Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 10. Februar.

Und wieder überschreibe ich ein Blatt der Chronik:

Elise.

Wir haben gejubelt und gelacht, auch wohl geweint über kleine Schmerzen und verunglückte Freuden! – Wie die Jahre kommen und gehen!

Der Efeu hat nun eine ordentliche, schattige, grüne Laube gebildet; rote und blaue Wachsbilder hat eine kleine schmückende Hand zwischen das Blätterwerk gehängt; wieder flattert ein zahmer Kanarienvogel in der Stube hin und her, von meinen Büchern und Schreibereien auf eine hübsche runde Schulter im Fenster oder auf einen niedlichen Finger, der ihm winkend hingehalten wird. – Elise ist nun dreizehn Jahr alt auf den Blättern dieser Chronik. Oft, wenn ein lustiger Sonnenstrahl über das Blätterwerk schießt, zwitschert wohl Flämmchen – so heißt der neue kleine Freund – fröhlich auf, hüpft aus seinem Bauer, dreht das Köpfchen mit den funkelnden kohlschwarzen Äuglein einigemal hin und her und flattert dann zum offenen Fenster hinaus. Einen Augenblick glänzt es, hin und her schießend, wie ein Goldpünktchen im Sonnenschein, dann flattert es nach der jenseitigen Häuserreihe und verschwindet in einem Fenster des mittleren Stockwerkes in Nr. zwölf. Von dort ward es herübergebracht, auch dort hat es ein kleines Messingbauer.

Neue Gesichter sind aufgetaucht, neue Fäden schlingen sich wundersam in unser Leben und damit heute an diesem regnichten, windigen Februartage auch in diese Blätter.

Was tot war, wird lebendig; was Fluch war, wird Segen; die Sünde der Väter wird nicht heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied!

Eine helle, frische Stimme erschallt unten im Hause; ein leichter Schritt kommt die Treppe herauf – Elise horcht. Nach einigen Minuten erschallt plötzlich draußen ein Gepolter, Marthas Stimme läßt sich hören, klagend und ärgerlich. Da ist er – der Taugenichts der Gasse!

Die Tür wird halb aufgerissen, und herein schaut ein lachendes, kerngesundes, mit unzähligen Sommerflecken bedecktes Knabengesicht.

»Nun, Gustav, was gibt's wieder?«

»O gar nichts!« sagt das mauvais sujet, den Mund von einem Ohr bis zum andern ziehend, während Martha jetzt kläglich draußen nach Elisen ruft. »Was mag er nur angefangen haben?« sagt diese aufspringend und hinausgehend. Ein helles, herzliches Gelächter, in welches ich sie draußen ausbrechen höre, zwingt auch mich, von meinen Büchern aufzustehen, während Gustav sich ganz ehrbar in einen Band von Beckers Weltgeschichte vertieft zu haben scheint. Ich nehme die möglich ernsteste Miene an und schreite hinaus. Welch ein Anblick erwartet mich!

Die gute Alte hat höchst wahrscheinlich ihre Mittagsruhe gehalten und ist, das Strickzeug im Schoß, eingeschlafen. Diesen günstigen Augenblick zu benutzen, hat der Taugenichts, der vielleicht mit sehr guten Vorsätzen die Treppe heraufkam, doch nicht unterlassen können.

Festgebunden sitzt die Unglückliche in ihrem Stuhle; Handtücher, Bindfaden, das Garn ihres Strickzeuges, kurz alles nur mögliche Bindematerial ist benutzt, sie unvermögend zu machen, sich zu rühren. Vor ihr auf einem noch dazu sehr zierlich gedeckten Tischchen steht ein großer Napf Milch, der höchst wahrscheinlich zu den wichtigsten kulinarischen Zwecken bestimmt war, und um ihn im Kreis sitzt schlürfend und schmatzend – die ganze Katzenwelt des Hauses, von Zeit zu Zeit einen höhnenden Blick nach dem Lehnstuhl werfend, wo die gefesselte Küchentyrannin strampelt und droht in wahrhaft tantalischen Qualen.

»Lieschen – so jag sie doch weg – (Elise hat vor Lachen die Kraft gar nicht dazu und sitzt atemlos auf einem Schemel) – o der Schlingel – aber, Herr Wachholder, jagen Sie sie doch weg – es bleibt ja nichts übrig – o meine schöne Milch – der Bösewicht!« Ja, der Bösewicht – wo war er, als diese Tragikomödie zu Ende gekommen war und man sich nach dem Urheber umsah? Der Band von Beckers Weltgeschichte lag freilich noch aufgeschlagen da, aber von Gustav – nirgends eine Spur!

Wer ist dieser Gustav?

