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Erstes Buch.
In geheimer Mission


Erstes Kapitel.
Froh und frei.

Den 10. Juli 187* verließ ein flotter, junger Mann die Schenke zum »blauen Träubel« in Hallbach, um seinen Wanderstab nach der vielbewunderten Gamsau zu richten.

Eine Stunde hatte hingereicht, den munteren Gast zum Freunde des Wirts, zum Liebling der Wirtin und sämtlicher Mädchen des Hauses zu machen; sie alle gaben ihm das Geleite, als er, sein Ränzlein umgehangen, den Bergstock in der Hand, vor das Tor der Schenke trat und, den schön geformten Lockenkopf noch einmal wendend, Abschied nahm.

»Herrlein, es wird Regen geben«, sagte die Wirtin, um noch eine Warnung wohlmeinend auszusprechen.

»Alles Gute, auch der Regen kommt von oben«, erwiderte der Gast, am Riemen seines Ränzleins rückend.

»Aber die Nacht wird da sein, eh' man's denkt«, glaubte die Wirtin noch erinnern zu sollen.

»Scheint die Sonne noch so schön, einmal muss sie untergeh'n!« sagte der Gast, die bekannte Melodie anstimmend.

»Aber die Nacht ist finster!« rief die quecke Chilli und versteckte sich hinter die Toni, Grete und Agath.

»Das war schon die Gewohnheit ihrer Mutter«, erwiderte der Gast, den Spitzhut mit der Reiherfeder schwingend.

Alles lachte, vergaß des Regens, der Finsternis, der Nacht; rief nochmals »Lebewohl« und folgte mit den Augen, so lang der Scheidende zu sehen war.

Dieser aber schritt unbekümmert um den Eindruck, den er hinter lassen, munter seines Weges; er war gewohnt, vorwärts zu schauen, die Welt von Neuem und immer frisch ins Auge zu fassen – vollends heute, wo es galt … sein Auge leuchtete, sein Haupt erhob sich froh entschlossen …

Vor einem Hause stand ein Knabe und starrte nach den Wolken. Der Fremde fasste dessen Lockenkopf und sagte: »Was gilt's? Ich seh', was Du nicht siehst.« Der Knabe riet verlegen: »Den Lämmergeier.« – »Nein, Dein erzsauberes Näsle!« sagte der Fremde, dem Knaben sein Taschentuch reichend. Der Knabe fuhr mit dem Ärmel unter die Nase und sprang lachend ins Haus. – Am Gemeindebrunnen stand ein Invalide und füllte einen Wasserkrug. »Wo verwundet worden?« fragte der Fremde. Der Invalide nannte einen unglücklichen Schlachtort. »Dort hat auch mein Herz ein Bein verloren«, sagte der Fremde, machte dem Stelzfuß ein Geschenk und ging weiter.

Wo das Städtchen sich in einzelne Gartenhäuser auflöst, führt eine Allee bis zur Stelle, wo die Straße sich in die Schatten des Waldes verliert. Eine ärmlich gekleidete Frau zog ein Wägelchen mit Klee bergauf und machte alle paar Schritte stöhnend Halt; da schienen ihre Kräfte unversehens zuzunehmen, das Wägelchen folgte wie von selbst. »Das ist Gottes Hand«, dachte sie, das Wunder dankbar hinnehmend, und beeilte sich, den Seitenweg zu erreichen, der in ebener Richtung zu ihrer Hütte führt. Als sie hier stille haltend um sich blickte, sah sie hinter dem Wägelchen den Fremden vorkommen, grüßend den Hut schwenken und im Dunkel des Waldes verschwinden; sie legte das Kinn in die Hand und starrte verwundert vor sich hin. »So gibt's noch gute Menschen«, dachte die Frau mit tiefem Leidenszuge im Gesicht; »auch lustig ist er!« fügte sie hinzu, als aus dem Walde ein hell anklingendes Lied vernommen wurde. Sie horchte, solange das Lied erklang, dann fuhr sie über die Stirne, ergriff die Deichsel des wieder schwer gewordenen Wägelchens, zog an und dachte seufzend: »Lebt auch mein Severle noch, und ist er froh und alert wie der? …«

Um dieselbe Zeit wurden drei Männer, die im Walde gingen, veranlasst, stille zu stehen und zu horchen. Liebliche Klänge schienen bald aus der Luft, bald aus dem Gebüsch zu kommen; eine Fee schien die Wanderer necken zu wollen.

