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Es ist wohl bald dreißig Jahre her, seit jeder echte Karbacher, der einmal Rosine gesagt hat, auch Klothilde sagen muß – und umgekehrt. Das kommt so: Klothilde und Rosine wohnten in Karbach seit den sogenannten undenklichen Zeiten beisammen, und jeder gute heimische Bürger, der an den Fenstern der beiden alten Damen vorüberging, hätte viel weniger erstaunen müssen, wenn die alte Kirche, des Städtchens Wahrzeichen, plötzlich einen ihrer Türme verloren hätte, als wenn einmal neben dem weißen, flüchtig gescheitelten Kopf Rosinchens nicht die strengen, straffen, seltsam schwarzen Scheitel Klothildens hinter den roten Geranienstücken aufgetaucht wären. Man war es gewohnt, die beiden als Eines zu betrachten, was für die gesprächigen Damen hinter den Kaffeetassen kein geringes Opfer war, da durch dieses Sesostristum Klothildchens und Rosinchens eigentlich eine Person weniger zu bekritteln war. Aber einmal war es wirklich schwer, die Pläne unter dem weißen Scheitel gesondert zu betrachten von den Gedanken, die der schwarze Scheitel beschützte, und man fand einen unausgesprochenen Trost darin, daß aus diesem Wechselverhältnis vielleicht mehr am Kaffeetisch ›Verwendbares‹ entstünde, als wenn jede von den alten Jungfern so ganz allein wie eine vergessene Kerze in sich zusammengebrannt wäre.
Die Leute im Hause wußten, daß es hinter den roten Geranien auch Gewitter gäbe und daß bei diesen Anlässen Fräulein Rosine den Blitz und Fräulein Klothilde den Donner mache, wie das so zu jedem echten gesunden Gewitter gehörte. Sie wußten überdies, daß die Zahl dieser Gewitter viel größer war, als der galligste Wetterfrosch sonst zu prophezeien wagte, und schüttelten nun seit fast dreißig Jahren die Köpfe, so, daß mancher weiß weiterschüttelte, der noch ganz blond angefangen hatte. Sie wunderten sich darüber, was eigentlich die beiden Damen, die weder verwandt, noch besonders an einander gebunden waren, bewogen hatte, aus der Residenz, wo sie gewiß nicht zusammenwohnten, gemeinschaftlich nach Karbach zu ziehen und in dem fast dreißigjährigen Krieg den Beweis zu erbringen, daß sie sich mit Recht – Freundinnen nennen durften.
Das Rätsel war schwer zu lösen. Denn hinter die Geranien durften nur ganz wenige lugen, und was die wenigen dahinter sahen, war das Bild einer arkadischen Eintracht. Außerhalb des Hauses sah man das Zweigespann bloß auf dem Markt und in der Kirche. Und während die schwarze Klothilde sich trefflich auf fette Hühner verstand, hatte Rosinchen viel Mitgefühl für fette Messen und tauschte bei jedem »Dominus vobiscum« einen Blick frommen Verstehens mit dem von heiliger Hast triefenden Pfarrer. Und wie bei Rosinchen das Fingergefühl für die Rosenkranzkugeln zur fast überfeinerten Vollendung gediehen war, so konnte Klothilde die Reife der Erbsen am bloßen ›durch die Finger rollen lassen‹ erkennen.
So muß der oberflächliche Leser zu der Meinung kommen, er sei doch viel klüger als alle Karbacher zusammen; denn das Rätsel, an dem die guten und unbescholtenen Bürger nun schon so lange ihre Zangen anlegen, glaubt er just mühelos mit dem kleinen Finger geknackt zu haben. Nämlich: Es herrscht eine so wohltätige Ergänzung zwischen den geistigen und materiellen, den religiös-theoretischen und nützlich-praktischen Talenten der beiden Damen, daß ihr Zusammenleben nicht nur nicht erstaunlich, sondern sogar naturnotwendig war und jeder Entfernung zum Trotz hätte geschehen müssen, so daß Rosinchen aus Grönland mit Klothildchen aus irgend einem tropischen ultima Thule zusammenkommen mußte; ob dies dann auf jeden Fall Karbach zum Schauplatz haben mußte, kann selbst der gar kluge Leser nicht entscheiden.