Der Enkel eines Mannes, dessen Name schon einmal gar unheimlich in diese Blätter hineingeklungen ist, der Enkel des Grafen Friedrich Seeburg.

Es war im Jahr 1842, als in die Wohnung drüben in Nr. zwölf, in deren Fenster später der Kanarienvogel so oft hinüberflatterte, eine schöne, schwarz gekleidete, bleiche Frau zog, welche sich Helene Berg nannte, die Witwe eines vor kurzem verstorbenen Mediziners. Sie war es, die schon einmal durch unser Leben und durch die Blätter dieser Chronik geglitten ist mit jenem Sonnabend im Sommer 1841, als wir den toten kleinen Vogel auf dem Johanniskirchhofe begruben zu den Füßen der Gräber von Franz und Marie. Sie küßte damals die kleine Elise, aber wir kannten einander nicht. – »Georg Berg« stand auf dem Grabstein, an welchem sie gekniet und geweint hatte, und in der ärmlichen Wohnung drüben in Nr. zwölf, in der engen, dunkeln Sperlingsgasse verklingt die letzte Seite der unheilvollen, wilden Geschichte, die einst der sterbende Jäger dem Maler Franz Ralff erzählte. – Ist das Lied vorbei? Eine junge, fröhlichere Weise nahm den letzten Ton auf, und »Gustav und Elise Berg« wird die neue Melodie lauten!

Wie die Letzte aus dem stolzen Hause der Grafen Seeburg das Zusammenhängen ihres Schicksals mit dem kleinen Mädchen an meiner Seite erfuhr? – Ihre Geschichte?

Ich fürchte mich fast, die Decke, die über soviel kaum vergessenem und begrabenem Unheil liegt, wieder aufzuritzen.

»Sieh, welch ein schöner Ring!« sagte einmal Elise, der Frau Helene, die bei uns saß, jenen Reif zeigend, den vor langen, langen Jahren der alte Burchhard am Hungerteiche im Ulfeldener Walde der toten Luise aus der erstarrten Hand gezogen hatte, der so lange Jahre unter jenem bekreuzten Stein gelegen hatte und der das Wappen des Grafen von Seeburg trug! – Ich habe nicht nötig aufzuschreiben, was folgte! – – – Wir trennten uns damals so bald nicht. Den ganzen Abend ließ die weinende Helene die kleine Elise nicht aus den Armen, und Gustav – Gustav, der Taugenichts der Gasse, begrüßte jubelnd seine Kusine auf seine Weise.

Nachdem er lange unstät sich umhergetrieben hatte, heiratete in Italien der Graf Friedrich Seeburg eine schöne, vornehme, aber arme Italienerin; sie ward die Mutter Helenens und starb, sie gebärend, im zweiten Jahr ihrer Ehe. Die Griechen dachten sich die Kluft zwischen Gott und dem Menschtum ausgefüllt durch ein Vermittelndes, das Dämonische: da schwebten, »damit das Ganze in sich selbst verbunden sei«, Geister »viel und vielerlei« auf und nieder, strafende und lohnende Boten der Gottheit, und niemand entging seinen Taten.

Diese Geister verfolgten auch den Grafen: Reue, Ruhelosigkeit, Lebensüberdruß hießen sie, und auf jede Lebensfreude legten sie ihre errötende Hand. Wieder zog der Graf über die Alpen nach Deutschland. Das Schloß Seeburg war verkauft – er kam nach Wien, wo er menschenscheu und finster in einem einsamen kleinen Hause wohnte. Oft hörte ihn seine Tochter auf und ab gehen in der Nacht; sie hatte keine Bekanntinnen, keine Freundin; eine alte Dienerin ihrer Mutter war ihr ganzer Umgang. So verlebte sie ihre ersten Jugendjahre fast ganz sich selbst überlassen, während ihr Vater immer finsterer und finsterer ward. Er verbot ihr zu singen, zu spielen; sie seufzte und fügte sich. Da wurde eines Morgens der alte Graf Seeburg tot im Bett gefunden; kein Mensch war bei seinen letzten Augenblicken zugegen gewesen, er war gestorben, wie ihn Helene nur gekannt hatte, – einsam und allein. Einsam und verlassen war aber auch sie jetzt, ein junges Mädchen in einer großen, fremden Stadt, die sie nicht kannte, wo niemand sie kannte. Es fand sich, daß die Hinterlassenschaft ihres Vaters kaum hinreichte, die während seines Aufenthalts in Wien gemachten Schulden zu bezahlen.

