Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Greise

(1897)

Herr Peter Nikolas hatte mit seinen fünfundsiebzig Jahren eine ganze Menge vergessen: die traurigen und guten Erinnerungen, die Wochen, die Monate und die Jahre. Nur von den Tagen hatte er noch eine leise Ahnung. Und wenn er mit seinen schwachen und immer schwächeren Augen auch jeden Sonnenuntergang wie verblaßten Purpur und jeden Morgen wie vieux rose schimmern sehen mußte, den Wechsel empfand er doch. Im allgemeinen störte er ihn, und der Alte hielt diese Anstrengung für überflüssig und töricht. Der Wert von Frühling und Sommer war ihm auch entschwunden. Schließlich fror er immer, wenige Augenblicke ausgenommen. Dann war es ihm aber vollständig gleichgültig, ob er deren Glut dem Kaminfeuer oder der Sonne dankte. Nur daß letztere bedeutend billiger kam, wußte er. Deshalb humpelte er an jedem Tag, da er die Sonne fand, in den Stadtpark und setzte sich auf die lange Bank unter der Linde zwischen den alten Pepi und den alten Christoph aus dem Armenhaus.

Seine täglichen Banknachbaren waren wohl noch älter wie er. Sobald Herr Peter Nikolas sich niedergelassen hatte, krächzte er und nickte dann. Und rechts und links von ihm nickte es mechanisch wie aus Ansteckung. – Dann stemmte Herr Peter Nikolas den Stock in den Sand und legte die Hände auf dessen krumme Krücke.

In einer Weile legte er noch sein rundes, glattes Kinn hinzu und blinzte zum Pepi nach links. Er beobachtete, so gut er konnte, den roten Kopf, der, wie welk, von dem feisten Nacken hing und abzufärben schien; denn der breite weiße Schnauzbart war an seinen Wurzeln ganz schmutziggelb. Der Pepi saß vornübergeneigt, hatte die Ellenbogen auf die Kniee gestemmt und spuckte von Zeit zu Zeit durch die gefalteten Hände hindurch auf den Sand, wo sich schon ein kleiner Sumpf staute. Er hatte zeitlebens sehr viel getrunken und schien dazu verurteilt, wenigstens die Zinsen der verbrauchten Flüssigkeit ratenweise an die Erde abzuzahlen.

Als Herr Peter nichts Neues an Pepi bemerkte, schob er sein Kinn auf dem Handrücken mit halber Wendung nach rechts. Christoph hatte gerade geschnupft und knipste mit sorgsamen gotischen Fingern die letzten Anzeichen dieser Beschäftigung von dem fadenscheinigen Rock. Er sah unglaublich gebrechlich aus, und zur Zeit, da Herr Peter noch gewohnt war, sich ab und zu mal zu wundern, hatte er oft gedacht, wie es der dürre Christoph überhaupt zustande gebracht hat, so auszuhalten ohne sich irgendwas abzubrechen ein ganzes Leben lang. Am liebsten stellte er sich den Christoph vor als dürres Bäumchen, mit dem Halse und den Fußgelenken an eine tüchtige gesunde Stützstange gebunden. Christoph fand sich nun nett genug, rülpste ein wenig, welches entweder ein Zeichen von Zufriedensein oder von schlechter Verdauung war. Dabei zermahlte er ohne Unterlaß etwas zwischen den zahnlosen Kiefern, und seine schmalen Lippen schienen sich aneinander scharf gerieben zu haben. Es war, als mochte sein träger Magen auch die Minuten nicht mehr verdauen, und Christoph mußte nun jede einzelne kauen, so gut das eben ging.

Herr Peter Nikolas drehte sein Kinn zurück nach gradaus und schaute mit den triefenden Augen ins Grün. Dann störten ihn die Kinder in den Sommerkleidern, die wie lichte Reflexe in einem fort vor den grünen Büschen auf und nieder sprangen. Er senkte ein wenig die Lider. Er schlief nicht. Er hörte das leise Mahlen des mageren Christoph, dem die Bartstoppeln knisterten, und das laute Spucken des Pepi, der dann und wann in seiner schleimigen Sprache fluchte, wenn ein Hund oder ein Kind ihm zu nahe kam. Er vernahm ein Kiesrechen auf fernen Wegen und die Schritte Vorübergehender und die zwölf vollen Schläge der nahen Uhr. Er zählte sie nie mehr, aber er wußte, daß Mittag war, wenn es so oft schlug, daß mans nicht mehr zählen konnte. Zugleich mit dem letzten Schlag schmeichelte ein Stimmchen an seinem Ohr: »Großvater – Mittag.«

Und Herr Peter Nikolas stemmte sich an seinem Krückstock in die Höh und legte dann eine Hand leise auf den Blondkopf des zehnjährigen Mädchens. Die Kleine holte sich die Hand jedesmal aus den Haaren wie ein welkes Blatt und küßte sie. Dann nickte der Großvater einmal nach links, einmal nach rechts. Und rechts und links von ihm nickte es mechanisch nach. Und der Pepi und Christoph aus dem Armenhaus schauten jedesmal zu, wie Herr Peter Nikolas mit dem kleinen blonden Mädchen hinter den nächsten Büschen verschwand.

Bisweilen kam es dann vor, daß auf dem Platze des Herrn Peter Nikolas ein paar arme, hilflose Blumen liegen geblieben waren, die das Kind vergessen hatte. Dann streckte der dünne Christoph seine gotischen Finger zaghaft langend nach ihnen aus, und später trug er sie auf dem Heimwege wie etwas ganz Seltenes und Wertvolles in der Hand. – Der rote Pepi spuckte dann verächtlich, und der andere schämte sich vor ihm.

Im Armenhaus aber ging der Pepi voran und stellte wie ganz zufällig ein Glas mit Wasser auf das Fenster ihrer Stube. Dann saß er still in der dunkelsten Ecke und wartete, bis der Christoph die paar armseligen Blumen in das Glas auf dem Fenster gesteckt hatte.


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