Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Im Gespräch

(1898/99)

Man kann gut denken, daß Bilder im Saale sind: tiefe, träumerische in ruhigen Rahmen. Ein Giorgione vielleicht oder so ein purpurdunkles Porträt von einem nach Tizian, etwa dem Paris Bordone. Dann weiß man, daß Blumen da sind. Große erstaunte Blumen, die den ganzen Tag in tiefen, kühlen Bronzeschalen liegen und Düfte singen: müßige Blumen.

Und müßige Menschen. Zwei, drei oder fünf. Immer wieder streckt sich das Licht aus dem Riesenkamin und beginnt sie zu zählen. Aber es irrt sich immer wieder.

Ganz vorn an der Feuerstelle lehnt die Prinzessin in Weiß; neben dem großen Samowar, der allen Glanz fangen möchte. Sie ist wie eine wilde Farbenskizze, so hingestrichen im Sturm eines Einfalls oder einer Laune. Mit Schatten und Licht gemalt aus irgend einer genialen Ungeduld heraus. Nur die Lippen sind feiner ausgeführt. Als ob alles andere nur um dieses Mundes willen da wäre. Als ob man ein Buch gemacht hätte, um auf eine von hundert Seiten die stille Elegie dieses Lächelns zu schreiben.

Der Herr aus Wien neben ihr neigt sich ein wenig vor in dem breiten Gobelinstuhl: »Durchlaucht« – sagt er und irgend etwas hinterdrein, was ihm selber wertlos scheint. Aber die weichen Worte, die nichts bedeuten, gehen über alle hin, wie eine Wärme, und Jemand sagt dankbar: »Deutsch sprechen ist fast wie Schweigen.«

Und dann hat man wieder eine Weile Zeit zu denken, daß Bilder da sind, und welche. Bis Graf Saint-Quentin, der am Kamin steht, fragt: »Haben Sie die Madonna gesehen, Helena Pawlowna?«

Die Prinzessin senkt die Stirne.

»Sie werden sie nicht kaufen?«

»Es ist ein gutes Bild« – sagt der Herr aus Wien und vertieft sich in seine feinen, frauenhaften Hände.

Und ein deutscher Maler, der irgendwo im Dunkel sitzt, fügt hastig an:

»Ja, man könnte es um sich haben. Ich meine in der Wohnstube oder so.« Und nachdem seine Worte ganz verklungen sind, neigt sich Helena Pawlowna vor: »Nein« – sagt sie, und dann traurig: »Man müßte ihm einen Altar bauen.«

Ihre Worte tasten tief in den Saal hinein, wie Suchende. Pause. Da macht die Prinzessin eine kleine bange Bewegung und will ihnen finden helfen.

»Kasimir, soll ich die Madonna kaufen?«

Weither kommt eine volle slavische Stimme, um sich zu wundern.

»Sie fragen mich?«

Pause.

Und Helena Pawlowna bittet um Verzeihung: »Sind Sie nicht Künstler?«

Antwort: »Manchmal, Helena Pawlowna, manchmal –«

Wenn die silberne Uhr jetzt nicht geschlagen hätte, würde der deutsche Maler geantwortet haben: »Aber« – doch die silberne Uhr rief auf einmal eine ganze Menge, und da gab er es auf. Besonders, da Graf Saint-Quentin sagte: »Übrigens, sind Sie den ersten Winter in Venedig, Helena Pawlowna?«

»Ja. Aber ich kann mir nicht denken, daß es jemals anders war.«

»Es ist seltsam. Diese alten Paläste sind so rührend in ihrem Anvertrauen. Sie haben viele Erinnerungen. Und da ist einem manchmal, als ob man alle mit ihnen teilte. Nicht?« So sagt der Herr aus Wien und schließt die Augen dabei.

Er sieht also nicht, daß Helena Pawlowna lächelt, während sie ergänzt: »Sie haben Recht. Eines besonders: daß man nicht hier Kind war, kann man gar nicht begreifen. Denken Sie: oft auf der Gasse oder in Gärten geschah mir, ich müßte jemandem winken und ihm erzählen: Hier hab ich immer gespielt als Kind. Oder: hier in diese Kirche bin ich beten gegangen, zu diesem Bild – lauter, lauter Lügen.«

Da kommt die Stimme Kasimirs traurig näher:

»Und doch haben Sie nie jemanden gerufen, Helena?«

»Oh, wer hätte mir denn geglaubt, Kasimir.«

Pause.

Und leise überlegt Graf Saint-Quentin: »Darf man nicht lügen in solchen Fällen?«

»Aus Sehnsucht einfach –« bestärkt der Herr aus Wien.

