Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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3¾ Uhr. Die meisten Dichterwerke der neusten Zeit gleichen dem Bilde jenes italischen Meisters, der seine Geliebte malte als Herodias und sich in dem Kopfe des Täufers auf der Schüssel porträtierte. Da pinseln uns die Herren ein Weibsbild, Tendenz genannt, hin, welches anzubeten sie heucheln und welches auf dem Präsentierteller hochachtungsvoll und ergebenst uns das verzerrte Haupt des werten Schriftstellers selbst überreicht. Die Nützlichkeit solchen Treibens läßt sich nicht abstreiten, also – nur immer zu! – Wie komm ich darauf? –

4 Uhr. – Es ist merkwürdig; seit ich dieses Blatt bemale, ist dieselbe Traumseligkeit über mich gekommen, die dieser Chronik ein so zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben hat. Wachholder hat recht, es ist ein eigentümlich behagliches Gefühl, seinen Gedankenspielen sich so ganz und gar hinzugeben, ohne sich Geist herausquälend im Kreise zu drehn, wie ein hartleibiger Pudel.

Wo war ich eben, als das Kindergeschrei drunten auf der Straße mich aufweckte? Ich will versuchen, es der Chronik einzuverleiben, worin zugleich für meinen ehrenwerten Freund Wachholder die größte Genugtuung für meine vorigen Reden liegen wird.

Es war an einem Sonntagmorgen im Juli, als ich auf braunschweigschem Grund und Boden am Uferrand der Weser lag und hinüberblickte nach dem jenseitigen Westfalen. Früh vor Sonnenaufgang war ich, über Berg und Tal streifend, mit dem ersten Strahl im Osten in ein gleichgültiges Dorf hinabgestiegen. Ich hatte Kaffee getrunken unter der Linde vor dem Dorfkrug, hatte behaglich das Treiben des Sonntagsmorgens im Dorf belauscht und andächtig der kleinen Glocke zugehört, die in dem spitzen, schiefergedeckten Kirchturm läutete. Manchem hübschen, drallen niedersächsischen Mädchen, das sich über den sonderbaren, plötzlich ins Dorf geschneiten Fremdling wunderte, hatte ich lächelnd zugenickt; ich hatte Bekanntschaft mit der gesamten Kinder-, Hühner-, Gänse- und Entenwelt des »Krugs« gemacht, dem weißen Spitz den Pelz gestreichelt und manche Frage über »Woher und Wohin« beantwortet. Mit meinem Wirt (der zugleich Ortsvorsteher war) hatte ich das Bienenhaus besucht, darauf die Gemeinde, den Kantor und Pastor in die Kirche gehen sehen und hatte mich zuletzt allein im Hofe unter der Linde gefunden, nur umgeben von der quackenden, piepsenden geflügelten Schar des Federviehs. Aus diesem dolce far niente hatte mich plötzlich das Schreien eines Kindes aufgeschreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir und bewog mich aufzustehen und in das niedere, vom Weinstock umsponnene Fenster zu sehen. Eine alte Frau war eben beschäftigt, einen widerspenstigen, heulenden, strampelnden Bengel von vier Jahren mit Wasser, Seife und einem wollenen Lappen tüchtig zu waschen, welcher Prozedur drei bis vier andere kleine »Blaen« angstvoll zusahen, wartend, bis die Reihe an sie kommen würde.

»Nun, Mutter«, sagte ich, mich auf die Fensterbank lehnend; »und Ihr seid nicht in der Kirche?«

Die Alte sah auf und sagte lachend: »Et geit nich immer; ek mott düsse lüttgen Panzen waschen und antrecken – Herre – Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!«

Ich nahm den Hut ab und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Welch eine wunderbar schöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine Schwalbe beschrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem Neste unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte sich, ihre Beute im Schnabel, an die Tür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitscher der federlosen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr sagen.

»Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!« murmelte ich leise, zu meinem Tisch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf: Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch, und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.

Träumend schritt ich dann durch die Tür des Dorfkirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offnen Kirchtor (auf dem Lande braucht der Protestantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der Esche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der junge Pastor eine Gellertsche Fabel in das Gleichnis aus dem fernen Orient schlang, während die Schwalben in dem heiligen Gebäude hin und her schossen und ein verirrter Schmetterling seinen Weg durch die geöffnete Kirchtür eben wieder zurückfand.

»Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!« rief ich, über die niedere Mauer in das freie Feld springend und durch die gelben Kornwogen mit ihrem Kranz von Flatterrosen am Rande der Weser zuwandernd. Da hatte ich mich ins Gras unter einen Weidenbusch geworfen und träumte in das Murren des alten Stromes neben mir hinein, während drüben im katholischen Lande eine Prozession singend den Kapellenberg zu dem Marienbild hinaufzog und hinter mir die protestantischen Orgeltöne leise verklangen. Welch ein wundervoller, blauer, lächelnder Himmel über beiden Ufern, über beiden Religionen, welch eine wogende Gefühlswelt im Busen, anknüpfend an die fünf Worte der alten Bäuerin! Ich war damals jünger als jetzt und legte das Gesicht in die Hände:

»Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles« – – –

Ein näher kommender Gesang weckte mich plötzlich; ich blickte auf. Brausend und schnaufend, die gelben Fluten gewaltig peitschend, kam der »Hermann« die Weser herunter. Der Kapitän stand auf dem Räderkasten und griff grüßend an den Hut, als das Schiff vorbeischoß. Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: »Was ist des Deutschen Vaterland«, und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schütteln; sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter! – Ich verließ meinen Ruheplatz und ging durch den Buchenwald den nächsten Berg hinauf bis zu einer freien Stelle, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte ins schöne Land des Sachsengaus. Welch eine Scholle deutscher Erde! Dort jene blauen Höhenzüge – der Teutoburger Wald! Dort jene schlanken Türme – die große germanische Kulturstätte, das Kloster Corvey! Dort jene Berggruppe – der Ith, cui Idistaviso nomen, sagt Tacitus. Ich bevölkerte die Gegend mit den Gestalten der Vorzeit. Ich sah die achtzehnte, neunzehnte und zwanzigste Legion unter dem Prokonsul Varus gegen die Weser ziehen und lauschte ihrem fern verhallenden Todesschrei. Ich sah den Germanicus denselben Weg kommen und lauschte dem Schlachtlärm am Idistavisus, bis der große Arminius, der »turbator Germaniae«, durch die Legionen und den Urwald sein weißes Roß spornte, das Gesicht unkenntlich durch das eigene herabrieselnde Blut, geschlagen, todmüde. Ich sah, wie er die Cheruska von neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die »urbs«, wie das Volk zu den Waffen griff: Pugnam volunt, arma rapiunt plebes, primores, juventus, senes!

Aber wo ist denn die Puppe? kam mir damit plötzlich in den Sinn. Ich schleuderte den Tacitus ins Gras, stellte mich auf die Zehen, reckte den Hals aus, so lang als möglich, und schaute hinüber nach dem Teutoburger Walde. Da eine vorliegende »Bergdruffel« (wie Joach. Heinr. Campe sagt) mir einen Teil der fernen, blauen Höhen verbarg, gab ich mir sogar die Mühe, in eine hohe Buche hinaufzusteigen, wo ich auch das Fernglas zu Hülfe nahm. Vergeblich – nirgends eine Spur vom Hermannsbild! Alles, was ich zu sehen bekam, war der große Christoffel bei Kassel, und mit einem leisen Fluch kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen Auslug. Hatte ich aber eben einen leisen Segenswunsch von mir gegeben, so ließ ich jetzt einen um so lautern los. Ich sah schön aus! »Das hat man davon«, brummte ich, während ich mir das Blut aus dem aufgeritzten Daumen sog, »das hat man davon, wenn man sich nach deutscher Größe umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt man, und zu sehen kriegt man nichts als – den großen Christoffel.« Ärgerlich schob ich mein Fernglas zusammen, steckte den Tacitus zurück in die Tasche und ging hinkend den Berg hinunter wieder der Weser zu. Ärgerlich warf ich mich, am Rande des Flusses angekommen, abermals ins Gras. Was hatte sich alles zwischen die gefühlsselige Stimmung von vorhin und den jetzigen Augenblick gedrängt! Der Himmel war noch ebenso blau, die Berge noch ebenso grün, der Papierstreifen von vorhin steckte noch neben den Waldblumen an meinem Hute, und doch – wie verändert blickte mich das alles an! Hätte das Dampfschiff mit seinen Auswandrern nicht später kommen können, da es doch sonst immer lange genug auf sich warten läßt?! Hätte ich Narr nicht unterlassen können, nach dem Hermannsbild auszuschauen? Wie ruhig könnte ich dann jetzt im Grase meinen Mittagsschlaf halten, ohne mich über den großen Christoffel, den so viele brave Katten mit ihrem Blute bezahlt haben, zu ärgern! – Ich versuchte mancherlei, um meinen Gleichmut wiederzugewinnen; ich kitzelte mich mit einem Grashalm am Nasenwinkel, ich porträtierte einen dicken, gemütlichen Frosch, der sich unter einem Klettenbusch sonnte, – es half alles nichts! – Der Dämon Mißmut ließ mich nicht los, wütend sprang ich auf, schrie: Hole der Henker die Wirtschaft! und marschierte brummend auf Rühle zu – – – Wetter, was ist das für ein Lärm in der Sperlingsgasse?! Heda – da ist ein Hundefuhrwerk in einen Viktualienkeller hinabgepoltert, und ich – ich, der Karikaturenzeichner Ulrich Strobel, sitze hier und schmiere Unsinn zusammen! Hol der Henker auch die Chronik der Sperlingsgasse! – Adieu, Wachholder!


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