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Drittes Kapitel.
Nach fünfundzwanzig Jahren

Der tobenden Wetternacht war ein heller, erquickender Morgen gefolgt.

Hilarius stand bereits sehr frühe an dem Fenster, das eine malerische Aussicht bot und erfreute sich an dem wechselvollen Gesamtbild zwischen dem wild schäumenden Waldbache, der an der Grundmauer des Hauses vorüber in die Tiefe schoss, und den in der Ferne zauberhaft aufregenden Alpenspitzen.

»Ei!« sagte er vergnügt, »dort seh' ich die Straße, die ich gekommen bin, in sachten Wendungen herab schimmern; hier links liegt das Städtchen, das ich passieren sollte; breit und durch keine Straße gekreuzt, führt der Weg zum Klosterhof hierher. Wie war es möglich, irre zu gehen? Ich habe mein Ziel, wie Odysseus die Heimat, erreicht, ohne es zu erkennen.«

Indem sein Blick ins Tal, zu bewaldeten Höhen zurückkehrte, blieb er endlich auf einem jäh aufstrebenden Berghaupt des Mittelgebirges, das eine Burgruine ziert, mit besonderer Teilnahme ruhen.

»Dort war es auch«, dachte er, »wo eine besonders gute Stunde die Herzen der jungen Männer vorbereitet fand und zu jener Begeisterung fortriss, die folgenreich nachgewirkt hat, erhebend zu jedem Guten, befeuernd zu mancher schönen Tat, bewahrend vor dem Abfall ins Alltägliche, Gemeine! Mit welchen Früchten des Geistes und Herzens werden sie kommen, die an jenem Tage im Aufschwung schönster Begeisterung sich das Edelste gelobt und das Höchste zugeschworen! Kaum dass ich den Tag und die Stunde, so nahe sie sind, erwarten kann! …«

Es war in der Tat ein seltener Moment, an welchen Hilarius dachte, den er zwar nicht selbst mit erlebt, aber als Erinnerung von seinem Vater in oft wiederholter, unvergesslicher Schilderung überliefert erhalten hatte.

Man schrieb den Monat Juli vor fünfundzwanzig Jahren, ein feierlicher Beschluss führte eine Anzahl junger Männer zusammen, Universitätsgenossen verschiedener deutscher Länder, alle in der schönsten Blüte des Lebens, die, wie sich bald zeigte, auch erfreulich übereinstimmten in Gesinnung und Streben. Der wundervolle Morgen, die berückende Fernsicht auf Berg und Tal, die um einen üppigen Rasengrund aufragenden Ruinen, welche erquickenden Schatten gaben, dazu der im Kreise rasch umgehende Pokal belebten bald die Pulse schwungvoll und beflügelten das Wort. Gesang erscholl und dem Schönsten und Besten wurde feurig gehuldigt. Da fiel das Wort »Vaterland« – und der Höhepunkt der Stimmung war erreicht. Dem Patrioten wurde der Preis zuerkannt, der aus sich selbst das menschlich Vollkommenste bildet und so seinem Volk und Lande dient und zur Zierde gereicht. Übereinstimmend wurde der Wert des Lebens nur in der richtigen Verwendung desselben erblickt und, entgegengesetzt der Zeitrichtung, der Besitz gemeinnütziger Kenntnisse noch nicht als Bildung anerkannt, welche erst durch sorgfältige Kultur des Geistes und durch Veredelung des Gemütes erzielt werde. Die hohe Stimmung, die schöne Reife der Gedanken, die Füller erhabener Vorsätze hatten bald zu einem Antrag und Beschluss geführt: Nach Jahren wieder sich zusammenzufinden und offen Rechenschaft abzulegen, in wie weit man seinen Idealen treu geblieben, welche Kämpfe man bestanden, welches Ziel nach Außen und Innen man erreicht. Ein Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren wurde für dies Wiedersehen festgesetzt und der sogenannte, vielen bekannte Klosterhof bei Thalbrücken als Ort des Stelldicheins bestimmt. Während dieser langen Zeit sollte jeder leben und streben ganz nach eigenem Ermessen, nie an die heute gepriesenen Grundsätze erinnert oder zu einer absichtlichen Begegnung veranlasst werden.

Umso zuversichtlicher erwartete man nach Ablauf des Termins von dem reifen, an seinem Hauptziele angelangten Manne unumwundene Rechenschaft über sein Leben. Pflicht eines jeden war es, persönlich zu erscheinen; wo nicht zu beseitigende Umstände dies verhinderten, sollte schriftliches Bekenntnis eingesendet oder ein Freund oder Sohn zu mündlichem Berichte abgeordnet werden. Wer gar nicht erschien und auch keine Lebenszeichen gab, musste gewärtig sein, dass sein Aufenthalt erforscht und seinem Lebenswege prüfend und strenge richtend nachgegangen werde …

Noch einige Tage und die fünfundzwanzig Jahre waren um.

Hilarius war als Abgesandter und Stellvertreter seines schon im Voraus zum Präsidenten gewählten Vaters, den ein chronische Leiden am Erscheinen hinderte, gekommen, er brachte schriftliche, noch unentsiegelte Bekenntnisse mit, die er der Versammlung vorzulegen hatte. Die Ungeduld, seine Aufgabe zu vollbringen, die Spannung, den denkwürdigen Tag mitzuerleben, die Männer zu sehen, deren Bekenntnisse gewiss das höchste und mannigfaltigste Interesse erregen mussten, hatten ihn vor der Zeit an den Ort der Zusammenkunft geführt, um die einzelnen ankommen zu sehen und vielleicht schon vor dem feierlichen Versammlungstage manche bedeutsame Stunde mit einem und dem andern zuzubringen. Im Allgemeinen wusste er durch seinen Vater, dass die Lebenswege der Betreffenden bunt auseinander gegangen waren, dass Minister und Mönche, Beamte und Ökonomen, Schulmänner und Industrielle erwartet werden dürfen. Welche Gelegenheit zu Studien und Überraschungen! Welches bunte Ergebnis derselben Ideale und Absichten!

Hilarius war in großer Bewegung. Ernst und Humor erzeugten im Voraus eine kostbare Galerie von Bildern, die, während er am Fenster stand, an seiner Phantasie vorüberzogen.


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