Einer der Männer, eine vierschrötige Gestalt in der Tracht eines wohlhabenden Landwirts, war besonders erstaunt über die zweifelhafte Richtung der Klänge, während der Zweite, ein schlanker, junger Mann mit geistreichem Gelehrtengesicht und in sorgfältiger Modetracht, atemlos horchend die Töne einer Mozartmelodie, die jetzt erklang, mit Wohlbehagen schlürfte. Der Dritte, mittelgroß, mit ehrbarem Backenbart, der vom Ohr zur Wange eine halbrunde Zierhecke bildete, suchte vor allem das Instrument zu erraten und war auch bald darüber im Reinen, indem er ausrief:

»Eine neuartige Spieluhr ist's!«

Und wie zur Bestätigung trat eben ein Wanderer die Wendung der Straße hervor, der die Walze der Spieluhr auf ein neues Stücklein – einen Strauß'schen Walzer – stellte.

Mücken und Falter schienen vor dem Wanderer herzutanzen, ein Rauschen lief durch die Zweige, als wirble ein unsichtbarerer Reigen lustig durch den Wald.

Als der Wanderer näher kam und die Männer stehen und horchen sah, sagte er lächelnd: »Dachte ich doch, Musik mache leichter wandern; da merke ich eben, sie hält vom Marsche ab. Ich will ein Ende machen.«

»Nicht doch«, sagte der Herr in Modetracht, »lassen Sie immerhin aufspielen; wie sauber und seltsam klingt das im grünen Wald!«

Hilarius – so heiße fortan unser Fremder – steckte die Uhr in die Tasche und ließ den Walzer zu Ende spielen, während er sich der Gesellschaft der Männer anschloss; plötzlich – den Herrn in Modetracht näher ins Auge fassend – rief er:

»Was seh' ich? Öffnet Musik nur das Herz und nicht auch die Augen? … Eduard! Ungetreuer!«

»Sie kennen mich?« fragte der Modische, Hilarius genau betrachtend.

»Wie meine Spieluhr – ich will Dich gleich aufziehen, damit Du mir eine Erinnerung spielst; wie geht's der schönen Adelaide von Bucheck?«

»Wo waren meine Augen – Hilarius!« rief der Modische.

»Ipsissimus!« erwiderte Hilariua.

Die Fremden umarmten sich, und Hilarius bemerkte lachend:

»Seit Du Staatsanwalt bis, starrst Du zu viel in Verbrechergesichter, das stumpft die Sehkraft und die frohen Lebensgeister ab. Ich sagte gleich, als ich Deine Ernennung im Regierungsblatte las, der Rohrbach ist geliefert!«

»Angenehm ist das Amt zwar nicht, aber nützlich und interessant, das wirst Du zugeben.«

»Bleibe mir ferne mit dem Treiben der Gerichtssäle! Die Prozedur ist mir immer vorgekommen: Einer fällt ins Wasser, der Verteidiger zieht ihn heraus, der Angeklagte stoßt ihn wieder hinein und so eine Weile fort, bis Geschworene und Richter den Jammervollen, wenn er nicht zu tief gefallen, schließlich halbtot ans Lebensufer zerren!«

»Du bist immer frohen Muts und willst die Welt nur von der idealen, heiteren Seite sehen!« lachte der Staatsanwalt. »Dir ist noch kein Verbrecher zu nahe getreten, um dich den Wert eines Anklägers schätzen zu lehren! … Willst Du ausnahmsweise meine gegenwärtige Aufgabe kennen lernen, so schließ' Dich uns an, denn in Sonndorf beginnt übermorgen das Schlussverfahren betreffs jenes geheimnisvollen Verbrechens, das vor sieben Monaten das Publikum in so lebhafte Bewegung versetzte; ich meine den Mord an dem reichen Rentier Buller.«

»Führst du die Anklage?«

»So ist's, und hier seh' zwei gewissenhafte Zeugen. Wir werden hoffentlich die Welt von einem raffinierten Bösewicht befreien.«

»Wer ist im Verdachte?« fragte Hilarius, den der Fall, wie alle Welt, interessierte.