Wenn aber einer von den Wenigen den Leser hinter den roten Geranien einführen könnte, würde zwar auch er den Eindruck hellster Eintracht aus dem alten Urväterhausrat mitnehmen, aber sich gestehen, daß da doch noch ein Rest sei, etwas Unaufgelöstes, das trotz des fleißigen Staubtuchs Klothildens wie ein Schleier über den Mahagonischränken und dem Nußbaumtisch dämmert. Und dieser Schleier eben ist es, an dem ganz Karbach zieht wie an einem Sprungtuch, wartend, welches Gerücht aus der brennenden Neugierde in das Linnen springen mag.
Aber der Schleier ist unzerreißbar.
Und das ist es. Was? Eben das, warum die Karbacher nicht mehr Rosine ohne Klothilde sagen können und umgekehrt.
Ein Geheimnis.
Und wo nistet dieses schwarze Insekt, dieser ewig pochende Wurm, unter den schwarzen oder unter den weißen Haaren? Bei Rosinchen war es nicht lang geblieben. Wenn sie irgendwem mit der feierlichsten Miene »Schweigen übers Grab« versprach (und sie tat das oft, denn es hatte etwas Romantisches und erinnerte sie an die Bücher mit den bunten Umschlägen, die sie als Mädchen heimlich gelesen hatte) – wenn sie also dieses betonte, romantische Schweigen versprach, so konnte man sicher sein, daß sie die Tatsache bloß um eine halbe Stunde früher erzählte, als sie es ohne die große Festlichkeit getan hätte. –
Klothilde und Rosine waren als Kinder befreundet gewesen. In den jungen Mädchenjahren hatte sie das Pensionsleben von einander getrennt, andere Zufälle hatten diese Trennung so lange ausgedehnt, bis sie sich endlich in jenen ersten Stadien des altjüngferlichen Pessimismus in der Residenz wiederfanden. Sie fanden sich wie zwei, die auf einer einsamen Heidestation beide den Anschluß versäumt haben und denen nun die Pflicht obliegt, sich gegenseitig durch die Langeweile des Wartens durchzurudern. Es kommt auch vor, daß zwei solche Menschen warten und warten und endlich, weil kein Zug mehr kommen will, von dem vergessenen Bahnhof den Weg ins nächste Dorf finden und dort wohnen bleiben.
Und in einem ganz besonderen Fall nennt man das Dorf Karbach.
Sie freuten sich ursprünglich sehr des Wiedersehens, aber der Gedanke eines Beisammenbleibens war ihnen ferner als der Mars. Rosinchen wußte vor lauter ›Geheimnissen‹ gar nicht, was sie zuerst erzählen sollte, und war nicht wenig stolz, daß in ihren Erlebnissen ein ›Er‹ vorkommen durfte, dunkel und mystisch, immer namenlos, wie der Fliegende Holländer, nicht gerade als Hauptperson, aber doch als wichtiges Versatzstück; und daß sie ihn da und dort anbrachte, zeugte für ihren dekorativen Sinn. – Freilich machte sie's so, wie die Spießbürgerfamilie, die einen einzigen silbernen Aufsatz besitzt, den sie einem eventuellen Gast aus einer Stube in die andere nachträgt, um so die Vorstellung eines märchenhaften Reichtums zu erwecken. Der Aufsatz ist immer überall. Und einmal ist Zucker drin, einmal Blumen, einmal Früchte, und im äußersten Fall paßt er auch für Visitenkarten.
