Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Ein Morgen

(1899)

Zwischen dem Kastellfelsen von Arco und dem Dosso di Romarzolo, einem Bergrücken, der sich wie ein erwachender, durstiger Drache nach dem Gardasee schiebt, gibt es drei Ortschaften. Sie führen einen gemeinsamen Namen; so arm sind sie, daß keine von ihnen stark genug war, sich von der nachbarlichen dauernd zu unterscheiden. Am Rand der ersten Ortschaft ist eine Kirche, weiß und neu, aber doch schon im ersten Drittel ihrer Mauern schmutzig wie ein nachgeschleiftes Kleid. Sie ist allen drei Ortschaften zulieb gebaut, obwohl die Einwohner des entferntesten Dorfes lieber zu den Bettelbrüdern in das sehr alte Kloster Santa Maria delle Grazie beten und beichten gehen. Am Saume des zweiten Ortes ist ein Gasthaus, von den Gästen Arco's nachmittags gerne besucht, und deshalb auch schon von den Fremden beeinflußt: ein helles Haus mit Aufschriften, Terrassen und kleinen Kübel-Oleandern, manchmal sogar mit einer Fahne bezeichnet. Und daneben ragt eine übergroße, vielfenstrige Dampfmühle und verdeckt die Häuschen und ihren Himmel. Sie gehört dem Wirte und ist nichts, als das häßliche Geld der Arceser Kurgäste, mit welchem sie ihm den sauern vino santo teuer bezahlen. Und jeder, der da kommt, trinkt, einen Witz in das fettige Fremdenbuch schreibt und die Kellnerin um ihren Namen fragt, legt, ohne daß er es weiß, einen Stein zu dieser ungeheueren Mühle hinzu, die überdies noch jedes Jahr ein junges Häuschen kriegt.

Ich weiß zufällig, daß die erste Ortschaft Chiarano heißt, die mit dem gemeinsamen Kirchlein am Rand. Ich glaubte ihre paar armseligen Häuser genau zu kennen; denn es führt eine steile Steinrinne mitten durch in den Olivenwald, der, gebückt und silbern, die Hänge im Hintergrund verhüllt. Diesen Weg meinte ich auch an einem frühen Morgen im März zu gehen. Durch den feinen schwingenden Nebel, der schon die ganze Sonne enthielt, so daß sie viel näher schien, als wenn sie irgendwo am Himmel sichtbar wird, hatte ich eine Sekunde lang schon die ersten Oliven erkannt, hell, und Stamm und Blätter von derselben, fast farblosen Blässe. Aber plötzlich blieb eine Mauer, die von irgendwoher über die ganze Breite der Straße lief, vor mir stehen. Also bog ich links ab: ich war dem Morgen so willig. Aber ich hatte doch das Gefühl, so lange in dieser neuen Gasse zu gehen, daß der Ort schon hätte enden müssen. Statt dessen stellte sich mir wieder diese rohe, alte steinerne Mauer entgegen, schwankend im Nebel, gleichsam atemlos, als hätte sie sich bemüht, mir auf einem anderen Wege zuvorzukommen. Und ich ging wieder nach links. Das führte mich zu einem dunkeln breiten Torbogen, darüber noch der Kranz, das Zeichen einer »vendita di vino«, hing. Aber er war welk. Im Hofe lagen Stühle, Tür- und Fensterrahmen, von Stürmen oder Knaben herausgerissen, und durch die hohlen Türen sah man in lauter dunkles Verlassensein. Jenseits des Hofes war ein zweites Tor am Ende eines ziemlich langen, finsteren Flurs. Und vor diesem Tor ging jetzt ein Mädchen vorbei oder eine Frau. Schlank und in dem schwarzen Kleid, das diese Bäuerinnen fast täglich tragen. Als ich selbst rasch aus dem Hause trat, verlor ich sie links im Nebel. Ich folgte in dieser Richtung. Und jetzt öffneten sich beständig, bald rechts, bald links, kleine enge Seitengassen, als ob die Häuser zur Seite rückten, und es kamen viele Mädchen und Frauen, jener ersten ähnlich, und schritten, ohne mit einander zu sprechen, alle der Einen nach. Ich sah nur einen Augenblick ein junges klares Gesicht, oder erwachte, tief innen glänzende Augen, oder eine schmale braune Stirn, über der das schwarze Haar sich leicht und ohne Zwang bewegte, – dann fiel der Nebel schnell, wie ein Vorhang, davor, und nur die vielen hölzernen Schuhe klapperten irgendwo vorn.