»Aus Schönheit –« fühlt Graf Saint-Quendn.

»Es schadet ja keinem«, meint der deutsche Maler und steht plötzlich auf.

Da beginnt Kasimir: »Es ist ja ohnehin falsch, was man so hinter sich hat. Glauben Sie, Graf, Sie sind in der Vendée Knabe gewesen und wild und ungestüm? Meinen Sie, Herr, das war Wien, was um Ihr erstes Erwachen herum war? Und Sie, Herr, daß dieses flache Land, von dem Sie oft erzählen, wirklich Hintergrund aller Märchen war, wissen Sie das? Dieses Schloß, bitte, und diese Stadt und Ihre Heide da, waren das nicht vielmehr die Grenzen jenes Landes, in welchem Sie tief und innig lebten? Bitte, hörte Ihr Besitz nicht dort auf, wo das Andere begann? Ging Ihre Sonne nicht unter, immer wenn Sie das wirkliche Licht empfanden? Starben die stillen Gestalten in Ihnen nicht an jedem Wort, das Ihr Vater zum Beispiel zu Ihnen sagte? Und Dinge. Wurden die Dinge nicht wertlos im Augenblick, da Sie erkannten, daß sie nicht Ihnen allein gehörten, sondern so herumstehen, daß ein jeder sie anfassen und benutzen kann nach Laune? Überlegen Sie das, bitte. Ob man nicht alles echte Gold, welches man hat, langsam in Scheine umwechselt. Wie? Und endlich hat man lauter Anweisungen statt der Werte. Und wenn heute oder morgen der große Krach kommt, dann ist man Bettler – ist das nicht so?«

Pause.

Und dann Helena Pawlowna: »Mir ist, als ob Sie nicht alles Gold umgewechselt hätten, Kasimir.«

»Vielleicht, Helena Pawlowna, es kann sein, daß ich das getan habe. Aber dieses Gold gilt nicht im Leben, müssen Sie wissen. Es ist außer Kurs. Man muß Scheine haben und recht viele« –

Das macht den deutschen Maler ungeduldig: »Ja, ja –« sagt er, »da hört man's ja wieder. Ihr seid Pessimisten, ihr Slaven, unheilbare Pessimisten. Wir haben das überwunden: wir lieben das Leben, und unsere Kunst kommt mitten heraus.«

Er macht ein paar Schritte zum Fenster hin und fügt von dort etwas leiser hinzu: »Ich glaube doch, die Herren müssen mir recht geben. Sie, Herr Graf; denn die Franzosen haben uns ja gerade manches gelehrt, was das Leben betrifft. Wie? Na und ihr in Wien . . .«

»Ja, ja«, antwortet der Herr mit den feinen Händen langsam, »es ist wahr, wir in Wien, wir tun gerne so, als ob wir alles hätten – Leben – und Kunst und –«

Und Graf Saint-Quentin nippt von seinem Tee und ist so mit der feinen Tasse beschäftigt, daß er nicht zum Antworten kommt. Wie er sie hinstellt, singt sie eine Weile vor sich hin.

Aber der deutsche Maler ärgert sich. Er fühlt sich so im Stiche gelassen und hat die Idee, seine Sache retten zu müssen um jeden Preis. Er beginnt also:

»Darum habt ihr ja auch eigentlich keine Kunst, ihr Polen und so weiter. Na, was Literatur betrifft und so Zeug, kann sein. Man soll aus Weltschmerz ja schöne Gedichte machen können und dann sentimentale Musik, hm, Chopin, Tschaikowski, freilich. Aber davon versteh ich nichts. Was Malerei anlangt, ich meine, moderne –«

»Oh, sehen Sie den Wereschtschagin –«

Der Maler wehrt ab.

»Oder Porträt: da haben wir jetzt in Wien den Pochwalski« – der Wiener wird ganz eifrig in dem Bestreben, die schroffe Behauptung des anderen zu dämpfen.

Er möchte immer noch eine Liebenswürdigkeit darüber breiten, und seine Hände zittern davon.

Aber da sagt Kasimir schon:

»Der Herr hat ganz recht. Wir haben keine Kunst.«

»Vergessen Sie Ihren ›Pan Tadeuz‹ nicht«, mahnt Graf Saint-Quentin.

»Gerade an ihn denke ich. Und an die großen Russen. Und an Tetmajer und diese feinen jungen Poeten, die das Kranksein so schön machen. Sie sehen, ich denke an Viele. Und dabei kommt heraus, daß wir Künste haben, keine Kunst. Viele Sehnsüchte und keine Erfüllung. Vielleicht ist das bei den Deutschen anders, ich weiß nicht. Aber dann müssen die Deutschen sehr glücklich sein –«

Die Prinzessin hat sich vom Kamin abgewendet. Ihre Augen rufen in das Dunkel hinein.

