Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Aus einem Mädchenbrief

(1900)

Riva am Gardasee, im April.

. . . Als alle zu Bette waren, stand ich leise auf und öffnete mein Fenster. Es klirrte nicht, wie alle Fenster zuhaus. Sachte drehte es sich in den Angeln, nicht von meinen Händen nach innen bewegt, eher aufgedrängt von dem Dufte, der sich davor angesammelt hatte. Wie eine Knospe tat sich dieses Fenster auf . . . seine Flügel lösten sich von einander wie harte unscheinbare Deckblätter, und nun sah ich in die Tiefe der Blüte hinein, in den dunklen, von unzähligen Blättern verheimlichten Blumenkelch der Nacht.

Das also heißt: »reisen«, Helene. Was für ein einfacher Titel steht auf diesem Märchenbuche, dessen erste Seite in meinen Händen rauscht, weil ich zögere sie umzuwenden in meiner alten kindischen Wunderfurcht. Das also heißt nur reisen. Man müßte einen anderen Namen dafür erfinden, nicht? Hilf mir einen ersinnen, Liebe. Oder besser noch: hilf mir ihn verschweigen, wenn ich ihn unvermutet entdecken sollte – jetzt oder im Traume. Was ist Traum? Was waren alle Träume, die wir uns erzählt haben an den langen Nachmittagen, wenn wir durch die Zimmer gingen, untätig, langsam, ganz beschäftigt mit unserer Müdigkeit? Selbst Deine Träume, meine liebe Helene, obwohl sie die meinen immer weit an Pracht und Schönheit übertrafen, selbst Deine Träume würden hier sein, wie ein Christbaum bei Tag, dunkel und arm. Verzeih mir: Aber vielleicht ist es nicht gut, daß Du so viel an die Träume wendest. Du erwachst oft schwer und lebst einen ganzen Vormittag mit zurückgewendetem Gesicht, und Deine Stirn ist ganz blaß, wie beschienen von einem anderen Licht, das für Dich noch nicht untergegangen ist. Dann gehen alle Deine Gedanken dorthin, in Deinen Augen ist kein Raum für den Tag, und Deine Hände (die schlanken!) stehen in der Arbeit umher, wie Waisen, um die sich niemand kümmert. Dein schweigsamer Mund ist blaß, ein wenig geöffnet, wie jene schönen Munde aus weißem Stein, aus welchen Quellen strömen, in glänzendem Sich-Vergeuden, nicht bang, auch wenn kein Becher sie empfängt. Auch von Deinen Lippen strömt es in solchen Stunden. Und was sich da leise und lautlos von ihnen ergießt, ist Dein Leben, das jene durstigen Gärten bewässert, in denen befremdliche Frühlinge Dich verwöhnen.

Sei mir nicht bös, Helene. Erst seit ich selbst weiß, wie sehr auch ich diesen Zustand liebte, fühle ich seine große Gefahr. Wir lebten mit abgewendeten Sinnen, Helene. Wir haben unsere Mütter kaum je gesehen, und unserer Väter seltene Zärtlichkeit drang nicht bis zu uns. Soll ich Dir sagen, welche Farbe die Wände meines Zimmers haben: ich weiß es nicht. Bitte geh zu uns in die leere Wohnung, sieh nach und schreibe es mir. Wir haben alle Mauern für durchsichtig gehalten. In welchem Irrtum sind wir da aufgewachsen. Vorgestern hab ich etwas erlebt. Im hellen heißen Mittag sind hier die kleinen steinigen Wege zwischen den Weingärten ganz hell, blendend; umsomehr als sie ganz leer sind um diese Zeit. Man geht da beständig zwischen Steinmauern, die mir (also auch Dir) bis über den Scheitel reichen. Der Blick ermüdet an dem weißen Staub des Weges und lehnt sich schläfrig an die Wände an. Auch diese blenden. Aber die Sonne fällt von ihrer Steile herunter auf den Pfad und läßt nur ihre helle Spur zurück. Auch sind sie uneben, runzelig, da der Bewurf abgesprungen ist, wärmer getönt, und der Blick kann sich an ihnen halten. Es giebt rötliche Stellen an ihnen, als ob eine Marienblume abgefärbt hätte, kleine schmale Halme, die aus den Fugen treten, legen ihre Schatten vor sich hin, wie Teppiche, über welche Dein Auge zu ihnen kommt; aber am dunkelsten sind die Fugen selbst, wie Becher bis an den Rand gefüllt mit Dunkel. Und Dein Blick beginnt von Fuge zu Fuge zu gehen, um aus jeder zu trinken. Aber plötzlich flüchtet die tiefe Schwärze zurück, wie eine Welle geht durch die kleinen Gefäße – und sie sind leer, so daß Du ihnen auf den seichten grauen Grund schaust. Das Dunkel aber tragen kleine raschelnde Tiere mit sich fort: Du hast es durch eine zu laute Bewegung verscherzt. Denn (erst später bemerkte ich es) weißt Du, worin mein Blick immer wieder gerastet hat: in Augen. In tausend schauenden Augen. In jeder Fuge war eine kleine Eidechse wach, und die Augen, mit denen sie mich ansah, waren das Schwarz darin. Tausend Eidechsen haben mich gesehen.

Und weißt Du, was ich mir denke: Alle Wände sind so. Und nicht nur alle Wände: alle Dinge! Ob wir unsern Blick hinaufwerfen, wenn er uns leicht wird, oder ob wir ihn wie eine heiße Last fallen lassen – immer tut sich ein Auge auf, das ihn auffängt, hält und – uns einen glänzenderen zurückgiebt. Und mit diesem schauen wir weiter und empfangen für ihn einen noch schöneren von dem nächsten Dinge, an das wir uns wenden . . . ist das nicht ein großes Glück? Und je mehr wir schauen, desto herrlichere Blicke erhalten wir zum Tausch, denn jeder ist immer besser als der andere. Oh, Helene, laß uns in recht viele Augen schauen!

Aber fühlst Du es jetzt, daß man nicht dorthin schauen darf, wo kein Auge ist? Weißt Du, daß es blinde Feinde giebt, die uns die Augen austrinken? Bis wir keine Blicke mehr haben und mit leeren Lidern herumgehen . . . Reiß Deine Augen dem Traum von den Lippen, Helene! Wende sie den Dingen zu und der Sonne und den guten Menschen auch, damit sie sich wieder füllen mit Blicken . . . Liebe! Hätt ich Dich hier! Hätten Deine Eltern Dich mit uns gelassen, daß Du sehen könntest, wie ich verwandelt bin. In meinen Augen sind jetzt tausend Augen. Wenn Du hineinschauen könntest, verstündest Du Alles und wärest mit einem Male so weit wie ich. Und würdest mich küssen. Und würdest weinen. Wie ich jetzt weine, weil mir mein Lachen zu alltäglich ist in dieser Stunde und zu kindisch, und zu laut vor allem.

Deine . . .


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