Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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»Gut. Von nun ab bekümmerte sich mein alter Seliger um nichts mehr draußen, sondern ging wieder zu seinem Sägebock und sägte weiter, bis die Einquartierung kam. Herr meines Lebens, da hättet ihr den Mann sehen sollen! Das ganze Haus kam in Aufruhr; das beste, was Küch und Keller hielt, ward aufgetischt, und je mehr die kleinen gelben Kerle schwadronierten und sakermentierten, desto fröhlicher wurde mein Alter.

›Das ist die rechte Sorte!‹ rief er immer, sich die Hände reibend. ›Solche mußten's sein! Wenn nur genug von ihnen da sind!‹

Französisch hatt' er etwas von der Wanderschaft mitgebracht, und so waren sie bald die besten Freunde miteinander und auf du und du, daß die Nachbarn ordentlich die Nasen rümpften. Die aber gingen zu allen Depentatschonen und illuminierten und bekränzten ihre Häuser und so – das tat aber mein Gottfried nicht, und wenn er einen vom Rat der Stadt sah, zog er jedesmal richtig die Zipfelmütze herunter über die Ohren. Gut, da war ein Franzos zwischen den andern, der war von daher, wo sie halb deutsch, halb französisch sprechen, den konnt ich auch verstehen, und es war so gut, als wenn ich französisch gekonnt hätte. Was geschieht? Eines Abends sitzen sie alle zusammen, und mein Alter mitten drinnen, und kauderwelschten, daß einem Hören und Sehen verging, und saß ich im Winkel und strickte, und die Jungen spielten im Winkel. Spricht mein Alter auf einmal zu dem Deutschfranzos: ›Nun sagt mal, Kamerad, wie lange denkt ihr denn eigentlich noch in Deutschland zu bleiben?‹

Der Deutschfranzos stieß mit den andern den Kopf zusammen, und sie schnatterten was in ihrer Sprache. Dann lachten sie aus vollem Halse.

›Immer bleiben wir da!‹ sagt der Deutschfranzos. ›Wir sein einmal da; wir gehen nit raus wieder!‹

›Woui!‹ schrieen die andern und hielten sich die Bäuche. ›Nit raus, nit raus!‹

›Ne‹, sagt mein Alter, ›immer nicht. Ihr seid zwar da, und unsereins kann unserm Herrgott nur dankbar sein, daß er euch geschickt hat, aber immer –‹

›Nit raus, nit raus!‹ schrieen die Franzosen.

›Lasset euch handeln!‹ sagt mein Alter, ›ich biete zwölf Jahr – höchstens!‹

›Nit raus, nit raus!‹ kauderwelschten die wieder.

›Willem! Ludwig! Kommt mal her!‹ rief mein Alter jetzt die Jungen, die sogleich angesprungen kamen und sich an seine Kniee stellten.

›Richt euch!‹ rief mein Alter. ›Augen rechts! Seht mal, Jungens, die da – das sind Franzosen, die eigentlich hier nicht in unsere Stube gehören. Das kleine Annchen kann gar nicht schlafen vor ihrem Spektakel – und doch haben sie Lust, immer dazubleiben! Was meint ihr, Jungens – wenn ihr stark genug wäret?‹

Kuckten meine Jungen gewaltig wunderbar aus den Augen und die Franzmänner an und dann sich und dann meinen Alten!

›Das sich finden – ich groß werden – ich schon Pustebacks Theodor zwinge‹, sagte Willem, mein Kleinster. Ludwig, mein Ältester, sagte gar nichts, aber auf einmal rann ihm eine dicke Träne über die Backe, und sein Vater klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

›Warte nur, mein Junge, du kommst zuerst.‹

Die Franzosen hatten ihren Heidenjubel; und besonders einer – sie nannten ihn Piär oder so – wußte sich gar nicht zu helfen vor Lachen. Mein Alter aber war sehr ernst geworden und sprach den ganzen Abend kein Wort mehr. Die andere Woche zogen die Franzmänner ab und lachten noch beim Abschied, als sie uns allen die Hand drückten und ordentlich sich bedankten für gute Bewirtung:

›Nit raus, nit raus!‹

›Wird sich finden‹, sagte mein Alter. ›Wird sich finden!‹ schrieen meine beiden Jungen.

Gut, nun kamen lange Jahre und immer andere Franzosen.

›Bald ist's genug‹, brummte mein Gottfried. Und einmal zogen sie alle hinauf nach Norden, aber zurück kam keiner. Und dann fing's auf einmal an zu rumoren im Lande, und an den Ecken klebten ganz andere Zettel, die mein Alter immer las und wobei er mit dem Kopf nickte. Er war die Zeit nicht viel zu Haus.

