Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Im Leben

(1898/99)

Der Herr Revisor ist über den Schreibtisch gebogen wie ein Gasarm mit einer matten Glaskugel am Ende.

Er ist fleißig, und es ist keine Kleinigkeit, fleißig sein, wenn man so ein Gegenüber hat.

Die Schreibtische haben Aufsätze zum Glück, und man kann dahinter untertauchen wie hinter einer Brustwehr. Der Revisor hat seinen kahlen Kugelkopf ganz tief über seine Zahlen geschraubt, so daß die Worte des Offizials darüberhin in die königlich-ärarische Wandkarte »Das Eisenbahnnetz von Europa« einschlagen.

Man sieht: der junge Mensch, der zum letzten Mal in der Kanzlei ist, hat alle Achtung vor dem geheiligten Eigentum des Staates verloren. Er erlaubt sich Alles. Er sagt zum Beispiel jetzt:

»– wirklich, Herr Kniemann, lieber Straßenkehrer sein – oder – was weiß ich, als hier so langsam flach und staubig werden. Sehen Sie, bitte, diese Wände – rechts, links; wie in ein altes Buch gelegt ist man: das vergessene Lesezeichen des Herrn Vorgängers, der über dieser Stelle eingeschlafen ist.«

»17,850«, sagt der Revisor Kniemann und weicht der Riesenseite des Grundbuches aus, die beim Umblättern wie ein Segel an ihm vorüberfährt.

»Sie wollen sagen, man bleibt nicht immer Offizial –«, erklärt der andere diese Geste, »man wird Revisor, Bureauvorstand, vielleicht sogar Inspektor, das heißt man wird aus einem Schmöker in einen Goldschnittband gelegt, etwa aus ›Der Mörder in der Kohlenkiste‹ in ›Das Buch der Lieder‹. Aber ich sage Ihnen: man bleibt Lesezeichen, höchstens, daß man nach obenhin in Beförderungszeiten die Aufschrift trägt: ›Vergiß mein nicht.‹ Danke. Ich bin mir zu . . . zu plastisch für diesen Zweck. Ich muß hinaus –«

»Ja«, ächzt der Revisor teilnahmslos und fängt die Reihe nochmals von unten zu addieren an. Er hat sich verrechnet.

»Dort gibt es Morgen, Mittag und Abend«, schwärmt der Jüngere. »Haben Sie das hier vielleicht? Von acht bis drei haben Sie hier, was ist das, bitte? Und was bleibt übrig vom ganzen Tag? So ein Rest von ein paar Metern, Ausverkauf und herabgesetzte Preise. Es reicht zu nichts, nicht einmal eine Weste könnte man sich machen lassen daraus. – Aber dort: Dort gibt es Licht und Luft, Farbe und Freiheit, ja . . .«

»Wo?« macht der Revisor mißtrauisch und zählt weiter.

»Im Leben«, prahlt der andere.

»Junger Mensch«, ärgert sich Herr Kniemann und zählt weiter.

Der Offizial aber kann nicht aufhören zu träumen. Heute ist er Dichter, Eintagsdichter freilich nur: sentimental und ein wenig altmodisch, ohne die Scham und die Einfachheit der echten Poeten; aber er begeistert sich an sich selbst. Wie eine Kerze, an der jemand einen Liebesbrief verbrennt, ist er und träumt:

»Diese Gärten im Frühling – es hat etwas Rührendes. Ich meine die kleinen Hofgärten, in welche die Küchenfenster sehen, immer eines über dem anderen.

Überall singt es, in den Bäumen und in den Fenstern, und singt auf den Märkten und alle Gassen entlang.

Haben Sie hier einmal etwas singen hören, Herr Revisor? Nein, sag ich, das haben Sie nicht. – Und die Plätze erst: da stehen steife, feierliche Standbilder und lauter Menschen herum, die sich erheben im Gedenken großer Männer. Sie haben nie vor diesen Unsterblichen gestanden, Sie haben keine Zeit, sich erheben zu lassen.«

Dabei blickt der Offizial auf. Über die gesenkte Stirn des Alten schleicht eine dicke Fliege. Der Schädel läßt sich das ruhig gefallen, und der gegenüber denkt: wie tot ist er doch, und wird ganz nervös darüber. Endlich erträgt er es nicht mehr:

»So jagen Sie doch um Gottes willen wenigstens die Fliege von Ihrer Stirn! Tun Sie mir den Gefallen!«

Herr Kniemann macht eine mechanische Bewegung mit der welken gelben Hand und rechnet: »12,473.«

Da erholt sich der andere wieder.

Er verschwendet ein strahlendes Lächeln:

»Und es gibt Gassen dort, Gassen . . .« Pause. »Man muß nur zu gehen wissen. Jeden Augenblick streift ein Mädchen vorbei, blond und licht, und lächelt, als ob man ›Du‹ sagen sollte zu ihr. Und hinter den Fenstern – da lauern sie ja nur so, stampfen mit den kleinen Füßen vor Ungeduld und warten auf das Glück. Und man streckt sich und denkt: ›Ich bin das Glück‹ und – da ist mans. Kunststück! Ich sage Ihnen, lieber Herr Kniemann, wollen muß man, das ist Alles. Befehlen Sie sich morgen früh, wenn Sie aufstehen: ich bin der Kaiser von Europa. Sie werden sehen: Sie sinds.«

»Waaa?« krächzt der Revisor und wagt sich ein wenig über die Brustwehr. Der andere lacht gutmütig in das verängstete, faltige Vogelgesicht hinein und brüstet sich einfach:

»Ja, so ist es dort.«

Der alte Beamte ertrinkt wieder in seinen Folianten, aber beunruhigt erkundigt er sich nach einer Weile doch: »Wo?«

»Wo,« meint der Offizial, »na, im Leben –«

Herr Kniemann denkt: Du wirst mir sagen; denn er hat Erfahrung. Er hat die Blattern gehabt und den Scharlach, und konfirmiert worden ist er auch; – also. Er lächelt überlegen, und das ist wie ein kleines Flämmchen am Gasarm, irgendwo mitten in seinem Kopf. Und nun da etwas durchschimmern will, merkt man erst, wie verstaubt diese matte Glaskugel ist.