Klothilde hörte mit vielem Verständnis und mit einem seltenen Reichtum an Geduld die Geheimnisse Rosinchens an und versäumte endlich auch nicht, das große Martyrtum zu bewundern, das jene so heldenhaft ertrug, und zu würdigen, daß trotz der Treulosigkeit des anderen Geschlechts nicht nur Verachtung gegen dessen Übeltaten in ihrer Brust wohnte. Rosinchen konnte nämlich immer noch, wenn sie von den ›Männern‹ sprach, einen Rest von mädchenhafter Scheu in ihre Stimme legen, und sie setzte dann wohl auch die Backfischaugen auf, die ihr indessen wie eine zu schwach gewordene Brille standen und ihr ziemlich wehe zu tun schienen. Die große Gloriole des unverdienten Leidens machte alle diese Uneinigkeiten vergessen; denn Rosine war in tiefster Seele überzeugt, daß ihr ganzes Unglück im Namen liege. Es giebt Menschen, denen die Eltern in der Wiege einen Namen geben, der schon wie aus dem Konversationslexikon klingt, diese Menschen müssen berühmt werden auf jeden Fall. Wenn sie als Kinder den Hals brechen, werden sie's eben deswegen. Und ihre unseligen, verblendeten Eltern hatten ihr an dem Unglückstage einen Namen gegeben, mit dem sie alte Jungfer hatte werden müssen, und hätte sie die Schönheit einer indischen Königin mit der Grazie der Otéro vereinen dürfen. – Als Hauptperson dieser gräßlichen Schicksalstragödie fühlte sie sich natürlich ebenso wichtig wie bedauernswert. Trotzdem blieb ihr Zeit, die Teilnahme zu beobachten, welche Klothilde für sie hegte. Und wenn zuerst einzig die Freude an deren Herzlichkeit sie bezwang, kam schon in jenen ersten Tagen des Wiedersehens der schlaue, schleichende Verdacht hinzu, daß so tiefes Mitempfinden nur bezeugen könne, wer selbst Ähnliches erlebt und erlitten hatte.
So ein Verdacht ist wie die fliegende Gicht. Einmal zuckts da, einmal dort. Man glaubts endlich überwunden, und schon beginnts wieder an einer anderen Stelle. – Rosinchen konnte nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte keine Verdauung mehr und vergaß manchen Abend die Locken einzudrehen. – Sie erwog alle Möglichkeiten, und das Ende war immer: daß Klothilde gewiß weit hinter ihr stünde in allem. Aber es wäre immerhin möglich gewesen, daß sie ein Geheimnis erlebte, bei dem einen großen Vorzug, den sie unleugbar besaß: sie hieß nicht Rosine.
Und als Tage um Tage ins Land gingen und Klothilde immer mehr davon sprach, nach Karbach zu ziehen, überfiel Rosine eine unbeschreibliche Angst, daß das große Geheimnis ihr nun ewig verschlossen bleiben würde. Denn daß ein solches bestünde, wußte sie nun. Sie wußte, daß Klothilde in ihrem Schrank eine wohlversperrte Kassette bewahre, die sie die ›Wertheimer‹ nannte. Sie lachte bitter. Die ›Wertheimer‹. So heuchlerisch, damit man glaubt, da seien Wertpapiere drin. Freilich – Briefe werdens sein oder gar ein Bild – sein Bild.
Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie wurde immer vertrauensseliger; denn sie sagte sich: Vertrauen macht Vertrauen, und einmal in der Dämmerstunde würde Klothilde gewiß die ›Wertheimer‹ holen. Aber die Zeit der Übersiedlung Klothildens rückte näher, und Rosinchen hatte schon ihre ganze Phantasie in lauter Vertrauen ausgegeben und war arm und hilflos wie ein Kind.
Da kam ihr in einer ganz schlaflosen Nacht der Entschluß: Wir müssen beisammenbleiben. Und sie baute daran weiter: Wenn man so Tag um Tag neben einander lebt, mit einander lebt, mittags denselben Wein trinkt, dasselbe Salz ißt, denselben Hunger hat und sich in der Nacht gegenseitig im Schnarchen stört, muß doch aus zwei Menschen – wenn auch nicht Eines, so doch ein symmetrisches Ganzes werden, dessen Hälften sich ohne Rest decken können.
