Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Ihr Opfer

(1896)

Sag! Bist du schon mal an einem Spät-Septembermorgen eine mittelböhmische Landstraße gegangen? – Der niedere, nebelschwangere, beengende Himmel scheint wie ein schmutzig graues Zeltdach auf die verkümmerten, fahlen Roßkastanien gespießt, welche die nußfarbige, von tiefen Räderrinnen gerunzelte Straße umgrenzen. Die rote Sonne hat ihr dunsttrunkenes Gesicht in dichte Schleier gehüllt; ein paar irre Strahlen huschen über die Wolkenwand und randen den Straßenkot mit gelben, dünnen Strichen. Ein mißmutiger Wind wälzt gelbe Blätter hin und wider und zerwirbelt den fadenscheinigen Rauch, der aus fernen Dorfdächern kriecht, – das ist ein Bild von unsäglicher, unbeschreiblicher, hilfloser Wehmut. – Wenn ich dies Bild denke, fühle ich einen großen Schmerz in der Nähe meines Herzens. Es zuckt dort etwas zusammen – und zerrt, zerrt bis mir die Tränen in den Augen brennen . . .

Dasselbe Gefühl ist in mir wach – wenn ich an das arme Weib denke, dessen Geschichte ich dir erzählen will.

Höre!

Die Dichter preisen die Liebe; und es muß doch etwas sein um ihre Macht. Ein Strahl der Sonne ist sie, der verklärt – sagen diese, – ein Gift, das berauscht, sagen jene. Und wirklich, ihre Wirkungen sind denen des Lustgases ähnlich, das der Arzt vor einer schweren Operation dem zitternden Kranken einflößt, – der Leidende vergißt den wühlenden Schmerz . . .

Agnes hatte auch alles Ungemach vergessen, – seit Wochen. Seit sie Hermanns Weib geworden war. – Waren es denn wirklich Wochen? – War es nicht vielmehr ein einziger lustschäumender Augenblick unnennbaren Glückes? Jene Zeit, wo Millionen neuer, süßer, geheimnisvoller Empfindungen im Herzen des Weibes – wie Elfen aus mondgeküßten Blüten – aufsteigen, wo die Jungfrau selbst zitternd staunt vor der Fülle der Gefühle, die in ihrem Innern ruhten, und wo ihr Auge glänzt wie eine heilige, ewige, erlösende Gottesverheißung.

In jener Zeit dämmert keine Frage auf in ihrer Brust, keine Sorge, kein Bangen bewölkt den Spiegel ihrer Seele. Sie lebt eine einzige, große, jauchzende Gegenwart, die keine Vergangenheit kennt, vor keiner Zukunft erbebt.

Und diesen süßen Rausch der ersten wonnigen Wochen schloß das verklärte Weib in ihr keusches Herz – und nahm ihn mit in die kommenden Jahre. –

*

Zwei Jahre. – Alles war anders geworden. Hermann war kalt und streng, teilnahmslos und geistesabwesend. – Seine stürmische Künstlerseele hatte rasch den Schaum der Liebesbegeisterung geschlürft – und das Weib war ihm nun nichts mehr – als ein Becher mit schalem, abgestandenem Tranke gefüllt.

Sie wußte es; der Rausch war vorüber. Sie sah schrecklich klar. – Sie wußte, daß sein Lächeln Mitleid war, seine seltene Schmeichelei Erbarmen, sein hauchender tonloser Kuß Gewohnheit. –

Sie wußte es – und sie verzieh.

Sie wußte aber auch, daß er schuldlos war. – Was sie ihm geben konnte – hatte sie gegeben. Er durfte nichts mehr erwarten. – Dieselbe Liebe, dieselbe Zärtlichkeit Tag für Tag, in derselben Weise. Mußte das nicht seine Künstlerseele zwängen und ängsten?

Wie war ihr dieser Gedanke gekommen? –

Erst wollte sie nicht an ihn glauben. – Aber doch – doch je öfter sie ihn dachte, desto natürlicher – selbstverständlicher – ja notwendiger schien er ihr.

Und sie gewöhnte sich daran. –

Das quälte sie nicht mehr.

Aber eine andere Qual wich nicht von ihr.

Hermann war so gut.

Sie wußte, er würde nie im Stande sein, ihr zu sagen: Geh! – Du hältst mich in Fesseln! Ich empfinde dich als Zwang! Geh!

