Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Das Lachen des Pán Mráz

(1899)

Zur Geschichte des Pán Václav Mráz ist folgendes nachzutragen:

Was Herr Mráz bis zu seinem vierzigsten Jahre trieb, konnte nicht ermittelt werden. Es ist auch gleichgültig. Jedesfalls lebte er nicht vom Verschwenden, denn in dem genannten Alter erwirbt er Schloß und Gutshof Vešin mit vollem Inventar von einem Grafen von Bubna-Bubna, der unglaublich verschuldet war.

Die ältlichen Jungfrauen, die damals noch in weißen Kinderkleidern vor dem Schloßtor auf den neuen Gutsherrn warteten, erzählen nicht, daß das vor zwanzig Jahren war; als ob es gestern gewesen wäre, wissen sie, daß Pán Mráz gerade ausspuckte, als man ihm den großen Strauß Rosen aus dem Pfarrgarten in den Wagen reichte. Das geschah übrigens aus Zufall und ohne jede arge Absicht.

Am nächsten Tage ging der neue Herr durch sämtliche Räume des uralten Schlosses. Er hielt sich nirgends auf. Nur einmal blieb er eine Weile vor einem steifen, feierlichen Empire-Stuhl stehen und lachte ihm laut ins Gesicht. Diese kleinen krummbeinigen Tischchen, diese prahlerischen Kamine mit den eingeschlafenen Stutzuhren und die vielen dunklen Bilder – das alles schien Herrn Mráz sehr zu amüsieren, während er vor dem atemlosen Verwalter her daran vorüberrannte.

Aber in dem blassen, silbergrauen Salon verging ihm die Laune. Die hungrigen Spiegel, die so lange auf einen Gast lauerten, begannen sich den roten Kopf des Herrn Mráz wie einen reifen Riesenapfel zuzuwerfen, und sie setzten dieses Spiel übermütig fort, bis Pán Václav im Zorn die Türe hinter sich zuschlug und befahl, daß dieser Trakt mit seinen lächerlichen Möbeln und überflüssigen Zimmern gesperrt bliebe für alle Zeit.

Und das geschah.

Herr Mráz bezog die frühere Verwalterswohnung, wo die schweren Stühle und die glatten geräumigen Tische standen. Dort stellte man auch das eichene Ehebett auf. Eine Weile breitete sich Pán Mráz allein in den weiten Leinen aus; eines Abends aber rückte er ein wenig nach rechts und machte Platz für die ehrsame Aloisia Mráz, geborene Hanus.

Das kam so: Haushälterinnen betrügen, das weiß alle Welt; darum ist es gut, eine tüchtige, wachsame Hausfrau zu haben. Und Aloisia Hanus besaß das Nötige dazu, wie es schien. Zweitens gehört zu jedem Schloß ein Erbe. Im Inventar war ein solcher nicht vorgesehen. Man mußte ihn also nachschaffen. Und da dachte Pán Václav, er würde am besten bei Aloisia zu holen sein; denn sie war blond, bauernbreit und gesund. Und gerade das wünschte Herr Mráz.

Aber, aber, wie schlecht hat die gute Aloisia ihre Pflicht begriffen. Erst gebar sie etwas so Kleines, daß es dem Pán Mráz fortwährend durch die Augen fiel, wie durch ein Sieb, und da man sich eben wunderte, daß dieses lächerliche Ding wirklich lebte, starb sie selbst, ohne weiteres. Und da war nun die Haushälterin wieder obenauf, wie das so geht.

Pán Mráz hat diese doppelte Enttäuschung nicht vergessen. Er läßt sich langsam breit werden in den geräumigen Stühlen und erhebt sich nur, wenn Besuch kommt. Das ist nicht oft. Er läßt dann Wein kommen und redet in seiner matten melancholischen Weise über Politik, wie über etwas sehr Trauriges. Er vollendet keinen Satz und wird wild, so oft der Nachbar ihn falsch ergänzt. Gelegentlich springt er auf und schreit: »Václav!«

Nach einer Weile tritt ein schlanker, junger Mensch ein.

»Komm her, mach deine Verbeugung vor dem Herrn«, brüllt Herr Mráz. Und dann zu dem Gast: »Verzeihen Sie, das ist nämlich mein Sohn. Ja, ich sollte es eigentlich gar nicht sagen. Würden Sie mir glauben, daß er achtzehn Jahre ist? Ich bitte, achtzehn Jahre. Genieren Sie sich nicht. Sie werden sagen, er ist fünfzehn höchstens. Natürlich. Sehen Sie diese Arme, bitte. Václav, du bist achtzehn Jahre. Schämst du dich nicht?«

Und dann schickt er den Sohn wieder fort. »Er macht mir Sorgen«, brummt er, »er ist zu gar nichts. Und wenn ich heute die Augen zudrücke –«

Darauf sagte neulich ein Gast: »Was wollen Sie denn, lieber Herr Mráz, wenn die Zukunft Sie wirklich beunruhigt, mein Gott – Sie sind noch jung – versuchen Sie's noch einmal, heiraten Sie –«

»Was?« schreit Herr Mráz, und der Fremde verabschiedet sich so schnell als möglich.