Rosinchen verkannte schon damals nicht die Schwierigkeiten eines solchen Nebeneinanderseins. Sie kannte die Strenge und Genauigkeit Klothildens, ihren zielbewußten Eifer, und verhehlte sich nicht, daß sie und ihre Neigungen manchen Kampf dagegen werden wagen müssen. Sie wußte in solchen klaren Augenblicken, daß sie sich oft auf müßigen Träumen ertappte, daß immer noch der Fliegende Holländer der König dieser Träume war, und daß sie den ganzen Tag im Hause sich die Füße wund und müde lief, ohne eigentlich was zu leisten, als ein paar Stühle von ihrem Platz zu rücken und ein paar Kleinigkeiten von der Kommode zu werfen. Aber sie tröstete sich damit, daß es ja, wenn sie erstmal beisammen wären, bis zur Enthüllung nicht mehr weitab sein könne, und daß sie nach längstens einem Jahr Abschied nehmen und beim Abschied noch einen Blick des Sieges in die weitgeöffnete ›Wertheimer‹ und einen Blick des Bedauerns auf die arme Klothilde werfen würde, die auch kein Geheimnis bewahren konnte. In Gedanken warf sie schon lange diese beiden Blicke. Und sie gewann eine Übung darin, welche der erträumten Szene ihre einstmalige dekorative Wirkung sicherte.
Etwas zaghaft und mit dem bösen Gewissen in den gezwungen lächelnden Augen trug sie Klothilde den Plan vor. Die war weder erstaunt noch zögerte sie. Sie sagte einfach: »Ja, wenn du willst.« Sie hatte sie kaum angesehen dabei. Rosine aber schien es, als ob die Freundin hohngelächelt habe. Und ihr Plan wurde nur um so sicherer, denn sie wollte nun auch für dieses Hohnlächeln ihre Rache.
Der Tag der Übersiedlung war da; Klothilde lief seit Morgengrauen aus einer Stube in die andere, erteilte den Leuten in ehernem Ton ihre Befehle, griff, wo es sein mußte, mit an, und Rosinchen glaubte mitzutun. Sie gebärdete sich wie ein Kind, dem der Strom das Schiff treibt, und das dennoch glaubt, mit eigenen Rudern vorwärts zu kommen. Wiederholt stieß sie in ihrer ziellosen Hast im Flur oder auf der Treppe an Klothilde. Endlich packte sie diese und sagte halb unwillig: »Du bist den Leuten nur im Wege. Ich muß mit angreifen und will das nicht aus dem Auge lassen. Halt mirs einstweilen.«
Schon war sie vorbei. Rosinchen stand wie im Traum und fühlte an ihrer Rechten etwas seltsam Schweres, das sie in die Erde zu ziehen drohte. Es war die ›Wertheimer‹. Sie zitterte am ganzen Körper vor Schrecken und Erregung. Sie flüchtete mit dem Kleinod in eine dunkle Ecke des Flurs. Dort fand sie einen ausgemusterten Stuhl, auf den sie sich sachte setzte und von dem aus sie die schwarze Kassette zu ihren Füßen betrachtete. Manchmal schien ihr, als klaffte der Deckel leise. Sie bückte sich hastig und konnte sich von der Widerspenstigkeit des Schlosses überzeugen.
Wie ein Inder vor seinem Fetisch hockte sie vor dem schwarzen Geheimnis: mit über den Knieen gefalteten Händen und großen lauernden Augen. Sie vertraute den Winken des Schicksals und hatte ein tiefes, romantisches Verständnis für seine geheimen Absichten. Seit sie die ›Wertheimer‹ in der Hand gehalten hatte, wußte sie: Es war ihre Mission, die Tiefen dieses Eisenbergwerks zu erforschen. Und sie fand diese Mission ebenso wichtig, wie die Lichtung des Nilquellengebiets oder die Versuche über das animale Leben der Sporenpflanzen. Ein heiliger Eifer, eine heldenhafte Entschlossenheit überkam sie, nicht eher zu rasten, bis dieses Schloß, nicht mit Gewalt, mit List und Klugheit in ihrem Besitze sei. Sie fühlte sich ordentlich bedeutend werden und wachsen mit ihrer Aufgabe. So, mit großer Hoffnung und großer Entschiedenheit kam sie in Karbach an und ließ das schwarze Geheimnis nicht früher los, als bis es seinen dauernden Platz in der neuen Wohnung gefunden hatte.