Und der deutsche Maler fühlt: jetzt geht wieder so ein Gespräch los, das zu nichts führt. Es ist eine gräßliche Art, dieses Geistreichsein. Und dabei sind alle die Dinge so klar, so lange man nicht in ihnen herumrührt.

Und er schweigt, um die Sache nicht weiter auszudehnen.

Wenn nur der Herr aus Wien nicht gefragt hätte: »Wie meinen Sie das?« Dann wäre es ja wohl zu Ende gewesen. Aber natürlich fragt er: »Wie meinen Sie das?«

Nicht gleich antwortet Kasimir, und die Prinzessin Helena Pawlowna hat Zeit, ihre Hände zu falten.

Dann kommen wieder lauter weiche Worte aus dem Dunkel. Dann und wann vernimmt man einen Schritt, als ob der Pole irgend ein besonders ängstliches Wort ein Stück begleiten wollte in den Saal hinein. So ungefähr: »Wir haben ja früher davon gesprochen, bitte. Kunst ist Kindheit nämlich. Kunst heißt, nicht wissen, daß die Welt schon ist, und eine machen. Nicht zerstören, was man vorfindet, sondern einfach nichts Fertiges finden. Lauter Möglichkeiten. Lauter Wünsche. Und plötzlich Erfüllung sein, Sommer sein, Sonne haben. Ohne daß man darüber spricht, unwillkürlich. Niemals vollenden. Niemals den siebenten Tag haben. Niemals sehen, daß alles gut ist. Unzufriedenheit ist Jugend. Gott war zu alt am Anfang, glaub ich. Sonst hätt er nicht aufgehört am Abend des sechsten Tages. Und nicht am tausendsten Tag. Heute noch nicht. Das ist aller Grund, den ich gegen ihn habe. Daß er sich ausgeben konnte. Daß er fand, daß sein Buch zu Ende sei mit dem Menschen, und nun die Feder fortgelegt hat und wartet, wie viel Auflagen es haben wird. Daß er kein Künstler war, das ist so traurig. Daß er doch kein Künstler war. Darüber möchte man weinen und den Mut verlieren zu Allem –«

Da fällt die silberne Uhr ein, hell, zögernd, mit einem kleinen Zittern in der Stimme.

Man läßt sie ausreden, und hinter ihr beginnt der Pole, ganz unwillkürlich leiser und heimlicher.

»Ein Lied, denken Sie, ein Bild, welches Sie erkennen, ein Gedicht, das Sie lieb haben, das alles hat seinen Wert und seine Bedeutung. Ich meine für den, der es zum ersten Mal macht, und für den, der es zum zweiten Mal macht: für den Künstler und für den wahrhaft Schauenden. Denn es ist so: der Bildhauer zum Beispiel macht seine Statue für sich, allein für sich; aber (und das ist das Mehr seiner Arbeit) er schafft außerdem Raum für sie in der Welt neben den anderen Dingen; und nur, wer imstande ist, das Bild innerhalb dieses Raumes aus eigener Kraft zu wiederholen, der hat es in Wahrheit und im Geiste –«

Die Kaminglut beginnt dunkler zu werden. Hinter den goldenen Gittern geschieht ein Stürzen und Zerstieben der breiten Pinienscheite. Es ist eine Verwirrung, als brächen phantastische Paläste zusammen.

Und mit dem Dunkel kommt der Pole näher und bringt seine immer leiseren Worte mit. Wie Kinder, die Wünsche aufsagen sollen, sind sie: beschämt und schön.

»Diese Dinge also, Lied und Gedicht und Bild, sind anders als die anderen Dinge. Sehen Sie das gütig ein, bitte. Sie sind nicht. Sie werden jedesmal wieder. Darum geben sie die Freude, die unendliche. Diese Macht. Dieses Bewußtsein von unerschöpflichen Schätzen, das sonst von nirgends kommt. Darum heben sie hinauf. Ja, das tun sie. Sie heben uns – hoch – bis zu Gott.«

Der Graf von Saint-Quentin macht eine Bewegung, als ob er Platz schaffen wollte für ein Wort.

Auch der Herr aus Wien ist nah am Reden. Er liest angestrengt in seinen Händen.

Aber Kasimir hat das alles nicht bemerkt. Auch nicht, daß der deutsche Maler sich damit beschäftigt, seine Finger auf einen kleinen Elefanten aus Ebenholz zu setzen und reiten zu lehren. Elender Zeitvertreib. Wie auf dem Land bei Regenwetter, so ungefähr.

