Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 15. April.

Der April, der einst mensis novarum hieß, ist der wahre Monat des Humors. Regen und Sonnenschein, Lachen und Weinen trägt er in einem Sack; und Regenschauer und Sonnenblicke, Gelächter und Tränen brachte er auch diesmal mit, und manch einer bekam sein Teil davon. Ich liebe diesen janusköpfigen Monat, welcher mit dem einen Gesichte grau und mürrisch in den endenden Winter zurückschaut, mit dem andern jugendlich fröhlich dem nahen Frühling entgegenlächelt. Wie ein Gedicht Jean Pauls greift er hinein in seine Schätze und schlingt ineinander Reif und keimendes Grün, verirrte Schneeflocken und kleine Marienblümchen, Regentropfen und Veilchenknospen, flackerndes Ofenfeuer und Schneeglöckchen, Aschermittwochsklagen und Auferstehungsglocken. Ich liebe den April, den sie den Veränderlichen, den Unbeständigen nennen und den sie mit »Herrengunst und Frauenlieb« in einen so böswilligen Reim gebracht haben. –

Ich wurde diesen Morgen schon ziemlich früh durch das Geräusch des Regens, der an meine Fenster schlug, erweckt, blieb aber noch eine geraume Zeit liegen und träumte zwischen Schlaf und Wachen in diese monotone Musik hinein. Das benutzte ein schadenfroher Dämon des Trübsinns und des Ärgernisses, um mich in ein Netz trauriger, regenfarbiger Gedanken einzuspinnen, welches mir Welt und Leben in einem so jämmerlichen Lichte vorspiegelte und so drückend wurde, daß ich mich zuletzt nur durch einen herzhaften Sprung aus dem Bette daraus erretten konnte. – Aprilwetter! Die Hosen zog ich – wie weiland Freund Yorick – bereits wieder als ein Philosoph an, und der erste Sonnenblick, der pfeilschnell über die Fenster der gegenüberliegenden Häuser und die Nase des mir zuwinkenden Strobels glitt, vertrieb alle die Nebel, welche auf meiner Seele gelastet hatten. Frischen Mutes konnte ich mich wieder an meine Vanitas setzen, und als ich gar in einem der schweinsledernen, verstaubten Tröster, die ich gestern von der Königlichen Bibliothek mitgebracht hatte, eine alte vertrocknete Blume aus einem vergangenen Frühling fand, konnte ich schon wieder die seltsamsten Mutmaßungen über die Art und Weise, wie das tote Frühlingskind zwischen diese Blätter kam, anstellen. Hatte sie vielleicht an einem lang vergangenen Feiertage ein uralter, längst vermoderter Kollege mitgebracht von einem lustigen Feldwege, oder hatte sie vielleicht eins seiner Kinder spielend in dem Folianten des gelehrten Vaters gepreßt? Hatte sie etwa ein Student von der Geliebten erhalten und hier aufbewahrt und vergessen? Welche Vermutungen! Hübsch und anmutig, und um so hübscher und anmutiger, als sie nicht unwahrscheinlich sind.

O, versteht es nur, Blumen zwischen die öden Blätter des Lebens zu legen; fürchtet euch nicht, kindisch zu heißen bei zu klugen Köpfen; ihr werdet keine Reue empfinden, wenn ihr zurückblättert und auf die vergilbten Angedenken trefft!

Sei mir gegrüßt, wechselnder April, du verzogenes Kind der alten Mutter Zeit und – –

»Beschütze deinen Sohn Ulrich Georg Strobel! – Guten Morgen, Meister Wachholder!« sagte eine Stimme hinter mir.

Es war der Karikaturenzeichner, der, den grauen Filz auf dem Kopf, die Reisetasche über der Schulter, den Eichenstock in der Hand, hinter mir stand.

»Ach Gott, nun ist meine Zeit vorbei!« fuhr er lachend fort. »Ich komme, Ihnen Lebewohl zu sagen, alter Herr.«

»Was, Sie wollen fort? Was fällt Ihnen ein?«

»Kann Deutschland nit finden,
Rutsch allweil drauf 'rum!«

sang der Zeichner und zeigte auf eine lustige blaue Stelle zwischen den ziehenden Wolken. »Es ist nicht anders; haben Sie einen Gruß an die freie, weite Welt zu bestellen, heraus damit! Oder noch besser: kommen Sie – dort steht Ihr Regenschirm – begleiten Sie mich! Hören Sie, wie lustig der Spatz da ins Fenster pfeift!«

Was sollte ich machen; ich schlug meinen Folianten zu, der tolle Vagabond bot mir seinen Arm, und wir traten hinaus in die Gasse.