Und doch fühlte sie im tiefsten Innern, zagend wie ein bei Bewußtsein Sterbender den Griff des Todes fühlt, – daß er so zugrunde gehen müsse. Daß diese Bande seine Schaffenskraft hemmen müßten, seine Geistesfrische zerstören. Daß heut oder morgen an Stelle der rege wechselnden Gedanken jene trübe, verbitterte, stumpfe Sinnesträgheit treten müsse, wie sie jungen Leuten eigen wird, die der frömmelnde Wunsch der Mutter in einem Seminar begrub.

Nie mehr verlor sie dieses Gefühl.

Es begleitete sie bei den wenigen Pflichten des Tages – und saß an ihrem Bett in endlosen, wachen Nächten.

Und in einer solchen reifte ihr ein Entschluß.

Zuerst machte er sie zittern.

Sie schloß die Augen.

Der Entschluß aber reifte und reifte.

Es war kein heilsamer, gesunder Vorsatz.

Er wuchs wie ein gräßliches Geschwür, das der Arzt mit Salben und Verbänden zurückgedrängt, und das nun umso furchtbarer nach innen ausbricht. –

Und an einem sonnigen Morgen nahm sie sich ein Herz.

»Hermann?!«

Hermann wandte sich ihr zögernd zu.

»Ich möchte dir etwas anvertrauen . . .«

»Anvertrauen? – Bitte . . .«

»Komm näher« – und sie legte den Arm leise um seinen Hals und flüsterte hastig mit heißem Erröten:

»Hermann! Ich fühle – ich weiß – daß ich dir bald ein Leben schenken – opfern . . . werde . . .«

Der Mann hob erstaunt den Kopf.

»Ein Leben – ein Kind!« schrie er in jauchzendem Jubel.

Agnes erschauerte.

Hermann aber zog sie leise und innig an sich.

»So soll mein Wunsch sich erfüllen – unser Wunsch . . .« liebkoste er.

Sein armes Weib war außer Stande, ein Wort zu reden.

Als er eine Stunde später im Atelier saß, kam ihm unvermittelt bei: Wie sonderbar sie dies gesagt hatte – ein Leben schenken – opfern – was hatte sie ›opfern‹ hinzugefügt? – Aber er vergaß wieder darauf.

*

Fast schien es, als sollten jene Wochen wiederkehren; jene ersten sonnigen, klaren Wochen.

Hermann war ganz Fürsorge und Liebe.

Sein Kuß ward wärmer – sein Wort inniger.

Das war Balsam für den schrecklichen Entschluß. So glaubte Agnes anfangs. Aber nein. Das alles galt ja doch dem dritten Wesen, das er erhoffte – dem Kinde – und wenn . . .

Sein, Hermanns Empfinden war ja doch tot; – dies war nur seiner Liebe – Allerseelentag.

Er war so gut.

Ja, und eben deshalb mußte sie ihn befreien. Von sich selbst befreien.

*

Ein kalter Herbstmorgen. Hermann saß fröstelnd im Atelier. – Er preßte eine Zigarette zwischen den Zähnen, während er malte. Ihr scharfer Rauch stieg ihm in die Augen und machte ihn unaufhörlich blinzeln.

Draußen war es noch nicht allzuhell. Ein perlgrauer Sprühregen taumelte durch die Luft.

Die Arbeit wollte nicht von der Hand.

Plötzlich horchte Hermann auf.

Lärm im Vorraum.

Harte, gemeine Stimmen.

Im nächsten Augenblick stürzte der alte Diener herein.

»Jesus Maria!« schrie er und rang die Hände.

Hermann fuhr auf.

Da trugen vier Männer eben schon durch die weite Flügeltür eine schwarze Truhe.

»Von der Rettungsgesellschaft«, brummte einer im Geschäftston.

Ein anderer schlug das schwarze Lederlaken zurück.

Da lag Agnes – fahl und starr.

Die wasserschweren Haare hatten den Kopf seitwärts gezogen.

Die triefende Kleidung umschloß eng ihre Glieder.

Wie Verklärung sonnte es auf ihrer Stirne.

Hermann stand ohne sich zu rühren.

Jäh zuckte es durch seine Züge: ein Leben . . . schenken . . . opfern . . .

Er brach bewußtlos zusammen.


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