Unter den wenigen, die von Zeit zu Zeit das Haus ihres Vaters betreten hatten, war ein Doktor Berg, ein nicht mehr ganz junger Mann, und dieser war der einzige, der, an das Totenbett des alten Grafen gerufen, nachdem er ihm die Augen zugedrückt hatte, sich der jungen Waise annahm. Er brachte ihre Vermögensverhältnisse in Ordnung; er führte sie, die ebenfalls fast menschenscheu Gewordene, zu guten Menschen, zu seiner alten freundlichen Mutter. Er schien alles, was er tat, nur als seine Pflicht anzusehen, und er, der ihr anfangs gleichgültig war, gewann ihre Zuneigung mehr und mehr. Da bot er ihr seine Hand, und die Gräfin Helene Seeburg ward seine zufriedene, glückliche Gattin, bald noch glücklicher durch die Geburt eines Sohnes, der Gustav genannt wurde. Da zwangen Verhältnisse – auch seine Mutter war gestorben – den Doktor Berg, Wien zu verlassen; er zog hierher und bemühte sich, eine Praxis zu gewinnen. Eben schien es ihm zu gelingen, als eine heftige Seuche, die verheerend von Osten kam und über das ganze Land todbringend zog, auch ihn wegraffte; er ließ seine Frau und seinen Sohn fast unbemittelt zurück. Auf dem Johanniskirchhof, zwanzig Schritte von Franz und Marie Ralff, ward er begraben.

Das war es, was die Frau Helene Berg erzählte, während der Ring mit dem Wappen der Grafen Seeburg, die Schlange, die den Rubin umwand, vor ihr auf dem Tische funkelte. Noch an demselben Abend trug ich ihn auf die Königsbrücke und warf ihn weithin in den Strom, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen hatte. Helene lehnte neben mir am Geländer, und schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu – unsern Kindern.

War's nicht ein hübsches, ein glückliches Vorzeichen, dieser kleine goldgelbe Vogel, der zwischen den beiden Wohnungen hin und her flatterte, der seine Wohnung dort und hier hatte, oft ein kleiner treuer Bote war und an seinem beweglichen Hälschen gar wichtige Nachrichten, Fragen oder Antworten hinüber- und herübertrug?

»Schau mal nach, Liese, das Flämmchen trägt wieder einen Zettel am Halse. Jetzt werden wir wohl erfahren, wo der Bösewicht, über den ich die alte Martha draußen noch brummen höre, steckt.«

Zwitschernd hüpft Flämmchen auf Elisens Hand. Sie nimmt ihm den Zettel ab, und in einer weitbeinigen Knabenhandschrift lautet die Botschaft:

»Liese!

Da ich mich vor morgen bei Euch nicht zu zeigen wage und noch dazu leider gezwungen bin (scheußlich!) 3 Seiten, schreibe drei Seiten, voll lateinischen Unsinns zu übersetzen (ich möchte nur wissen, wozu ein Maler, und ich will einer werden, Latein braucht?????), so bitte ich Dich, den Onkel (Du brauchst ihm diesen Brief nicht zu zeigen) ebenso auf seinem Lehnstuhl festzubinden, wie ich die alte Martha festgebunden habe, und so bald als möglich vor die Tür zu kommen. – Ich will Dir mal was Wichtiges sagen.

Gustav.

P. Scr. Ich passe auf, und wenn ich Deine Nasenspitze sehe, schleiche ich an den Häusern hin zu Euerer Tür! Komme bald!!

P. Scr. Bring Deine Korbtasche mit!«

»Was mag er nur wollen?« fragt Lieschen, die schon nach dem Nagel guckt, an welchem ihre Tasche hängt, während ich trotz des warnenden Passus den Brief des Übeltäters und seine echte Tertianerlogik studiere. Es ist prächtig: weil ich ein Exerzitium von bedenklichster Länge machen muß - so komme so bald als möglich! Und dann die kleine Heuchlerin, die recht gut weiß, was der Faulpelz will!

»Was für einen Tag haben wir heute, Lieschen?«

»Ah – Sonnabend!« ruft Elise. »Jetzt weiß ich's! Er hat sein Taschengeld gekriegt.«

»Welches eigentlich die alte Martha konfiszieren müßte. Höre, Lieschen; schreib ihm als Bedingung Deines Kommens vor, daß die ›scheußliche‹ Arbeit fertig sein müsse.«

»Wie lange dauert das wohl, Onkel?« fragt die Liese ganz bedenklich; sie zöge das »So bald als möglich« unbedingt vor.

»Nun – zwei Stunden, mindestens!«

»Oh, oh zwei Stunden?!«

»Ja, und dann wimmelt sie doch noch von Fehlern, einer immer schlimmer als der andere.«

»Onkel, Gustav sagt aber: je länger er an einer Arbeit säße, desto mehr Böcke mache er.«

»Nun denn, wenn er das sagt, so soll er sie fürs erste nur fertigmachen und mit herüberbringen. Schreib ihm das!«


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