»Leben Sie wohl, Mama; viel Glück, mein Fräulein!« rief der Zeichner seiner Hausgenossenschaft zu, die ganz aufgeregt in der Tür stand. »Gott grüß Euch, Freund Marquart; lebt wohl, Mutter Karsten; lebt wohl, Meister und Meisterin; lebt wohl, lebt wohl!« rief er nach rechts und links hinüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick hinauf nach seiner verlassenen Wohnung, wo die Fenster offenstanden und eine zerrissene Gardine lustig im Frühlingswinde flatterte, und brummte: »Zum Teufel, du Nest!«

»Und wo wollen Sie nun hin?« fragte ich meinen wunderlichen Begleiter.

Der Zeichner lachte. »Was meinen Sie«, sagte er, »wenn ich mir das Völkergewühl im Orient ein wenig ansähe, Kostüme zeichnete und über das Bemühen lachte, einen neu eintretenden Faktor der Menschheitsentwicklung durch Lancasterkanonen und Kriegsschiffe aufhalten zu wollen?«

»Was?!« rief ich mit offnem Munde.

»Wem gilt das ›Was?‹« lachte Strobel. »Meinem Vorhaben oder meiner Meinung?«

»Sie glauben« ...

»Ich glaube, daß die Erde jung ist, alter Freund! Wir brauchen frisches Blut und wollen nicht meinen, daß, weil man uns nur Geschichte der Vergangenheit lehrt, es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar zu gern in alles ein: in unsern Rock, in unsern Körper, in unsere Familie, in unser Volk; wir freuen uns, wenn ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt erblickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock zerreißen oder ein Krähenauge bekommen; wir betrüben uns, wenn unser Vater, unsere Mutter stirbt; aber wir halten das alles für natürlich – bloß weil wir es leichter übersehen können. Soll nun auf einmal in dem Krähenaugenkriegen, Geborenwerden und Sterben der großen Völkerfamilie der Erde ein Stillstand eintreten, ein deus ex machina mit Manschetten in das ewige Werden fahren und sagen: Stop! Halt da! Entwickelt euch in euch selbst und – entschlaft an Euthanasie? Bah!«

Der Redner blies eine gewaltige Rauchwolke aus seiner Zigarre und fuhr fort, während ich den Kopf bedachtsam schüttelte:

»Es hat den Griechen nichts geholfen, die besten Dichter, Bildhauer und Maler zu sein, die geistreichsten philosophischen Systeme aufstellen zu können: die eisernen Männer Roms klopften an, stellten die griechische Bildung sub hasta, spielten Würfel auf den Gemälden, fabrizierten korinthisches Erz aus den Metallstatuen, und – die Weltgeschichte ging einen Schritt vorwärts. Es hat den Römern nichts geholfen, die größten Kriegs- und Verwaltungskünstler zu sein – Zündnadelgewehre und Lancasterkanonen sind Spielzeug im Kampf gegen die eine Macht im Weltall, welche die Gestirne treibt und die Wandervögel und welche die Völker bewegt zur rechten Zeit. Die Barbaren kümmerten sich nicht um Kommandowörter; sie stürmten die Tore Roms, und – die Weltgeschichte ging einen Schritt weiter!«

Ich schüttelte wieder das Haupt und brummte: »Immer zertrümmern, zertrümmern!«

»Meine Mutter starb, indem sie mich gebar!« sagte der Zeichner grimmig und stand still. Wir hatten den Ausgang der Sperlingsgasse erreicht; ein kleiner Handwagen, mit Kisten und Kasten beladen, versperrte uns den Weg. »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, wo ich in der Tat hin will, nicht, wohin ich gehen könnte«, sagte Strobel. »Kommen Sie!«

Verwundert folgte ich dem in eine dunkle Kellerwohnung Hinabsteigenden.

So ist das menschliche Leben. Lange, lange Jahre hatte ich in dieser Gasse gewohnt, täglich fast war ich vor diesem Hause, vor diesen trüben Fenstern vorbeigegangen, und heute, am letzten Tage, den die arme hier wohnende Familie dahinter zubringt, steige ich zum ersten Male die feuchten Stufen hinab zu ihr. Der Zeichner stellte mich dem Hausherrn vor, dem Schuhmacher Burger, einem Manne, welchem eine ganze Passionsgeschichte vom Gesichte abzulesen war. Heute abend führt ihn und die Seinigen die Eisenbahn der Seestadt zu, von wo sie ein Schiff nach einer neuen Heimat, nach dem jungen Amerika bringen soll; und der Zeichner – will die Familie begleiten nach Hamburg.

