Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Kismét

Skizze aus dem Zigeunerleben

(1897)

Der starke Král saß breit und schwer am Rain des furchigen Feldweges. Tjana hockte neben ihm. Sie hatte ihr Kindergesicht in die braunen Hände gepreßt und verharrte so mit großen Augen, lauschend und lauernd. Sie schauten in den Herbstabend. Vor ihnen in der blassen, kranken Wiese stand der grüne Wanderwagen, und bunte Windeln wehten sachte über seiner Tür. Aus dem engen Eisenschlot wirbelte ein leichter, blauer Rauch, der zitternd in der satten Luft zerfloß. Dahinter in den Hängen, die in langen flachen Wellen näher zu fluten schienen, watete der matte Zuggaul und riß hastig das spärliche Spätgras. Manchesmal blieb er stehen, hob den Kopf und schaute mit den guten geduldigen Augen in denselben Abend, drin kleine Dorffenster aufflammten und grüßten.

»Du«, sagte Král mit wildem Entschluß, »er ist deinetwegen da.«

Tjana schwieg.

»Was sucht der Prokopp sonst hier?« fügte der Král mürrisch hinzu.

Tjana zuckte die Achseln, riß mit raschem Griff ein langes, silbernes Gras ab und hielt es spielend zwischen den blitzend weißen Zähnen. Dann blieb sie still, als zählte sie die Lichter im Dorf.

Dann begann drüben das Ave.

Die kleine gelle Glocke eilte sich übermüde zu Ende. Sie brach unvermittelt ab. Wie eine Klage blieb in der Luft. Die junge Zigeunerin warf die schlanken Arme zurück und lehnte sich an den Hang. Sie schloß die Augen. Sie hörte das zage Zirpen der Grillen und die matte Stimme der Schwester, die ein Schlummerlied sang in dem grünen Wagen.

Beide lauschten eine Weile. Dann begann das Kind im Wagen zu weinen, leise, in langen, hoffnungslosen Tönen. Tjana wandte den Kopf zu dem Zigeuner und sagte spöttisch: »Gehst nicht, deinem Weib helfen, Král! 's Kind schreit.«

Der Král packte ihre Hand.

»Der Prokopp ist deinetwegen da«, wütete er als einzige Antwort.

Trotzig nickte das Mädchen: »Ich weiß.«

Da faßte der starke Král auch ihre andere Hand und preßte sie an den Hang. Wie gekreuzigt war Tjana. Sie biß sich die Lippen wund, um nicht zu schreien. Drohend hatte er sich über sie geneigt. Tjana sah nichts mehr vom Abend. Sie sah nur ihn mit seinen breiten schweren Schultern. Er war so groß über ihr, daß er den Wagen und das Dorf und den blassen Himmel verdeckte. Sie schloß eine Sekunde die Augen und fühlte: »Král heißt König zu deutsch. Und er ist einer.«

Allein im nächsten Augenblick empfand sie den heißen Schmerz an den Handgelenken wie eine Schmach. Sie fuhr auf, riß sich mit jähem Ruck los und stand vor Král mit wilden, sprühenden Augen.

»Was willst du?« stöhnte er.

Tjana lächelte leise: »Tanzen.«

Und sie hob die schlanken, kindlich zarten Arme und ließ sie leise und langsam auf und nieder wehen, als sollten die braunen Hände Flügel werden. Sie lehnte den Kopf zurück, weit, daß die schwarzen Haare schwer hinabglitten, und schenkte ihr fremdes Lächeln dem ersten Stern. Ihre leichtgelenken bloßen Füße suchten tastend einen Rhythmus, und ein Wiegen und Schmiegen war in ihrem jungen Leib, bewußtes Genießen und willenloses Hingeben zugleich, wie es den langstieligen feinen Blumen zu eigen ist, wenn der Abend sie küßt.

Mit zitternden Knieen stand der Král vor ihr. Er sah die blasse Bronze ihrer freien Schultern. Dunkel empfand er: Tjana tanzte die Liebe. –

Ein jeder Hauch, der über die Wiesen kam, schmiegte sich ihrer Bewegung in leichter, schmeichelnder Liebkosung an, und alle Blumen träumten in ihrem ersten Traum davon, sich so zu wiegen und so zu grüßen. Tjana schwebte näher und näher an den Král heran und neigte sich so fremd und seltsam, daß seine Arme gelähmt blieben vor lauter Schauen. Wie ein Sklave stand er und hörte auf das Jagen seines Herzens. Tjana wehte an ihn heran, und die Glut ihrer nahen Bewegung schlug wie eine Welle über ihn. Dann glitt sie weit, weit zurück, lächelte stolz und sieghaft und fühlte: »Er ist doch kein König.«

Der Zigeuner erwachte langsam und verfolgte sie wie ein Traumbild, tastend und heimlich. Plötzlich hielt er inne. Es fügte sich etwas ein in Tjanas schwebendes Wiegen. Ein leises, flutendes Lied, das längst in der Bewegung zu schlummern schien und das jetzt aus ihren Takten immer reicher und voller aufblühte. Die Tanzende zögerte. Alle ihre Bewegungen wurden langsamer, leiser, gleichsam lauschender. Sie blickte Král an, und die beiden empfanden das Lied wie etwas Schweres, Lähmendes. Sie wandten unwillkürlich die Augen nach derselben Richtung und erkannten: Den Weg daher kam Prokopp. Als Silhouette hob sich sein knabenhafter Körper von der silbergrauen Dämmerung ab. Er ging wie unbewußt mit träumenden Schritten und blies das leise Lied auf einer schlichten Bauernflöte. Sie sahen, wie er näher und näher kam. Da sprang der Král vor und riß dem Jungen die Holzflöte von den Lippen. Der Prokopp umklammerte, rasch gefaßt, mit seinen mannhaften Händen die Arme des Angreifers, hielt ihn fest und ertrug mit fragendem Auge den heißen feindlichen Blick des Král. So standen die Männer einander gegenüber. Alles ringsum war ganz still, und der grüne Wagen schaute durch die trüb erleuchteten kleinen Fensterchen wie mit zwei traurigen, wartenden Augen ins Land.

Ohne ein Wort gaben die Zigeuner sich plötzlich frei. Beide schauten nach Tjana hin. Der Král mit glühendem Trotz, der junge Mann neben ihm mit leisem fragendem Gestehen im dunklen Auge. Unter den Blicken dieser beiden sank Tjana in sich zusammen. Einmal war ihr, sie müsse zu Prokopp gehen, ihn küssen und fragen: »Woher hast du das Lied?« Aber sie fand nicht die Kraft. Sie hockte am Wegrain, hilflos wie ein frierendes Kind, und schwieg. Ihr Mund schwieg. Es schwiegen ihre Augen.

Eine Weile warteten die Männer; dann warf der Král dem andern einen feindselig auffordernden Blick zu und ging voran. Der Prokopp verharrte noch. Tjana sah das Abschiednehmen seiner traurigen Augen. Sie zitterte. Und dann wurde die schlanke, gelenke Gestalt immer schattenhafter, ungewisser und verlor sich auf dem Wege, welchen der Král gegangen war. Tjana hörte die Schritte in den Wiesen verhallen. Sie hielt den Atem an und lauschte in die Nacht:

Es kam ein Wehen über die flachen Felder, warm und friedsam, wie der Atem eines schlafenden Kindes. Alles war klar und still; und aus der weiten Stille lösten sich die leisen Laute der jungen Nacht: Blätterrauschen in greisen Linden, ein Bach irgendwo und das schwere, reife Fallen eines Apfels ins hohe Herbstgras.


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