Da kam er eines Tages zurück und rief den Ludwig aus der Werkstatt, und sie kamen beide in die Küche zu mir. ›Sieh, Mutter‹, sagte mein Gottfried, ›'s ist gut, daß dein Feuer brennt! Paß auf, Ludchen!‹ Damit zog mein Alter seine Zipfelmütze aus der Tasche und warf sie unter meinen Topf, daß sie verschwielte und das ganze Haus voll Qualm ward; dann ging er mit meinem Ludwig fort und kam allein und ganz still wieder.

Am andern Morgen zog ein Trupp schwarzer Reiter in die Stadt – auch durch das Wassertor. Einer kam zu Pferd hier in die Sperlingsgasse vor unser Haus und stieg ab – mir sank das Herz in die Kniee – es war mein Ludwig! –

›Adjes Mutter! Adjes, Vater!‹ rief er – ›behüt euch Gott, 's wird sich schon machen!‹ – und dann ritt er fort den andern nach, die schon durch das Grüne Tor zogen.

›Da geht's nach Frankreich, Alte!‹ rief mein Mann, während ich heulte und jammerte. Aber es war noch so weit nicht.

Wir hörten lange Zeit nichts, bis eines Tages alle Glocken in der Stadt läuteten und auch im ganzen Land, wie sie sagten. Es war eine große Schlacht gewesen, und unsere hatten gewonnen, und mein Ludwig war – tot!

›Der erste‹, sagte mein Alter.

Wieder ging ein Jahr hin, und einmal kam das Kanonenschießen so nahe, daß die Leute vor das Tor liefen, es zu hören; natürlich liefen mein Gottfried und ich mit. Da kamen bald aus der Gegend her, wo es so rollte und donnerte, Wagen mit Verwundeten, Freund und Feind durcheinander, und immer mehr und mehr. Die wurden alle in die Stadt gebracht.

›Herr, mein Heiland!‹ mußte ich auf einmal ausrufen, ›ist das nicht der Piär von damals, von Anno sechs?‹

Richtig, er war's. Mit abgeschossenem Bein lag er auf dem Stroh und wimmerte ganz jämmerlich. ›Den nehm ich mit‹, sagte mein Alter und bat ihn sich aus, und wir brachten ihn hier ins Haus – in Ihre Stube, Herr Wachholder. Da kurierten wir ihn. Als er besser wurde, hatte mein Mann oft seine Reden mit ihm. Einmal war der Franzos oben auf, einmal mein Alter. Da hieß es plötzlich, die Deutschen seien wieder geschlagen und der Napoleon abermals Obermeister. Mein Alter sah den Willem bedenklich an, als ginge er mit sich zu Rat; als aber in der Nacht die Sturmglocken auf allen Dörfern läuteten, wußte ich, was geschehen würde, und weinte die ganze Nacht, und am Morgen zog auch mein Willem fort mit den grünen Jägern zu Fuß, und Minchen Schmidt, die mit ihrer alten Mutter in Ihrer Stube drüben wohnte, Herr Strobel, weinte auch und winkte mit dem Taschentuch. Vorher aber führte ihn mein Alter noch an das Bett des Franzosen und sagte: ›Das ist der Zweite!‹ – Der Franzos schaute ganz kurios und bewildert drein und sagte gar nichts, sondern drehte sich nach der Wand.

Das Kanonenschießen kam nun nicht wieder so nah, und der Willem schrieb von großen Schlachten, wo viele tausend Menschen zu Tod kamen, aber er nicht, und die Briefe kamen immer ferner her, und auf einmal standen gar welsche Namen darauf. Die brachte mein Alter dem Franzos herauf, der nun schon ganz gut Deutsch konnte, und sagte lachend zu ihm: ›Nun, Gevatter! Nit raus? Nit raus?‹ Und der Franzos machte ein gar erbärmlich Gesicht und sagte, den Brief in der Hand: ›Das sein mein 'Eimatsort, da wohnen mein Vatter und mein Mutter.‹ Mein Alter aber saß am Bett und rechnete an den Fingern: ›Eins, zwei, vier – acht. Acht Jahr, Gevatter Franzos! Warum habt Ihr dunnemalen meine Zwölf nicht genommen?‹

Die Briefe von unseren Willem kamen nun immer seltener, und auf einmal blieben sie ganz aus, und eines Tages – kommt mein Alter nach Haus, setzet sich an den Tisch, legt den Kopf auf beide Arme und weint. – Ich dachte, der Himmel fiele über mich – – – der und weinen!

›Der andere!‹ stöhnte mein Alter in sich hinein, und ich fiel in Ohnmacht zu Boden.