Währenddem hat Kasimir längst begonnen; man sieht jetzt, wie seine dunklen Augen erwachen:

»Helena Pawlowna, – und jetzt sagen Sie selbst, bitte, ist das nicht hoffnungslos? Immer nur bis zu Gott. Nie durch ihn durch. Nie über ihn hinaus. Als ob er ein Felsen wäre. Und er ist doch ein Garten, wenn man so sagen darf, oder ein Meer oder ein Wald – ein sehr großer –«

Und da horchen alle in den Wald hinein. Die Prinzessin neigt sich weit, weit vor, dem Polen entgegen. Als ob sie allein alle seine Worte wollte, alle seine Worte – auch diese folgenden:

»Was muß man also tun, Helena, damit es nicht so traurig ist, das? Nicht so sinnlos traurig. Jetzt sagen Sie mir's, Helena. Sie sagen – ich höre, – etwa Das sagen Sie, Helena, nur besser, strahlender, als ich es kann: man muß, sagen Sie, dort muß man anfangen, wo Gott abließ, wo er müde wurde, dort muß man einsetzen. Wo ist das, Helena, bitte? Im Leben ist das, beim Menschen. Nicht bei den Vielen, bei dem einen Menschen, der einem entgegenkommt von Ewigkeit. Der einem alles das bringt, das Andere, was man noch braucht, um nie eine Not zu haben, um beginnen zu können sorglos, verschwenderisch; – denn das darf nicht sein, Helena, wie ein flüchtiger Besuch von Mensch zu Mensch. Und die Welt treibt unbekümmert daran vorbei. Das muß ein Fest sein, ein Jubel, ein grenzenloser. Sie haben ein Bild dafür gefunden, Helena, so: zwei Feldherren, die zu einander kommen auf den Höhen. In einem leuchtenden Land. In Jerusalem vielleicht, in Ägypten oder am Ganges. Jeder mit einem Heer hinter sich – und jedes Heer die halbe Welt –«

Da hat Helena Pawlowna sich erhoben. Hoch. Stille. Zwei Menschen stehen einander gegenüber. Zwei Könige. Es ist eine Weile wie in Jerusalem oder wie am Ganges. Und auch die Flammen hinter den goldenen Gittern erheben sich und streuen Glanz weit aus.

Der Graf von Saint-Quentin hat seinen Platz am Kamin verlassen und ist im Begriff, sich leise zurückzuziehen. Der Herr aus Wien ist langsam aufgestanden, und auch der deutsche Maler hat auf einmal begriffen: man muß aufstehen in diesem Augenblick. Er ist maßlos erstaunt. Man sprach doch über Kunst eben noch – merkwürdig. Und da setzt er sich auch schon wieder mit einer gewissen Erleichterung. Man muß reden, denkt er, um Gotteswillen rasch, man muß reden. Das Erste-Beste. Er strengt sich ungeheuer an. Ihm fällt nichts ein, als der arme kleine Ebenholz-Elefant, den er in der letzten Viertelstunde abgerichtet hat; aber es ist doch unmöglich, plötzlich von diesem Elefanten zu sprechen: Herr Gott –

Da hört er den Grafen von Saint-Quentin, französisch: »Sie müssen verzeihen, Helena Pawlowna, wenn ich schuldig bin an diesem Aufbruch –« und die feine Pendüle unterstützt ihren Landsmann. Sie schlägt irgendeine endlose Stunde, den ganzen Abschied entlang, so daß keiner etwas sagen muß.

Auch Kasimir nicht. Man kann sein Gesicht nicht sehen und nicht wissen, ob er bleich ist. Aber seine Augen müssen müde sein. Das hat man so im Gefühl. Und seine Hand zittert und ist schwer. Er verneigt sich tief vor der Prinzessin, tief. Dann geht er, wie einer, der nicht wiederkommen wird an einen lieben Ort. Zögert bei jedem Schritt. Sieht allen Dingen ins Gesicht mit so ernsten Augen. Aufmerksam. Damit er doch weiß, wie alles war.

Helena Pawlowna bleibt vor dem verloschenen Kamin. Sie horcht: nur die kleine, silberne Uhr, und die tickt atemlos, atemlos, als liefe sie hinter einer Sekunde her, die viel, viel schneller ist. Und da langt die Prinzessin zum Kamin hin nach einer kleinen, alten, goldenen Glocke, in deren Griff winzige Bilder getrieben sind.

Helena Pawlowna wird Licht befehlen, viel Licht.


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