* * *
Rosinchen gehörte zu denjenigen Menschen, die sehr liebenswürdig sein können, wenn sie irgendwas erreichen wollen. Dazu kam, daß diese Situation ganz neu war in ihrem Leben. Sie hatte ein Geheimnis, und dieses Geheimnis war ein Geheimnis. Das war ja an sich schon ein ganzer Roman oder wenigstens wie das vorletzte Kapitel davon. Sie fühlte sich auf ihrem Posten wie ein Ambassadeur, der unter Wilden irgendwas auskundschaften soll, daran das Wohl ganzer Staaten, Weltkrieg oder Weltfrieden hing. Und je nachdem sie das besonders schlau und gründlich erforschte, fielen die Lose. – So schien in den ersten Jahren das Zusammenleben mit Rosine hell, als hätte die Sonne selber ein Zimmer in dem Hause gemietet. Unter ihren Scheiteln wohnte auch nicht mehr die Wahnvorstellung jener schwarzen eisernen Kiste; Rosinchen wußte bloß dunkel von einem großen Zweck der sie hier festhielt, und daß sie immer lächeln mußte, um ihn zu erreichen. Das war ja schließlich nicht gar so schwer.
Dabei bekam sie eine große Achtung vor sich selbst, die je nach ihrer Stimmung, ihrer Verdauung und dem Wetter in Staunen oder Bewunderung über das eigene Benehmen Ausdruck fand. – Sie brachte es über sich, in Erfüllung ihrer hohen Mission Jahre neben Klothilde zu leben, ohne sich auch nur mit einem Blick zu verraten, ohne jemals neugierig zu scheinen und ohne zusammenzuzucken, wenn bei einer Gelegenheit die ›Wertheimer‹ aus dem Alltagsversteck auftauchte. Die ersten Male schielte sie wohl ein wenig über die vorgehaltene Zeitung; dann aber schämte sie sich dessen und machte sich in solchen Augenblicken meistens in einer sehr fernen Ecke oder in einer andern Stube zu tun. Meine Stunde kommt auch noch mal, vertraute sie. Aber in einer schlechten Nacht, als draußen die Katzen schrieen wie Kinder, die einer würgt, und als die Regentropfen monoton klopften, wie die Totenwürmer im alten Eichenschrank, kamen ihr die ersten leisen Zweifel an dem Erfolge ihrer bisherigen Taktik. Sie stand am Morgen blaß und müde auf, und die Brust schmerzte sie, als wäre die ganze Nacht die ›Wertheimer‹ darauf gelegen. Sie begann beim Frühstück zaghaft zu klagen. Klothilde, der das fremd war an ihr, war aufrichtig besorgt und erleichterte durch ihre Teilnahme der Freundin sehr, in das neue Kampfsystem, auf dessen Fahne eine gewisse schwärmende Schwermut stand, hineinzuwachsen. – In wenigen Wochen war die ganze alte Rosine abgelegt, und eine neue elegische Rosine war an ihre Stelle getreten, die durch die Stuben ging, als ob sie jemanden zu wecken fürchtete, und den Wein so verdünnt trank, daß die Monatsrechnung viel weniger ausmachte als vorher. Rosinchen hatte für ihre eigene Person nur gewonnen. Die Hausgenossin fürchtete, daß sie sie zu sehr mit Arbeit überhäuft hätte, und suchte ihr nun möglichst viel abzunehmen. Dadurch fand Rosinchen wieder manche stille, pflichtfreie Stunde, und jede solche Stunde hatte eine leise Tür, zu welcher ›Er‹, der Fliegende Holländer, allein den Schlüssel besaß. Er kam jetzt viel öfter, der Traum von ihm. Sie dachte dann stets, wie innig er bei der gleichen Erinnerung weilen mochte. Dann saß er wohl, als gelehrter, vielleicht sogar als berühmter Mann (man konnte damals noch nicht wissen, was er eigentlich zuletzt werden würde), in seiner dunklen Stube, deren Wände wie aus lauter großen Büchern gebaut waren, und suchte nach dem Stückchen rosa Band, dem einzigen Andenken, das er von ihr bewahrt hatte. Und sie sah, wie er es küßte, und fing im Traum die große, kostbare Mannesträne auf, die wie eine Perle durch die Wellen des breiten Bartes rollte. Er weint, er weint um sie. Und sie wurde immer ganz gerührt über ihn und sich und Klothilde, die von dem ganzen Schicksal wußte; nur den Namen hatte sie ihr verschwiegen. – Da gab es also im äußersten Fall noch etwas zu vertrauen. Wenn sie einmal in einer grauen Zwielichtstunde mit diesem heiligen Geständnis herausrückte, dann konnte Klothilde nichts mehr verbergen und mußte auch ihrerseits alle Herzen und eisernen Kisten mit einem einzigen Schlüssel aufsperren.
