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Fünftes Kapitel.
»Hedwederl«

Der kürzeste Weg, hinter die Geheimnisse des Hauses zu kommen und Aufklärung über die eben erlebte Szene zu erhalten, wäre wohl gewesen, unter den Torgang hinab zu gehen und hier von den beteiligten Zeugen einen oder den andern vertraulich zur Seite zu nehmen. Allein es schien nicht, dass dieser Weg unserem Gaste behage, er ging vielmehr nachdenklich im Zimmer hin und wider, ließ es im Hause ganz ruhig werden, worauf er die Zimmertür angelweit öffnete, sich an den Tisch setzte, seine Spieluhr vor sich legte und munter aufspielen ließ.

»Böse Menschen haben keine Lieder«, sagte er lächelnd und nach der Türe sehend. »Also werde ich die Guten locken!«

In der Tat erschien alsbald ein kleines Mädchen, ein allerliebster Flachskopf, dessen natürliche Locken, hinter die Ohren gestrichen, über den Nacken fielen, staunend an der Türe und spähte nach der Quelle der wunderlichen Töne.

Hilarius grüßte freundlich und sagte:

»Darfst schon kommen, Kleine. Willst Du sehen, wie das Ding da musiziert?«

Das Kind sah Hilarius prüfend an, schien Vertrauen zu fassen, kam zögernd bis an den Tisch, worauf Hilarius jetzt den Deckel der Uhr öffnete und die drehende Walze mit den abenteuerlich gerichteten Stiften sehen ließ, die den Klangplatten die klaren, lieblichen Töne entlockten.

»Siehst Du, da nebenan ist das Uhrwerk versteckt, das treibt die Walze, die Walze drückt die Stifte an die Plättchen und lässt diese wieder losschnellen, dann singen die Plättchen; hört aber das Uhrwerk zu gehen auf, so ist alles aus … Siehst Du? Rick rack – und still ist der Schabernack!«

Das gespielte Stück war zu Ende, aber das Kind war noch keineswegs befriedigt. Es klatschte in die Hände und rief:

»Bitte, bitte, noch etwas!«

»Ja, das geht nicht so leicht, mein Kind. Wir müssen dem Schlüsselchen da gute Worte geben, damit es dem Uhrwerk was ins Ohr setzt – so, nun drehen wir um und – ah! Hörst Du das Uhrwerk knurren? So machen's unartige Kinder auch – aber wir kümmern uns nicht darum, wir lassen es knurren – drehen das Schlüsselchen, solange es geht – geben jetzt der Walze einen leichten Druck in die Seite … horch! Nun? … Sieh', da schnellen die Plättchen wieder und singen – die Kerlchen machen ihre Sache gar zu gut!«

»Nun, wie heißt Du denn eigentlich?« fragte Hilarius jetzt.«

»Hedwederl.«

»Hedwederl? Diesen Namen hab' ich noch gar nicht gehört. Wie schreibst Du ihn? Du kannst doch schreiben?«

»Lesen und schreiben«, sagte das Kind mit stolzem Nachdruck.

»Das trau' ich Dir auch zu. Nun, so schreib' mir einmal Deinen Namen«, sagte Hilarius und legte Notizbuch und Stift auf den Tisch.

Das Kind schrieb recht artig: Hedwig.

»Ah – Hedwig schreibt man's und Hedwederl wird's gesprochen! Nun, mir kann's recht sein … Sag' einmal, hast Du in der Schule auch sonst schon recht viel profitiert? Weißt Du, was Hauptwörter, Beiwörter, Fürwörter, Zeitwörter und Menageriewörter sind?«

»Menageriewörter kenn' ich nicht, aber die andern alle«, rief das Kind und warf die Oberlippe auf.

»Ei, und da weißt Du auch, in welchen Zeiten, Arten und Unarten ein Zeitwort sich herumtreibt? Welche Zeiten hat den z.B. ein solches Wort?«

»Die gegenwärtige, halbvergangene, künftige …«

»Bravo – vergangen und so weiter. Gut. Dafür soll die Uhr noch ein Stücklein spielen … Zuvor aber noch eine Frage, wie heißt die halbvergangene Zeit von: ich gehe?«

»Ich gung«, sagte das Kind zuversichtlich.

»Ich ging«, verbesserte Hilarius lächelnd. »Aber es geschieht niemandem ein Unglückdabei. – Wie lauter die halbvergangene Zeit von: ich fliege?«

»Ich flag«, sagte das Kind wieder frischweg.

