Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Fernsichten

Skizze aus dem Florenz des Quattrocento

(1898)

Sie hatten einander beide vergessen. Der Pfad, der lange zwischen hohen Heckenrosen durch entlegenes Gelände lenkte, hob sie plötzlich unvermittelt empor ins Freie, ins Licht, und hielt die zwei jungen Menschen Florenz hin: nimm sie. Und die Stadt aus Marmor nahm das Geschenk. Sie nahm den Jüngling und nahm das Mädchen und trennte sie so. Denn es war ein anderes Florenz, welches jedes von ihnen entführte. Die Stadt des Beato Angelico war Simonettas Heimat, und sie schritt mittendurch, angstfremd und ganz in Weiß auf Santa Maria del Fiore zu. Der junge Mann im dunkelknappen Purpurkleid ahmte den steilen Bürgerburgen nach und wuchs mit ihren wachsamen Türmen. Seine Züge spannten sich, wurden reif und vollendeten sich wie unter einem unsichtbaren Meißel. Er spähte den Arno entlang und verharrte horchend. Dann sagte er eifern: »Und es raucht noch.«

Simonetta kehrte auf ihrem heimlichen Kirchengang um, rief sich her, verwirrte sich und fand Giuliano nicht gleich, weil er gealtert war.

Er wurde ungeduldig und streckte den Arm aus, heftig, als wollte er einen Pfeil von unsichtbarem Bogen senden: »Siehst du es nicht?«

Das Mädchen erschrak. Es schickte seine Blicke hinaus, hilflos, hastig irgendwohin.

Suchend kreisten sie um die Kuppeln und Fronten bis nach den spätgoldenen Bergen Fiesoles hin, wurden bang, matt und kehrten heim. Das Zucken ihrer Lider glich einem Flügelschlagen.

Giuliano erwachte, sah, wie grausam er ihre armen Augen gehetzt. Und aus Reue wurde er jung, so jung er nur werden konnte. Und die Geliebte, die das empfand, wuchs, wurde weit und fast mütterlich über ihm.

Sie faßte eine wilde Rose, hob sie zu sich ohne sie zu brechen und las aus der weißen Blätterschale diese leise Bitte:

»Halte mich wert jeder Kunde. Ich höre von nichts hier. Aber sag: was meinst du? Zeig mir den Rauch, welchen du erblicktest. Hilf mir ihn finden und lehre mich, was er bedeutet.«

Der Jüngling erzählte zaghaft: »Es war ein großes Feuer in Florenz. Ein Mönch ging, schwarz, durch alle Gassen und lehrte: In allem, was ihr liebt, glüht die Versuchung. Ich will euch erlösen vom Glanz.«

Da rauschte der Arno herauf. Giuliano blickte in den Abend. Alles war Pracht und Verschwendung darin. Wie beschämt sprach er weiter, langsam und zögernd.

»Sie brachten dem Mönche, was sie liebten: einen Dolch, ein liebes Buch, ein venetianisches Bild, Gold, Steine, Ketten . . ., viele Frauen Samt und Purpur und ihr eigenes Haar, und Alles wurde in seinen harten Händen Flamme.« Die junge Stimme zürnte und verlosch in den Worten: »und nach der Flamme – Qualm und Asche und Armut.«

Mit gesenkter Stirne ging der Jüngling weiter. Er brachte es nicht über sich zu gestehen, daß er selbst sein Geschmeide zum Holzstoß legte, zehn Tage vorher. Scheu schritt er links am Rand des Pfades hin. Ganz rechts am anderen Saum ging Simonetta. Der Weg war leer. Sonne war darauf. Es wurde wie ein Strom zwischen den beiden. Sie hörten ihn rauschen. Stille.

Dann riefen sie einander. Jedes aus seiner Bangigkeit heraus. »Giuliano.«

Stille.

»Simonetta.«

Stille. Der Strom wurde immer breiter.

»Sei nicht bang«, kam es von rechts, weither.

Stille. Dann rief es links:

»Woran denkst du?«

»Dann sind aber die Menschen jetzt arm?«

»Ja.«

Und von rechts: »Und Gott?« . . .

Irgend etwas schrie aus dem Jüngling heraus: »Gott auch.« Er stand, taumelte, tastete, und dann fühlten die jungen Körper einander, und sie blieben, eng verwachsen, inmitten des Weges wie ein Mensch. Sie behielten geschlossene Augen. Noch waren sie zu schwach, anderswo beisammen zu sein, als in dieser gemeinsamen engen Nacht.

Dann dachte Simonetta: Wie bist du, Lieber?

Und dunkel fragte sich Giuliano: Wie soll ich deine Schönheit nennen?

Sie wurden traurig; denn keines wußte vom andern ein Bild.

Endlich hoben sie zugleich die Blicke – hoch, als gälte es, den Himmel zu finden.

Aber da fanden sie sich, und lächelten im Erkennen. Als sagten sie einander in lauter Staunen: Was bist du tief.

Dann war kein Weg mehr zwischen ihnen und kein Strom.

Die Fernen vergingen immer mehr in Dämmerung, und es blieb nur soviel Welt um sie wach, als sie brauchten, um sich beschirmt und allein zu fühlen.

Später, als das Mädchen langsam müde wurde, sagte es: »Du, heute möcht ich dich zu irgendwem führen. Aber ich habe keine Mutter mehr.«

Da kamen die Sterne schon, und die Luft zitterte mit der kleinen hellen Aveglocke von S. Niccolò.

Da bat er: »Führ mich zu Gott.«

Sie trat vor ihm in die Porta S. Niccolò und war wie ein Licht neben ihm in dem kühlen Schatten der Gassen. Hand in Hand, wie an der Spitze eines langen, festlichen Zuges stiegen sie die Stufen der kleinen Kirche hinauf. Drinnen knieten sie lang unter Allen allein.

Und da war Gott sehr reich.


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