»Zu verantworten haben sich viele; mehrere Dienstleute, Hausgenossen; der stärkste Verdacht ruht auf einem Produktenhändler, der zeitweise vertraulich bei dem Rentier gesehen worden. – Ich meine, Du solltest der Verhandlung beiwohnen, die manche bedeutsame Momente bietet; auch sollte es Dich interessieren, Deinen Freund amtieren zu sehen … Was ist überhaupt der Zweck Deiner Wanderung?«

»Ein Geheimnis, eine Mission«, sagte Hilarius, und eine leicht Röte überflog seine Wangen. »Ich kann Dich leider nicht einladen, mich amtieren zu sehen, aber Mitteilung verspreche ich Dir später … Wie lange wird das Schlussverfahren dauern? Darauf kommt es an, ob ich noch rechtzeitig nach Sonndorf kommen kann.«

»Zehn Tage, wenn nicht länger!« sagte der Staatsanwalt.

»Ich komme!« rief Hilarius. »In zehn Tagen ist meine Mission vollbracht; Sonndorf liegt mir auf dem Wege – ich werde Dich in Deiner Amtsherrlichkeit thronen sehen! …Doch eins sage mir, eh' wir scheiden, wie will man's erklären, dass der Produktenhändler in der Nacht das Schlafgemach des Rentiers verlässt, ohne dass ein Schloss berührt, ein Gegenstand verrückt wird?«

»Das muss ich meiner Anklageschrift vorbehalten, sonst schwäch' ich Deine Neugierde und Du kommst nicht nach Sonndorf!« sagte der Staatsanwalt.

»Gut denn«, fuhr Hilarius fort, »aber so viel kannst Du wohl aus der Schule schwatzen, ob der Produktenhändler aus Rache oder Habsucht gemordet hat. bisher habe ich nur gelesen, dass man keinen Gegenstand aus dem Besitz des Ermordeten vermisst hat, ist das wahr?«

»Nicht mehr so ganz«, bemerkte der Staatsanwalt. »Ein Ring, den der Ermordete am rechten Zeigefinger zu tragen pflegte, ist seit der Unglücksnacht verschwunden. Das lässt auf andere Beziehungen, vielleicht Familienverhältnisse schließen …«

»Und ist von diesem Ringe keine Spur gefunden?«

»Nein, obwohl der Ring an einigen absonderlichen Merkmalen unschwer zu erkennen wäre.«

Der Staatsanwalt bezeichnete einige dieser Merkmale, brach dann ab, reichte dem Freunde die Hand und sagte:

»Lebewohl! Ich habe Dein Wort. Komme! Aber komm' noch zu rechter Zeit!«

Hilarius blieb vor dem Wegweiser stehen, dessen eine Hand nach Sonndorf, die andere nach Teuffen wies, erwiderte den Händedruck des Freundes, sagte nochmals sein Kommen zu und rief, bereits dem Weg nach Teuffen folgend:

»Sorgt auch für einige Unterhaltung, wenn ihr mich länger als eine Nacht behalten wollt!«

Der Staatsanwalt nickte über die Schulter zurück, bestieg mit seinen Begleitern einen vorangefahrenen, an der Wegscheide wartenden Wagen und eilte von dannen.

Er war kaum verschwunden, als Hilarius, von einem Gedanken durchzuckt, urplötzlich stehen blieb, seinen rechten Arm ausstreckte und nach seiner Hand sah, an deren Zeigefinger – derselbe Ring steckte, den der Staatsanwalt soeben beschrieben und als Beweismittel so nachdrücklich hervorgehoben hatte …

Hilarius zog den Ring vom Finger, betrachtete ihn nachdenklich, wickelte ihn sorgfältig in ein Blatt Papier und steckt ihn zu sich …

»Am besten, ich folge dem Freunde und teilte ihm mit, was ich weiß«, dachte er eine Weile zaudernd. »Doch dies kommt auch morgen noch zurecht, es soll schriftlich geschehen; mich soll nichts vom Wege meiner Mission ableiten!«

Er schritt weiter, ein dumpfes Rollen machte ihn aufblicken. Es kam aus einer finstern, regungslosen Wolke über den Wipfeln. Es mahnte ihn, sich rechtzeitig nach einer schützenden Stätte umzusehen.

Hilarius, dessen Miene wieder heiterer wurde, drückte den Hut in die Stirne, schritt rascher aus und sagte, der Wolke zulächelnd:

»Nur ohne gene, gute Freundin. Tu' deine Bürgerpflicht; wein', stürme dich aus – Jeder treibe es nach seiner Facon!«


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