Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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[Zwei Fragmente]

(1900)

[I]

Fragment: Als der Tod mit dem Morgen kam, war ihr vieles Leben ganz in ihr Gesicht eingetreten. Von dort riß es der Tod, und er hat ihren mädchenkühlen Leib nicht angerührt. Aber rasch sprang sein kurzer Griff aus ihrem gedrängten Gesicht zurück, wie aus weichem Ton, und ließ alle Züge weit ausgezogen, lang und scharf zurück. Georg konnte dieses spitze Kinn und diese dünne Nase, auf deren Kante der Schatten hart abgegrenzt war, nicht sehen. Er ging hinaus, brach mit bösem Blick zwei harte herbstliche Knospen von roten Rosen, die frostig und beschlagen in der Herbstluft standen, ging mit den beiden sehr schweren Blüten im Garten umher und kam von selbst wieder in das Zimmer zu seiner mädchenhaften Toten. Es quälte ihn, daß der letzte Blick noch immer dunkel in ihren offenen Augen stand. Er drückte ihre breiten weißen Lider zu, indem er sie zitternd unter der Stirn hervorzog, und legte auf jedes Lid eine harte Rose, schwer. Dann erst konnte er das Angesicht der Gestorbenen ruhig betrachten. Und je länger er es ansah, desto mehr empfand er, daß noch eine Welle Leben an den Rand ihrer Züge herangespült war, die sich langsam wieder nach innen zurückzog. Er erinnerte sich sogar, dieses Leben, wie es jetzt auf der Stirne und um ihren überlittenen Mund lag, in sehr schönen Stunden bei ihr begrüßt zu haben, und er wußte, daß dies ihr heiligstes Leben sei, dessen Vertrauter er kaum geworden war, von dem er nur wie aus Gerüchten und Liedern wußte. – Sie war gestorben. Der Tod hatte dieses Leben nicht aus ihr geholt. Er hatte sich täuschen lassen von dem vielen Alltag in ihrem gelösten Gesichte; den hatte er ihr fortgerissen zugleich mit dem sanften Umriß ihres Profils. Aber das andere Leben war noch in ihr, vor einer Weile war es bis an den Rand des entstellten Mundes herangeflutet und jetzt trat es langsam zurück, floß lautlos nach innen und sammelte sich irgendwo über ihrem zersprungenen Herzen. Und Georg hatte eine unendliche Sehnsucht, dieses Leben, welches dem Tod entgangen war, zu besitzen. Er war ja der einzige, der es empfangen durfte, der Erbe ihrer Blumen und Bücher und ihrer sanften Gewänder, die noch nach der Sonne des letzten Sommers dufteten und nach ihrem leichtbewegten Leibe, – er allein konnte auch der Empfänger dieses Lebens sein, das bald nichtmehr erreichbar war für sein trauriges Auge. Er wußte nicht, wie er diese Wärme, die so unerbittlich aus den Wangen sich zurückzog, festhalten, wie er sie fassen, womit er sie nehmen sollte. Er suchte die Hand der Toten, die leer und offen, wie die Schale einer entkernten Frucht, auf der Decke lag. Die Kälte dieser Hand war gleichmäßig und still, und sie gab bereits völlig das Gefühl eines Dinges, welches eine Nacht lang im Tau gelegen hat, um dann rasch im starken Frühwind kalt und trocken zu werden. Da rührte sich plötzlich ein Schatten im Gesichte der Toten. Gespannt sah Georg hin; lange blieb alles still, dann zuckte die linke Rose. Und Georg sah: sie war viel größer geworden. Die Spitze, in der die vielen Blätter sich aneinanderfügten, war breiter geworden, und auch der Kelch unten war wie von einem Atemholen gehoben. Und es wuchs auch die Rose über dem rechten Auge. Und während das spitze Gesicht sich an den Tod gewöhnte, ruhten die Rosen immer voller und wärmer über den vergangenen Augen. – Und als es Abend geworden war nach diesem lautlosen Tage, trug Georg zwei große rote Rosen in der zitternden Hand ans Fenster. Wie in zwei Kelchen, die vor Schwere schwankten, trug er ihr Leben, den Überfluß ihres Lebens, den auch er nie empfangen hatte.

[II]

Und ein anderes Fragment noch: Sie lebte das Leben der anderen auf dem entlegenen Gute teilnahmslos mit. Ihre Einsamkeiten, in denen sie wuchs und wurde, verbrachte sie in einer von allen vergessenen wilden Rosenlaube, die vielleicht eine große Verwöhnung war für die täglichen Träume ihrer Seele. Dann kamen Gäste. Mit ihnen Georg. Und ihr ganzes Leben wurde abgelenkt von der verlassenen Laube und ging unter ähnlichen Mädchen und auf weiten Wiesen vor sich, die von lichten Kleidern schimmerten. Dann lernte sie neben Georg die langen Alleen gehen, die Alleen des Abends, die so wundersam weit führen, viel weiter als alle Wege am Tag. Und am Ende einer dieser Alleen, wo diese unvermittelt an die Mauer stieß, lernte sie Abschied nehmen. Oder eigentlich, sie lernte es nicht. Er war gegangen und mit ihm der Sommer. Wie soll man da Mut haben zu Herbsttagen? Eine Woche lang ging sie an allen vorbei. Sie hatte noch nicht geweint. Aber eines Morgens kam sie vor die Rosenlaube. In diesem Augenblick fühlte sie die ganze Tiefe und Treue des Lebens, welches sie gehabt hatte vor Georg. Und sie sehnte sich nach diesen langen ähnlichen Mädchentagen, und fühlte, daß sie ihnen nicht entfremdet war. Und sie trat ein. Vom engen Eingang riß ein Spinnennetz und blieb zitternd auf ihren blassen Wangen liegen, die es mit einem Schleiergefühle umspannte. Und mit so verhülltem Gesicht, sah die Wiederkehrende in die dunkle Laube hinein, in der sich nichts verändert hatte . . .


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