Allein nicht ganz vierzehn Tage später zwängt sich Pán Václav in seinen schwarzen Rock und fährt nach Skrben.

Skrbenskys sind vom ältesten Adel und verhungern lautlos auf ihrem letzten Stammsitz. Von dort holt Herr Mráz die Jüngste, Komtesse Sita. Die anderen beneiden sie, denn Mráz ist sehr reich. Die Hochzeit ist bald und ohne alles Gepränge.

Zu Hause erst merkt Herr Mráz, wie zart und blaß Sita ist. Er fürchtet im Anfang »diese Gräfin da« zu zerbrechen. Dann aber denkt er: Wenn es eine Gerechtigkeit giebt, muß sie mir einen wahren Riesen schenken. Und er wartet.

Aber es giebt keine Gerechtigkeit, offenbar.

Frau Sita bleibt wie ein Kind. Nur ihre Augen bekommen das große Staunen. Sonst geschieht nichts. Sie wandert ewig umher im Park, im Hof oder im Haus. Jeden Augenblick muß man sie suchen. Einmal kommt sie gar nicht zum Essen. »Es ist so gut, als hätte ich überhaupt keine Frau –« flucht Herr Mráz. In dieser Zeit wird sein Haar rasch weiß, und er geht nur schwer. Gleichwohl macht er sich eines Nachmittags selbst auf, Frau Sita zu finden. Ein Diener weist ihn in den sonst stets verschlossenen Trakt des Schlosses. Auf seinen leisen Filzschuhen schleicht Herr Václav durch die duftende Dämmerung dieser müßigen Zimmer; immer an den prahlerischen Kaminen und an den feierlichen Stühlen vorbei – mürrisch; denn er ist nicht in der Laune zu lachen.

Endlich steht er an der Schwelle des silbergrauen Salons, in welchem die vielen Spiegel sind, und staunt. Trotz des beginnenden Dunkels erkennt er in ihnen: Frau Sita und seinen Sohn, den blassen Václav. Sie sitzen sehr weit voneinander, reglos in den hellen, seidenen Sesseln und sehen sich an. Sie sprechen nichts. Man möchte meinen, sie haben auch nichts gesagt. Sie warten. Merkwürdig. »Und –?« denkt Herr Mráz, jedesmal mit einem Fragezeichen dahinter: »Und –?« Bis ihm die Geduld ausgeht. »Belieben,« brüllt er und schwillt zur Tür herein – »belieben sich nicht stören zu lassen, die Herrschaften.« Da fährt sein Sohn zitternd auf und sieht nach der Türe. Aber Pán Mráz befiehlt ihm zu bleiben.

Seither hat er etwas für die langen Nachmittage. Immer, wenn er sich recht unzufrieden fühlt, schleicht er auf seinen lautlosen Schuhen durch alle die schlafenden Zimmer in den kleinen Glassalon. Es kommt vor, daß die beiden noch nicht dort sind. Dann läßt er sie holen.

»Meine Frau und den jungen Herrn!« schreit er den Diener an.

Und dann müssen sie sich einander gegenüber in dieselben Sessel setzen wie damals. »Laßt euch nicht stören, meinetwegen –« donnert Herr Václav und bettet sich behäbig in einen großen Grafensessel. Manchmal ist es, als ob er schliefe, wenigstens atmet er so. Aber er hat trotzdem die Augen ein wenig offen und betrachtet. Er hat sich allmählich an die Dämmerung gewöhnt. Er sieht jetzt viel besser als das erste Mal. Er bemerkt: wie die Blicke der beiden voreinander fliehen und sich, müde und hilflos, immer wieder in allen Spiegeln finden. Es entgeht ihm nicht, daß sie Angst haben, eines in die Augen des anderen zu fallen, wie in unermeßliche Abgründe. Und daß sie sich doch immer wieder an den Rand wagen. Daß sie spielen mit der Gefahr. Auf einmal faßt sie der Schwindel; und dann machen sie plötzlich beide zugleich die Augen zu, ganz wie zwei, die zusammen von einem Turm springen –

Dann lacht Herr Mráz und lacht. Nach langer Zeit kann er wieder lachen. Das ist ein gutes Zeichen: er wird gewiß sehr alt werden.


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