Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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[Aufzeichnung: Ein Abend]

(3. November [1899] Mitternacht nah)

Ich fürchte in mir nur diejenigen Widersprüche, die Neigung haben zur Versöhnlichkeit. Das muß eine sehr schmale Stelle meines Lebens sein, wenn sie überhaupt daran denken dürfen, sich die Hände zu reichen, von Rand zu Rand. Meine Widersprüche sollen nur selten und in Gerüchten von einander hören. Wie zwei Fürsten entfernter Lande, die plötzlich erfahren, daß sie einander hassen, da sie beide ausziehen, um dasselbe Mädchen zu werben. Das Mädchen aber . . . doch warum Alles verraten?

Manchmal ist man imstande zu sagen: ich bin froh. Und, wer dich versteht, dem ist dies genug, er kann ohneweiters der Vertraute deiner Freude sein. Oder wieder sagst du: ich bin traurig, und dein Zustand ist in der Tat ein einfaches Traurigsein, das sich nicht anders bezeichnen läßt. Zwischen diesen beiden Stimmungen aber gibt es eine ganze Reihe von Nuancen, Übergängen, zögernden Gefühlen mit lange nachhallenden Tönen. Um sie zu bezeichnen sagst du: ich bin . . ., nein, ich glaube, du sagst vielmehr: es ist . . .

Es ist, zum Beispiel, ein Abend in einer Stube; vor den Fenstern helle Dämmerung, mit den ungewissen Umrissen von Wipfeln belebt. Innen ist alles Licht um einen Ton tiefer, ruhiger, vornehmer. Und es sind ein paar junge Menschen beisammen, und ihre Gespräche sind eben verstummt. Sie stehen in ihren achtlos aufgeknöpften Uniformröcken mit sehr hohen Kragen beisammen, gleichsam einander vergessend. Dann plötzlich macht einer eine Bewegung, als wollte er fliehen, wendet sich aber sogleich an seinen Nachbar, einen blassen blonden Jüngling mit großen und sinnenden Augen. »Spiel etwas, Sascha«, sagt er viel zu laut und wie über ihn fort. Da werden auch die andern wach, und sie drängen den Jüngling mit den traurigen sinnenden Augen zu dem kleinen altmodischen Klavier und legen ihm die heißen Hände auf die Tasten. Und der Jüngling fühlt in dem fremden Zimmer, in dem sie, weiß Gott weshalb, beisammen stehen und sich ereifern, – wer vor ihm auf diesen Tasten gespielt hat; – er fühlt zwei Hände neben den seinen, wie lehrend, aber so leise, und er ahnt auch das Gesicht zu diesen zwei Händen. Ein Mädchengesicht, von leisen zärtlichen Linien begrenzt. Es hebt sich von der Dämmerung eines Fensters ab, fast Silhouette und doch etwas mehr, so sieht man zum Beispiel ein gesenktes, fast mit dem Lid verhängtes Auge und die Stirne darüber, still, schattig bis an den Rand des wirren Haars, darin irgend ein Wind stehen geblieben ist. Und Sascha spielt also willig das Lied dieses Mädchens, wie die Tasten es wollen. Immer weiter, immer weiter spielt er das Lied dieser Abwesenden, Fremden, vielleicht schon Gestorbenen. Und so kommt die Dunkelheit über die Stube. Die anderen gehn fast in Dunkel verloren, denn sie haben die Gesichter horchend gesenkt. Nur dann und wann schimmert da und dort eine Stirne. Wenn irgendzwei von ihnen erschauern und zugleich die Augen heben und einander dunkel fragend ansehen. –

 

Und immer öfter geschieht es mir, daß ich nicht sagen kann: ich bin . . ., sondern, daß ich sagen muß: es ist . . . aber dann schweige ich meistens.

 

Unsere Gefühle alle muten mich an wie Vorhänge vor Handlungen. Es muß nur ein Licht sich erheben irgendwo im Hintergrund, gleich bewegen sich große und geheimnisvolle Schatten über die Fläche des Vorhangs hin. – Und wir würden gut tun, unsere Gefühle daran zu messen, und sie nur dann über uns breit werden [zu] lassen, wenn sie entweder so einfach sind und schlicht, daß wir sie leben in unseren Bewegungen und Mienen, oder aber so bildhaft und tief, daß wir sie erzählen könnten, wie etwas, was den Vorfahren geschah – einst . . . in seltsamen Tagen.

 

Das ist unser Fortschritt: die Stoffe sind nichtmehr so schwer, so wichtig; wir dürfen sie gebrauchen und ganze Dramen schaffen, nur, um uns eines einzigen Gefühles bewußt, das heißt um ein neues Gefühl reicher zu werden.


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