Aber sie kam rasch von der Idee ab; denn ihr fiel ein, daß Klothilde ›ihn‹ ja gekannt hatte, freilich ganz flüchtig und ohne etwas zu ahnen. Und sie fühlte, daß sie dadurch den oft so prächtig gezeichneten Geliebten in dem Empfinden der Freundin entzaubern und zum nüchternen Erinnerungsbild erniedern würde. Dieses Erinnerungsbild könnte Klothilden auch gar nicht angenehm sein, da ›Er‹ sie seinerzeit offenbar vernachlässigt und Rosine, man denke trotz des Namens, augenfällig vorgezogen hatte. Rosine lächelte immer noch bei diesem Bewußtsein. Übrigens hatte die Sache mit dem ›Namen‹ noch ein anderes Bedenken. Er hieß nämlich gar nicht so, wie man eigentlich heißen soll. Er hieß: Jakob Gans. Das war ein Unglück; denn erstens ist Jakob ein Name für Raben und nicht für Menschen im vorletzten Romankapitel, und dann war Gans nicht schön und falsch obendrein, da es doch eigentlich ›Gänserich‹ hätte klingen müssen. Denn daß ihn Rosine immer Rolf oder Robert rief, änderte an diesem Schicksal ebensowenig, wie daß Rosinchen sich in ihren Träumen ›Thea‹ nannte, oder doch sich von dem Traumrobert so rufen ließ.
Sie litten schließlich beide an demselben Mißgeschick und gehörten deshalb nur umso sicherer zusammen.
Daß Jakob Gans später anderer Meinung wurde, hat ihm Gott gewiß verziehen; denn Jakob Gans war, um berühmt zu werden, immer noch geeigneter (man konnte es dann vielleicht lateinisch schreiben), als der schreckliche Name Rosine paßt, um geheiratet zu werden.
So war Rosinchen in dieser Zeit lauter Versöhnung und Nachgiebigkeit, versuchte mit steifen Fingern ein paar langvergessene Lieder von Schumann auf dem verstimmten Klavier, las den Heine aus ihrem Konfirmandenexemplar und ging vor dem Schlafen mit losem Haar im Zimmer auf und nieder.
Aber die Jahre blieben weder vor ihren Schumannliedern, noch vor ihren offenen Zöpfen stehen. Als sie zum fünfundvierzigstenmal Rosine gefeiert hatte, hörte sie unwillkürlich mit allem auf: mit dem Schumannspielen, mit dem Heinelesen und mit dem Haarelosflechten. Sie fühlte sich altern im Dienste der Mission. Sie bemerkte, daß sie auch im dunklen Zimmer ihre Scheitel im Spiegel sehen konnte, weil etwas wie gefangenes Mondlicht drinnen war. Und das wurde mit jedem Tag heller und deutlicher. Ihre Melancholie war durch die viele Übung ganz unbewußt geworden. Rosine ging, ohne es gewahr zu werden, immer tiefer und tiefer in ihre Dunkelheit wie in einen großen Wald. Endlich, als sie ganz im Wald war, brach ein Gewitter los. Solche Gewitter haben viel Gefahr: Auf einmal war nichts als Haß in ihr. Haß gegen das unbarmherzige Schicksal, welches ihr diese mühsame, hoffnungslose Aufgabe wie ein Stahljoch aufgebürdet hatte, Haß gegen ihr eigenes Untätigsein, Haß gegen die Stuben, in denen sie wie lebenslang gefangen wartete und im Opferdienste für eine geheime Sache leise hinstarb, und Haß vor allem gegen Klothilde, deren scheinbares Zusehen ihr brutal und gemein erschien.