Der junge Herr drüben läßt sich nicht irre machen. Heute gibt er sich heraus: Gesammelte Werke. – Er fährt also fort:

»Denken Sie an einen Sommertag. Scheint der nicht unermeßlich? Und das ist noch gar nichts, denn der Sommer hat viele Tage. Und keiner ist ganz wie der andere, jeder ist ein Wunder für sich. Draußen sind überhaupt lauter Wunder, und alle sind für uns. Wenn wir nicht hinschauen, wer kann dafür? Wir sitzen hier und tun Gescheiteres. Wir schreiben Zahlen. ›Kohlentransport im Monat Dezember‹ schreiben wir, und draußen ist das Leben. ›Kastenwagen Nr. 7815‹ schreiben wir, und draußen ist das Glück.

Ich werde Landwirt, Bauer meinetwegen. Man muß nämlich etwas tun, wovon der liebe Gott weiß. Glauben Sie, der kann hereinsehen in diesen dumpfen Hinterhof? Damit er sich die Laune verdirbt für zehn Feiertage!

Und dann dürfen Sie nicht vergessen: Alles ist Bewegung draußen, Auf und Ab, Hin und Her – wie ein Tanz. Keinem schlafen die Füße ein, keinem wird die Brust knapp über dem Herzen. Man sollte von uns nicht sagen: sitzende Lebensweise; denn das ist ein Selbstmord und heißt höchstens: sitzende Todesart. Und ich habe noch lange keine Lust zu sterben. Ich habe die Absicht, vorher noch ein paar Zigaretten zu rauchen in guter Gesellschaft. Denn dort ist (nicht wie hier) Alles erlaubt, auch das Rauchen.«

Der Kopf des Revisors ist während dieser Rede langsam aufgetaucht und liegt jetzt mit vorgeschobenem Unterkiefer auf einer Mappe, »Akten Litera B«, wie ein geschmackloser Briefbeschwerer. Er nickt aufmerksam: »Im Leben?«

»Im Leben«, bestätigt der junge Mensch ernst und hat heiße Wangen.

»Es ist ja wahr: man tappt so eine Weile herum an der Tür, man findet nicht gleich ins Leben hinein. Und dann ist es ja auch die Gefahr, dieses Leben. Es ist eben Gipfel und Abgrund, Insel und Welle – Alles. Alles! Fühlen Sie, was das heißt? Das will sagen: Christabend, Bescherung – Oh man hat ja gar nicht genug Hände, um alle Gaben zu halten, nicht genug Augen, sie zu bewundern – überhaupt man ist arm vor Reichtum.«

»Im Leben.« Diesmal ohne Fragezeichen. Und die arme Stimme des Alten ahmt unbewußt den Jubel des anderen nach. Der Revisor staunt selbst, wie das klingt, und versucht noch einmal vorsichtig, wie einer, der eine Sprache lernt: »Im Leben.«

Und der drüben sagt fast zugleich: »Im Leben.«

Durch den Zweiklang wird das Wort stark wie ein Eid oder wie ein Gebet.

Der junge Mensch fühlt das Feierliche, ist auf einmal wie mitten im Wald und ganz still. Er denkt an seine Mutter und schaut sie so, wie sie am Sonntag ist: in der lila Haube, ein wenig verweint von der Predigt, aber doch lächelnd . . .

Jetzt hat er, trotz seines blonden Schnurrbarts, ein Kindergesicht und sieht so treuherzig aus, daß der Revisor weiß: Nein, der lügt nicht.

Er wartet noch auf irgend etwas. Aber als der Offizial schweigt, setzt er sich behutsam, schließt das Buch und schaut lange auf das große schmutzigweiße Löschblatt, welches als Unterlage dient.

Drei große alte Kleckse halten seine Blicke fest.

Endlich reißt er sich los und wendet den Kopf aus irgend einem Grunde dem Fenster zu, vor dem nichts ist, als eine graue Wand und hoch oben ein Streifen Sonne.

Herr Kniemann überlegt: »So, so, das ist also gar nicht das Leben.«

Und da steigen an der grauen Lichthofmauer gegenüber drei orangegelbe Monde auf.

Das sind seltsame Gestirne, die als schwarze Kleckse auf der verstaubten Mappe untergehen und orangerot immer wieder dort heraufsteigen.

Der Revisor ängstigt sich plötzlich: »Drei rote Monde, was ist das für eine Welt?« – Eine traurige Welt, Herr Revisor.

Und er steht nach einer Weile auf und ruft den Kanzleidiener so laut, daß der Offizial erschrickt. Er nimmt seine ganze Stimme zusammen:

»Knizek!«

Das muß etwas sehr Dringendes sein.

»Knizek!«

. . . . . . . . . .

»Sie müssen mir ein neues Löschblatt unterlegen!«


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