Erzherzog geht von Kompagnie zu Kompagnie und verweilt bei jeder Tapferkeitsmedaille. Er hat einen so warmen Ton, es ist so viel Kraft und Herz in jedem Wort, daß dem einfachen Soldaten wie dem Offizier gewiß fürs Leben der Augenblick in Erinnerung bleiben wird, wo der Thronfolger sich um sein kleines Schicksal zu interessieren schien.

Zuletzt wendet sich der Prinz an den Kapellmeister Zivny des Nachbarregiments und dankt ihm für die guten Dienste, die der Kapellmeister dem Offizierskorps seit Jahr und Tag geleistet hat: durch treue Sorge für die Gesunden und Kranken, sogar durch Nachschleppen von Munition in die Schwarmlinien. Bei demselben Truppenkörper ist ein Hauptmann v. Koczian; er hat sich und etliche Leidensgenossen durch einen kühnen Entschluß aus russischer Gefangenschaft befreit und wird nun vom Erzherzog dafür besonders geehrt.

In der gewinnenden Art – wie der Erzherzog das alles macht – weitab von jeder 227 Flüchtigkeit, frisch und gleich jugendlich-kameradschaftlich von Anfang bis zu Ende – liegt ein Pflichtbewußtsein, für das nur unser Kaiser Vorbild gewesen sein kann.

Für des Erzherzogs liebenswürdiges Wesen wieder spricht ein Vorfall, der sich dieser Tage beim Salzburger Regiment Nr. 59 ereignet hat: Dort wurden dem Thronfolger zwei Brüder Schrott vorgestellt, Unteroffiziere, beide Inhaber der Goldnen Medaille. Der Oberst meldete, er habe den Brüdern eben Urlaub bewilligt. Der Erzherzog nahm sie gleich im Hofzug mit, »damit sie früher zu Hause wären.«

Ehedem wollten manche die äußere Erscheinung des Thronfolgers seinem Oheim, dem König von Sachsen vergleichen. Wenn eine Aehnlichkeit bestand – ich entdecke sie nicht mehr. Die hellen blauen Augen sind jedenfalls lothringisch.

Der Rundgang ist zu Ende, die Truppen fallen in Doppelreihen ab zur Defilierung. Der Schönfeldmarsch erklingt im russischen Wald. Unter Fanfarenklängen und Paukenschlägen verschwindet fast ein Kanonendonner, der dort links vorn aus dem nächsten Abschnitt herüberdröhnt.

Nach der Parade findet der Erzherzog neue Arbeit im Dorf: Da stehen Abordnungen von allen Truppenkörpern der Wiener Division – ausgezeichnete Leute, Hoch und Nieder, die ebenfalls beglückwünscht sein wollen. Ich kann die Spannkraft des Erzherzogs nicht genug bestaunen.

228 Dann ein Mahl im Standort des Divisionsstabs, Mykow. Gastgeber: der kluge, feine Feldmarschalleutnant v. Székely, das Bild abgeklärter Weisheit – und Major Bartos, sein Generalstabschef, ein Feuerkopf.

Sehr merkwürdig: vor kurzen Wochen war hier noch nichts als eine nasse Wiese. Ein Generalstäbler, Rittmeister Blumauer, ließ sechzehn Piloten in die Wiese schlagen und errichtete darauf ein wunderbares Haus als Erholungsheim der Division. Im Saal des Erholungsheims nun versammeln sich die Offiziere um den Erzherzog zum Abendessen. Man meint, im Gesellschaftszimmer eines modernen Wiener Hauses zu sein. Da ist von der Türschnalle an bis zu den elektrischen Lüstern kein Stück und Stückchen anders als von gediegenstem Geschmack. Die Wände mit Rupfen bekleidet, die Decke des Zimmers braun gebeiztes Balkengefüge; die Fenster (schon um der russischen Flieger willen) mit hübschen Vorhängen verdeckt. Zwischen ihnen drei Bilder des Oberleutnants Kitt, eines Schülers von Egger-Lienz, Szenen aus dem russischen Krieg. Wer würde solch ein Schmuckkästchen von Saal in der wolynischen Wildnis suchen? So nah am Feind?