Die wenigen des Mitnehmens werten Habseligkeiten der ärmlichen Wohnung waren schon zusammengepackt; die bleichen, traurigen Gesichter der Eltern, das teilnahmlose der alten Großmutter, die auch heute noch am gewohnten Platz hinter dem Ofen spann, die Kinder, welche verwundert in den Winkeln kauerten, alles machte einen tiefen wehmütigen Eindruck auf mich.

Es ist nicht mehr die alte germanische Wander- und Abenteuerlust, welche das Volk forttreibt von Haus und Hof, aus den Städten und vom Lande, die den Köhler aus seinem Walde, den Bergmann aus seinem dunkeln Schacht reißt, die den Hirten herabzieht von seinen Alpenweiden und sie alle fortwirbelt, dem fernen Westen zu: Not, Elend und Druck sind's, welche jetzt das Volk geißeln, daß es mit blutendem Herzen die Heimat verläßt. Mit blutendem Herzen; denn trotz der Stammzerrissenheit, trotz aller Biegsamkeit des Nationalcharakters, der so leicht sich fremden Eigentümlichkeiten anschmiegt und unterwirft – worin übrigens in diesem Augenblick vielleicht allein die welthistorische Bedeutung Deutschlands liegt –, trotz alledem hängt kein Volk so an seinem Vaterland als das deutsche.

In englischen Schriften läuft Deutschland öfters als »the fatherland« kat' exochên. Das wird zwar mit einem gewissen »sneer« gesagt, aber es ist eine Ehre für unsere Nation, und wir können stolz darauf sein.

O ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands, sagt und schreibt nichts, euer Volk zu entmutigen, wie es leider von euch, die ihr die stolzesten Namen in Poesie und Wissenschaften führt, so oft geschieht! Scheltet, spottet, geißelt, aber hütet euch, jene schwächliche Resignation, von welcher der nächste Schritt zur Gleichgültigkeit führt, zu befördern oder gar sie hervorrufen zu wollen.

Als die Juden an den Wassern zu Babel saßen und ihre Harfen an die Weiden hingen, weinten sie, aber sie riefen:

»Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!«

Die Worte waren kräftig genug, selbst die zuckenden Glieder eines Volkes durch die Jahrtausende zu erhalten.

Ihr habt die Gewohnheit, ihr Prediger und Vormünder des Volks, den Wegziehenden einen Bibelvers in das Gesangbuch des Heimatdorfs zu schreiben; schreibt:

»Vergesse ich dein, Deutschland, großes Vaterland:
so werde meiner Rechten vergessen!«

Der Spruch in aller Herzen, und – das Vaterland ist ewig!

Das letzte Hausgerät war zusammengebunden und auf den kleinen Wagen in der Gasse gelegt. Traurig schauten sich die armen Leute in ihrer verödeten Wohnung, die alle Leiden und Freuden der Familie gesehen hatte, um.

»'s ist 'n hart Ding, 's ist 'n hart Ding!« sagte seufzend der Meister, und Strobel klopfte ihn leise auf die Schulter.

»Es ist Zeit, Mann! Faßt Euch ein Herz, geht Eurer Frau mit einem guten Beispiel voran.«

»Der Totengräber hat versprochen, er will unseres Fritzen Hügel draußen nicht verrotten lassen!« schluchzte die Frau.

Burger wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, erhob sich aus seinem Hinbrüten und ging, seine alte Mutter hinaufzuführen auf die Gasse; seine Frau weinte laut, brach einen Zweig von der verkümmerten Myrte im Fenster, legte ihn in ihr Gebetbuch und nahm ihr jüngstes Kind auf den Arm, während sich die andern an ihre Schürze und ihren Rock hingen. Die Familie stieg die enge, schwarze Treppe, welche auf die Straße führte, hinauf – sie hatte ihren langen Weg begonnen!

Draußen wechselte Regen mit Sonnenschein, wie der April es mit sich brachte. Der Meister zog seinen Wagen voraus, wir andern folgten. Einen letzten Blick werft zurück in die enge, dunkle, arme Sperlingsgasse – ihr werdet wohl oft genug an sie denken – und dann hinaus in die weite Welt, ihr Wanderer!

Bis an das Tor brachte ich den Zeichner und seine Schützlinge. Ein letzter Händedruck, ein letzter Gruß! Wer weiß, ob wir nicht noch einmal uns wieder sehen, Strobel! Lebt wohl, lebt wohl! – Und wieder einmal konnte ich einsam und allein zurückkehren, einsam und allein dies Blatt der Chronik der Sperlingsgasse aufzuzeichnen.


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