Hätte sie nur jemanden dritten einweihen dürfen. Aber sie erkannte rasch, daß dies nicht möglich sei, schon deshalb, weil sie sich nicht imstande fühlte, einen Fremden von der Größe und Wichtigkeit ihrer Lebenspflicht zu überzeugen. Es wäre ihr ein Trost gewesen, wenn der wilde Kampf ihrer Seele nicht so ganz unbeobachtet hätte vertoben müssen, wenn ihr einzig dastehender Heroismus einen verständigen Biographen, wenn ihre rührende Aufopferung einen begeisterten Dichter gefunden hätte. Aber das war nicht zu erhoffen, und sie weinte viel, bei Tag aus Zorn und bei Nacht aus Rührung über ihre beispiellose Selbstlosigkeit.
Vor Wut und Weinen wurde sie endlich sehr krank.
Der Doktor kam, sich jeden Tag eine Viertelstunde an ihrem Bett auszuruhen, putzte mich hochgezogenen Brauen seine runden Brillen und fragte einmal, wohl nicht ganz absichtslos, ob der Pfarrer im Haus verkehre. Man könne ja einmal zu dritt eine Partie Whist veranstalten. Zu Rosinens nicht geringem Erstaunen nickte Klothilde zu diesem Vorschlag, und der Pfarrer kam, sprach von der ewigen Seligkeit und wann die nächste Messe mit Gesang sein wird, und daß abends Saufest beim ›Roten Ochsen‹ sei, welches er keinesfalls versäumen dürfe.
In der nächsten Nacht hatte Rosine drei Träume. Einen von der ewigen Seligkeit und dem Herrn Pfarrer. Das war ein schöner Traum. Einen von der ewigen Seligkeit und vom Herrn Pfarrer und von der Orgel, das war auch ein schöner Traum. Und einen von der Orgel, die doch eigentlich der Herr Pfarrer selbst war, und von der ewigen Seligkeit, in der es herging, wie beim Saufest. Das war ein unchristlicher, aber doch der schönste von den drei Träumen.
Und als der dritte fertig war, packte Rosine alles, das Saufest und die Seligkeit nicht ausgenommen, in die ›Wertheimer‹ und trug die erträumte ›Wertheimer‹ im ganzen Hause umher. Dabei lag sie keuchend im Bett. Das war der vierte Traum oder das Fieber.
Am anderen Tage war Rosine fieberfrei, aber sterbenstraurig. Sie wußte, daß der Pfarrer nicht wegen des Saufestes und nicht wegen der Kirchenmusik, sondern bloß von wegen der Seligkeit heraufgekommen sei. Und das war sehr arg; nun wußte sie, daß sie sterben werde und sterben ohne Vollbringung. Wie Moses. Eine namenlose Verzweiflung brach über sie herein. Den ganzen Tag hatte sie nur einen Gedanken: Aufspringen und alles, was in der Stube stand, lag oder hing, gegen den Deckel der ›Wertheimer‹ stemmen. Dabei lag sie mit bleiernen Gliedern in den Kissen und hätte nicht aufzustehen vermocht, selbst wenn die Gardinen zu brennen begonnen hätten. Sie wartete in einem fort, daß irgendwas geschehen sollte. Aber der Abend kam ganz mechanisch und mit ihm Klothilde, die die Lampe mit dem dunkelgrünen Schirm auf den Tisch setzte. – Dann trat sie in zärtlichen Schritten näher.
»Ist dir besser?« hörte Rosine fragen.