Reise, Parade, Anreden und Gegenreden – man meint, der Erzherzog müßte nun übermüdet vom langen Tagwerk sein. Als ihm aber der Stabsarzt vorgestellt wird, beginnt wiederum 229 ein langes, neugieriges Gespräch, diesmal über den Gesundheitszustand der Truppe. Mit dem Intendanten redet der Thronfolger über den Verpflegsnachschub; so sachlich, so eingehend, daß der Zuhörer den bestimmten Eindruck empfängt: dieser Prinz weiß viel und möchte noch mehr lernen.

Als ich an die Reihe komme, sprudelt der Erzherzog hervor:

»Sie waren zuletzt in Serbien – ich habe es gelesen.« Er knüpft an die Berichte über die Stimmung der serbischen Bevölkerung an und verlangt zu erfahren, wie die Bauern jetzt dort wirtschaften und denken. Die Kaufleute? Die Popen? Die Politiker? Die Lehrer? Ob sie widerspänstig sind? Oder sich fügen? Ob Not herrsche? Und an welchen Dingen? Wie sich der Verkehr abwickelt im Rücken des Heeres? – Als er schon Platz genommen hat, erinnert sich der Thronfolger wohl, Berichte von mir auch vom russischen Kriegsschauplatz gelesen zu haben (oder hat einer der Herren ihm davon gesprochen) – und schon erkundigt sich der Erzherzog mit dem gleichen Eifer auch um die Gegend von Dubno.

Er kommt beim Essen auf den Balkankrieg zurück und äußert sich aufrichtig befriedigt darüber, daß wir in Serbien und Montenegro, »auf dem östlichen Ufer der Adria,« so rasch und endgültig Ordnung gemacht haben.

»Hoffentlich kriegen wir 's auf dem westlichen 230 Ufer auch so ähnlich fertig,« ruft Graf Vetter von der Lilie. Graf Vetter, der ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses, ist Oberstabsarzt und Sanitätschef eines Korps hier an der Ostfront.

Der Erzherzog greift sofort den Gegenstand auf. Was er über Italien sagt, zeugt dafür, wie wohl er das Volksempfinden in Oesterreich-Ungarn einzuschätzen weiß: daß der Krieg nicht enden dürfe ohne einen empfindlichen Denkzettel für die ungetreuen Bundesgenossen.

Alle Themen, die den Soldaten im Feld berühren, kommen am Tisch zur Sprache: nach der Politik und den großen Vorgängen auch kleine Geschehnisse des Krieges, Erfahrungen, Anekdoten aller Art – alles vom bukowinischen Durchbruchsversuch bis hinab zur Frage der Feld- und Paradebekleidung, des historischen weißen Waffenrocks, dessen Verschwinden aus der Armee der Thronfolger bedauert.

Die Tafelmusik spielte – ein Schrammel-Quartett, das sich unter den Kanzleiordonnanzen nach und nach gebildet hatte. Dann folgte Männergesang – wiederum ein zufällig entstandener Chor. Der Erzherzog scheint, wie sein verstorbener Vater, das Wiener Lied zu lieben. Als ein Reserveoberleutnant, der Hofbeamte Lachmann, eine populäre Walzerarie anstimmte, summte der Erzherzog sogar fröhlich den Refrain mit.

231 Man hatte einen famosen Lautenschläger aus dem Schützengraben kommen lassen, den Wiener Kommunallehrer Muck, und er sang sehr hübsch Volkslieder aus Steiermark und Kärnten. Die amüsierten den Thronfolger noch mehr.

Punkt zehn Uhr abend aber, man konnte die Uhr darnach richten, stand der Erzherzog auf, um sich zurückzuziehen. Vielleicht tat er's nicht einmal gern – er ist ja jung und heiter von Natur und hat sicherlich solch ungezwungene Abende im Kreis Gleichaltriger nicht oft erlebt. Daß er sich aber so wohl im Zaum hält, gefiel mir wiederum sehr an ihm. Ich glaube, wer ihn heute als Soldat erlebte, geht für ihn durchs Feuer. 232

 


 


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