Da vor der großen Franzosenstadt Paris muß ein Berg sein – ich kann den Namen nicht ordentlich aussprechen –, von wo man die Stadt ganz übersehen kann. Da schossen sie zum letztenmal aufeinander, und da ist auch dem Willem eine Kugel mitten durch die Brust gegangen, wie der Kamerad schrieb, und ist er da begraben mit vielen, vielen andern aus Deutschland. – Das ist meine Geschichte! Den Franzosen aber kurierten wir aus, und mein Alter gab ihm einen Zehrpfennig und brachte ihn an das Tor, wo der Weg nach Frankreich geht, den auch meine Jungen gezogen waren, sah ihn da abhumpeln und kam wieder nach Haus, murmelnd: ›Nit raus, nit raus!‹ – Gott hab ihn selig, den Mann, es war ein wunderlicher, dein Vater, Annchen.«

So erzählte die alte Margarete Karsten, und wir alle saßen um sie herum, als sie geendet hatte, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Der Meister hatte längst seine Zeitung weggelegt, und auch die Gesellen, die nach und nach eingetreten und gewöhnlich ziemlich fröhlich und laut waren, standen und saßen diesmal ganz still umher.

»Nun will ich noch was erzählen!« rief plötzlich die Alte, deren Augen durch die wachgewordenen Erinnerungen in einem seltsamen Glanz leuchteten. »Ich will was erzählen, was lange nachher geschah und doch mit dazu gehört! – Wenn die Fensterscheiben nicht so gefroren wären, könntet ihr den Turm der neuen Sophienkirche sehen, die gebaut wurde, nachdem die alte abgebrannt ist. In der alten war's, wo eine Tafel an der Wand hing, wo die Namen aller der drauf standen, welche in dem Franzosenkriege aus unserm Viertel gefallen waren und worunter auch meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes Albert Karsten. Die Tafel hatten wir unserm Kirchstuhl grade gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und dachten an unsre braven Jungen, und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich auch, wenn ich auch genug darüber geweint hatte und noch weinte. Aber es blieb nicht so bei meinem Gottfried. Es kam eine Zeit, da schlich er an der Tafel vorbei, ohne aufzukucken, und wenn wir an unserm Platze saßen und sein Blick fiel mal drauf hin, sah er schnell weg oder auf den Boden oder murmelte etwas, was ich nicht verstand.

Gut, eines Tages gegen Abend stand ein schreckbares Gewitter über der Stadt; es donnerte und blitzte unbändig, und auf einmal hieß es: in der Sophienkirche hat's eingeschlagen! – Richtig – da brannte sie lichterloh. Mein Alter, der sonst bei so was immer vorn dran war, rührte diesmal nicht Hand nicht Fuß, und es hätte auch nichts geholfen. Er hatte mich unterm Arm, und wir standen in der Menschenmenge und sahen zu. Auf einmal schwankt der Turm, der wie eine Fackel war, hin und her und stürzt dann herunter auf das Kirchendach mit einem Krach, daß Menschen und Pferde in die Kniee schossen und ich mit. Mein Alter aber blieb aufrecht stehen und kehrte sich um und brachte mich nach Hause. Als wir in unserer Stube waren, ging er den ganzen Abend auf und ab, bis er plötzlich vor mir stehenblieb und sagte:

›Mutter, gottlob, die Tafel ist verbrannt! Mutter, ich konnt sie nicht mehr ansehen! – Gute Nacht, Mutter!‹ – Ich verstand ihn gar nicht und fragte, was das bedeuten solle, aber er schüttelte nur mit dem Kopf und ging zu Bett. Und das will ich auch tun, mein Flachs ist alle! Gute Nacht, ihr Herrn, gute Nacht, Kinder! – Komm, Annechen!« – Damit erhob sich die alte Frau und ging, auf ihren Stock und den Arm ihrer Tochter gestützt, hinaus ihrer kleinen Kammer zu, um von ihrem alten Gottfried mit dem eisernen Herzen, um von den beiden erschossenen Freiheitskämpfern weiterzuträumen. Der Karikaturenzeichner machte heute abend keinen Witz mehr, der Meister sog an der erloschenen Pfeife. Es war, als wage keiner sich von seinem Platz zu rühren; es war, als müsse nun gleich die Tür sich öffnen und der alte gewaltige Mann hereintreten mit dem schwarzen Reiter und dem grünen Jäger an seiner Seite, von denen der eine an der Oder und der andere dicht vor Paris begraben liegt auf dem Montmartre.

»Ich weiß, warum der Meister Karsten die Tafel nicht mehr ansehen konnte!« rief plötzlich eine klangvolle Mannsstimme, daß alle fast erschrocken aufsahen. Es war Rudolf, der Altgeselle, der sich in seinem Winkel hoch aufgerichtet hatte.

»Ich auch!« rief Bernhard, der zweite Gesell, seinem Gefährten die Hand auf die Schulter legend.

»Ich auch!« rief Strobel aufspringend. »Wieviel Wissende noch?«

»Ich auch!« rief der Meister. »Ich auch!« sagte ich. »In dem Wissen liegt die Zukunft – Gott segne das Vaterland!« Und dann – – – kam die Meisterin mit den Kartoffeln.


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