Plötzlich blieb ich stehen und löste aus dem feinen Nebel, wie aus weichen, verwirrten Haaren: einen Brunnen mit Steinrand, ja mit einem Relief sogar, eine kleine Mariensäule aus verwittertem Stein, mit einem schweren runden Dach über sich, – aber diese Säule war nur der Anfang. Sie bildete das Eck einer ganz kleinen Kirche. Auf den Wänden außen zeigten sich Reste von alter Freskomalerei, vielleicht ein Abendmahl darstellend, und auf der Seite der Eingangstür waren Kopf und Arme und ein Stück von den tüchtigen watenden Beinen St. Christophor's zu erkennen, in großen Maßen, so, daß die Gestalt des Heiligen ein wenig gebückt schien, nicht nur durch die Last des Jesukindes, sondern auch aus Angst vor dem nahen Dach. Dieses Dach war nur sehr notdürftig zusammengefügt. Es mußte viele Fugen und Risse haben, denn über den Mädchen und Frauen, die jetzt drin in den Bänken saßen, war Glanz ausgestreut von oben, viel kleine Lichter, die vom Haar auf die Schultern fielen und dort hafteten, wie lauter Blätter einer großen Rose, die langsam zerflattert. Der Altar war fast dunkel; die schlechten, überschlanken Kerzen hatten ein krankes Licht und zuckten unruhig vor den schwarzgewordenen Bildern. Ein kleiner Greis in einem Meßgewand aus blaßblauem Taft las das Evangelium. Er stand ganz ruhig, mit seinem runden, lichtblauen Rücken zu den Frauen gekehrt, als ob er schliefe, und nur sein weißhaariger Kopf zitterte von den Worten des Evangeliums. Vielleicht schien es auch nur im Scheine der Kerzen so. –

Als ich mich zurückwandte, war der Platz klar, und der Nebel lag als flüchtiger Glanz naß auf den Steinen. Ich ging durch zwei oder drei Gassen. In den Häusern regten sich jetzt erst die Männer, man vernahm Flüche, und da und dort begann ein heiseres Lied. Aber die Stimmen waren noch schwer vom Schlaf. Ein Bursche mit rotem Gesicht stieß einen Esel aus dem Stall. Ein Alter rief beständig, ärgerlich: »Gita! Gita!« Aber niemand antwortete.

Ich aber wußte, wo Gita war. Ich habe ja gesehen, wo die Frauen sind, ehe die Männer wach werden. –

Gleich darauf war ich unter Oliven. Vom Wald her blickte ich zurück. Wieder die armen Hütten mit schlechten Dächern, verwitterten Mauern, hohlen Fenstern und roten Schürzen, die auf Geländern trocknen und ein wenig winken im Morgenwind. Am Rand die häßliche, neue, weiße Kirche, darin am Sonntag, vormittags um neun Uhr, Hochamt ist. Vielleicht würde das kleine Kirchlein finster und hinfällig werden, wenn es von diesem Rivalen erführe. Aber es gibt eine Stunde vor Tag, da ist es wie die einzige Kirche auf der Welt. Und keine von den Frauen wird darin zu ihrer Nachbarin etwas von der neuen Kirche sagen. Sie sind ja überhaupt ganz still, als ob keine von der anderen wüßte. Und auch der alte Priester weiß nicht, ob Leute da sind, oder nicht. Er liest das Evangelium und denkt nur manchmal dazwischen, wenn er die Steinkälte in den Füßen fühlt: »Gestern war doch ein Teppich da . . .« Aber das sind an fünfzig Jahre her, daß ein Teppich über den Stufen lag.

Ich bin nicht mehr nach Chiarano gegangen aus Furcht, diese kleine Kirche nicht wiederzufinden.


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