Die Kranke antwortete nicht. Wer konnte sie zwingen, zu antworten?
Klothilde hielt sie wohl für eingeschlafen und begann leise, ein paar Schritte zurück zu tun.
Aber da fuhr Rosine in den Kissen auf. Die ärmliche Gestalt in dem gestreiften Barchentnachtleibchen wuchs empor.
»So«, sagte sie heiser. »Fragst du nach meinem Befinden? – Das ist rührend. Laß mir nur noch ein bißchen Zeit. Ich mach ja schon, was ich kann. Aber so schnell kann ich nicht sterben.«
»Rosine!« sagte Klothilde erschrocken und besänftigend. Sie wollte die Hand auf die Stirne der Kranken legen. Aber die Kranke packte sie und warf sie zurück wie ein giftiges Tier.
»Rühr mich nicht an, du Herzlose. Du hast mich ins Grab gebracht. Du, du . . .« Der Atem ging ihr aus. Sie hustete heftig und trocken und zitterte dabei. Als sie sich wieder erholt hatte, war sie wie ein Kind. Sie faltete die Hände und bettelte mit leiser, verschwimmender Stimme: »Klothilde, einzige, gute Klothilde, zeig mir die ›Wertheimer‹, zeig mir nur ein einzigmal die ›Wertheimer‹.«
Klothilde schrieb alles dem Fieber zu. Sie schob die grüne Lampe näher an das Bett, holte die schwarze Kiste, die einem sachten Druck irgendwo gehorchte und aufschnellte. Gierig langte Rosine mit ihren abgemagerten Fingern tief hinein, und ihre Hände schöpften den Inhalt, wie ein Verdürstender die Quelle schöpft. Nichts übersah sie: alte Lose waren da, die vielleicht erst im Jenseits fällig wurden, und halbzerfallene Briefe mit unmöglichen Schriften und knatternde Blumen und seltsam duftende Heiligenbilder und blasse Photographien. Auf einer derselben stand an der Rückseite: »Der schönen Klothilde in treuer Liebe ihr Verehrer Jakob Gans.« Rosine hatte das schon viermal gelesen, ohne zu wissen, daß sie las, und sie las es noch dreimal, ehe sie ahnte, was sie eigentlich gelesen hatte.
Wie kraftlos sanken ihre Hände, alles entfiel ihnen, und Klothilde raffte rasch allen Tand zusammen und hob das schwere Kästchen von ihren Knieen. In diesem Augenblick hatte Rosine das Gefühl, daß man ihr das Leben aus ihren Gliedern nehme. Ein Leichtsein war in ihr, und ein schwebendes Taumeln berauschte sie. Sie atmete tief. Aber eine Weile, nachdem Klothilde aus dem Zimmer gegangen war, sah sie auf, blickte bang und hastig um sich und gab sich dann einem Weinen hin, das erst leise war, aber allmählich wie ein entfesselter Wildstrom ihren schwachen Körper hinriß und zerrte und rüttelte. Und sie trieb dahin ins Uferlose. Sie fühlte dunkel: Sie hatte dreißig Jahre an der schwarzen Kiste gebohrt, um endlich drin die Trümmer ihres Traums zu finden.
Sie weinte wie ein Kind, und Klothilde stand ratlos an ihrem Bett. Später kam der Arzt. Er ließ den Herrn Pfarrer sofort bitten, und zwar nicht zur Whistpartie. Und der Herr Pfarrer kam und sprach diesmal nur von der Seligkeit. Denn es war an der Zeit. –
Rosinchen hatte das Geheimnis gelöst. Es war nun nicht mehr nötig, daß sie mit Klothilde zusammen hinter den roten Geranien wohnte. Sie konnte jetzt allein sein. Ganz am Rande des Städtchens sollte sie wohnen. Ihr Umzug war seltsam genug: Sie fuhr mit vier weißen Pferden, alle guten Karbacher, die seit dreißig Jahren Rosinchen sagen mußten, wenn sie Klothilde sagten, gingen mit, und die Schulknaben sangen ein heiliges Lied. –