»Nun, wieder nur einen Büchsenschuss daneben; wir nehmen ein o statt a, und fertig ist die Hexerei, es lautet: ich flog … Aber: ich wette – sag' mir die halbvergangene Zeit davon …«

»Ich wott!« rief das Kind, selbst unterhalten, da Hilarius laut auflachte.

»Nein, ich wettete«, sagte dieser. »Aber was tut's? Es hat niemand ein Bein dabei gebrochen. – Also ein lustiges Stückchen! Horch'! Willst Du mir auch war vortanzen?«

Hilarius stellte das Kind auf den Boden, ließ einen Schottischen aufspielen und sah vergnügt, wie das Kind anmutig die Hände an die Hüften stemmte, taktmäßig sich hin- und herwiegte und den Tanz allerliebst auszuführen begann. Plötzlich rief es: »Mutter!« und sprang der Türe zu, wo die Wirtin, eine kräftig gebaute Frau, mit schmerzvollem Gesicht, seit längerer Zeit unbeweglich stand und mit Rührung und mütterlichem Vergnügen der Unterhaltung zugehört hatte.

Hilarius stand auf und ging der Frau entgegen.

»Ihr Fräule Tochter – Hedwederl – ist ein lustiges Hexle, wir passen gut zusammen«, sagte er freundlich.

Die Wirtin legte das Kinn in die Hand und richtete gerührt forschende Blicke auf den Fremden. Der Ton der Ansprache, wie das ehrliche blaue Auge desselben ließen Vertrauen fassen.

»Wenn es nur nicht lästig fällt; Kinder nehmen gar keine Rücksicht«, sagte die Wirtin jetzt.

»Da tun sie als Kinder eben recht. Kinder halten die Welt noch für gut, weil sie selbst gut sind – und zwischen guten Menschen werden wenig Umstände gemacht.«

»Ja – mehr gute Menschen und vieles wäre anders auf der Welt«, sagte die Wirtin gedrückt, und die Hand auf den Kopf des Kindes legend, das sich in ihre Schürze wickelte.

»Richtig, Frau Wirtin«, erwiderte Hilarius. »Es scheint, dass Sie schlimme Erfahrungen gemacht haben; da weiß man freilich, was gute Menschen wert sind!«

Die Wirtin sah zu Boden, und ihre dunklen, ausdrucksvollen Augen wurden feucht.

»Man muss ertragen, was kommt«, sagte sie mit zuckenden Lippen. »Ein Höherer muss helfen, der Mensch kann nur stille halten.«

»Es kommt darauf an«, meinte Hilarius, das Gespräch absichtlich festhaltend. »Manchmal scheint es dem Höchsten doch lieber zu sein, wenn der Mensch, der sein Ebenbild ist, sich selbst hilft, wozu er Verstand, Vernunft und sonst noch Mittel erhalten.«

Die Wirtin schüttelte den Kopf.

»Nein, nein!« sagte sie. »Es gibt keinen Helfer als ihn – keinen Ausweg als mit seiner Hilfe!«

»Ihr Haus scheint an einer schweren Heimsuchung zu leiden … Ist's erlaubt, liebe Frau, zu fragen, was vorhin diesen Auflauf verursacht hat?«

»Ach, Herr … Es wird Ihnen nicht verborgen bleiben; erzählen doch andere so gern, was einem Hause Übles geschieht …«

»Am liebsten hörte ich von Ihnen, was vorgefallen … Nun, Hedwederl, bitte Du die Mutter, dass sie mir was sage.«

»Mutter, wein' nicht wieder!« rief die Kleine. »Sag' dem Lustigen alles!«

»Lustigen!« lachte Hilarius, und selbst über das schmerzhafte Gesicht der Wirtin zuckte ein Lächeln.

Diese zögerte einen Augenblick, sah den Fremden noch einmal forschend an, und als sie in dessen Mienen aufrichtige Teilnahme las – kam sie endlich, wenn auch immer halb zögernd, dem Wunsche des Gastes nach und erzählte ausführlich und wirkungsvoll das Schicksal des Hauses seit einem ereignisschweren Jahre. Es war geeignet, Hilarius mit einem Male einen klaren Blick in den Zustand des Hauses und der Bewohner desselben werfen zu lassen.

Die Wirkung war ernst und seltsam genug.

Lange schon hatte sich die Wirtin mit dem Kinde entfernt, als Hilarius noch unbeweglich und in lebhaften Gedanken auf seinem Stuhle saß.

War doch in die Geschicke des Hauses auch der Name eines Mannes verhängnisvoll verflochten, welcher binnen wenigen Tagen bei dem fünfundzwanzigjährigen Stelldichein nicht fehlen durfte.


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