Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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»Ich saß neulich mal des Abends ganz allein. Du warst ausgegangen, Onkel; Gustav war am Morgen schon mit seiner großen Mappe abgezogen, um Bäume und Bauernhäuser zu zeichnen; wo die Tante war, weiß ich nicht; kurz, ich war mutterseelenallein, und nur mein guter, dicker Kater schnurrte auf der Fußbank neben mir und putzte sich den Schnauzbart. Ich hatte eine Menge Augen an meinem Strickzeug fallen lassen und durchaus keine Lust, sie wieder aufzunehmen. So schob ich denn die Lampe tief herunter und blickte aus dem Fenster in den Mond, der nicht ganz so voll wie heute über die Dächer und Schornsteine heraufkam. Es war ganz dämmerig in der Stube, und nur zuweilen tanzte ein Lichtschein aus den Fenstern drüben über die Wände. Da plötzlich war der Mond hoch genug gestiegen, ein glänzender, lustiger Strahl schoß wie ein weißer Blitz über meinen Topf mit Nachtviolen und ein Glas mit Waldblumen, welches neben mir stand, und – mit ihm kam mein Märchen oder mein Traum. Es war zu hübsch! – Zuerst guckte ich eine ganze Weile in die glänzende Straße auf dem Boden, die immer weiter rückte, als – auf einmal – ihr glaubt's gewiß nicht – der ganze Strahl von unzähligen, kleinen, zierlichen, durchsichtigen Flügelgestalten lebte, die darin auf- und abschwebten und durch ihren Glanz selbst die Bahn bildeten. Halb erschrocken und halb erfreut sah ich diesem wundersamen Weben zu, als plötzlich das Blumenglas im Fenster einen schrillen, langanhaltenden Ton, wie er entsteht, wenn man mit dem Finger um den Rand eines Glases streicht, von sich gab. Das Wasser darin hob und senkte sich, blitzte, funkelte und bewegte die Waldrosen hin und her; die Blüten der Nachtviolen öffneten sich, und aus jeder schwebte ebenfalls ein zierlich geflügeltes Wesen, fast noch feiner als die Lichtgeisterchen. Nach allen Seiten flatterten sie, den köstlichsten Duft verbreitend. Währenddessen tönte der schrille Ton des Glases fort, bis er mit einem Male aufhörte, gleich einem Faden durchschnitten, worauf eine tiefe Stille eintrat. – Jetzt hatte der Mondstrahl deinen Schreibtisch erreicht, Onkelchen; das kleine Geistervolk tanzte lustig über deinen Büchern und Papieren, und so weit hatte ich mich schon von meiner Verwunderung erholt, daß ich herzlich über die sonderbaren Kapriolen einiger der winzigen Dingerchen lachen konnte, die auf alle Weise sich bemühten, in unser großes Dintenfaß zu gucken, ohne den Mut zu haben, sich in die Nähe zu wagen. Andere wieder schwebten über den Federn, und noch andere machten sich um einen recht dicken, abscheulichen Dintenklecks zu schaffen, welcher nicht trocknen wollte; sie schienen ihm das Lebenslicht mit aller Macht ausblasen zu wollen.

Ich weiß nicht, wie lange ich diesen zauberischen Wesen zugesehen hatte, als eine Menge feiner Stimmchen ›Folge, folge!‹ rief, und ich, immer kleiner werdend, endlich selbst als ein solches geflügeltes Figürchen in den Tanz gezogen wurde und mit den Geistern des Mondlichts und den Duftgeistern der Waldblumen und der Nachtviolen langsam dem Fenster zuschwebte. Denn wie der Mond noch höher stieg, zog sich auch der Strahl mit seinen glänzenden Bewohnern wieder zurück und lief hinab an der Hauswand, um in die Gasse hinunterzusteigen. – Ich hatte durchaus keine Furcht, trotzdem daß es da draußen wie eine verzauberte Welt war. – Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und Licht, und nichts von dem Leben und Weben des Geistervolks war mir mehr verborgen, und von Geistervolk lebte und webte alles! Dabei hatte ich auch nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu schauen und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den Haustüren, die Kinderköpfe in den Fenstern, die schlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren Nestern; es war wunderhübsch! – Jetzt zog der Strahl mit seinen Bewohnern schräg über unsere Wand fort und glitt auf die Fenster unserer Nachbarn zu. Halb zehn Uhr hörte ich's schlagen, als der Reigen vor dem Fenster der armen Frau Nudhart, die mit ihrem kranken Kind da wohnt, ankam und zitternd über einen knospenden Rosenbusch in das kleine Zimmer glitt. Leise singend schwebten die Geisterchen des Lichts, und ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten sich um den Schatten des Rosenbusches auf dem Boden, küßten das bleiche Kindergesicht auf dem Bettchen und die ebenso bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, sorgenvollen Mutter. ›Wir bringen Hoffnung, wir bringen Genesung, wir bringen Leben!‹ flüsterten die Geister. Das kranke Kind legte seine magern Händchen lächelnd in den zitternden Strahl auf seinem Kissen. ›Wir bringen Hoffnung, Genesung, wir bringen Leben‹, sang ich mit im Chor, und fast widerstrebend folgte ich dem zurückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte ich zurück ins Zimmer werfen, und im nächsten Augenblick schwebte ich schon wieder in der Gasse. Die Tante aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen sein, denn plötzlich mischten sich die Töne ihres Flügels in den Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor seinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir waren jetzt vor dem Fenster des ersten Stockes unseres Nachbarhauses; ein heller Lampenschein drang aus dem Zimmer hervor, und über ein Glas mit Goldfischen und das Strickzeug in den Händen der Frau Hofrätin Zehrbein schwebten wir hinein lustig und glänzend ohne eine Ahnung des Schrecklichen, welches uns bevorstand. ›Mein Fräulein‹, lispelte eine Stimme, in deren Inhaber ich den Assessor Kluckhuhn erkannte. ›Mein Fräulein, inkommodiert Sie diese abominabel schwüle Luft nicht zu sehr, bitte, so lassen Sie uns noch einmal jene köstliche Barcarole aus Haydée hören.‹ – Um Gottes willen! dachte ich, aber schon war's zu spät, meinen winzigen Begleitern das Drohende mitzuteilen und zu schneller Flucht zu raten; schon hatte Eulalia begonnen:

›Das Lido-Fest ist heute,
Lust und Vergnügen ringsum lächelt ...‹

Entsetzen faßte die Geisterschar; ihre schillernden, glänzenden Farben verblichen; von dem Resonanzboden des ächzenden Musikkastens (wie Gustav sagt) und zwischen den Lippen der Sängerin entwickelte sich eine mißgestaltete Gnomenschar, die, gespenstisch kreischend und jammernd, sich in der Luft überstürzte und überschlug und grimmig über die Geister des Lichts herfiel. Es war schrecklich! Schon fühlte ich mich von einem koboldartigen C, welches mich an dem Hals gepackt hielt, halb erdrosselt und zappelte wie eine unglückliche Mücke in den Krallen der Spinne; da – erhob sich die Frau Hofrätin; die weiße Gardine sank herab: wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es mich und das ganze Heer des Lichts! Gerettet! – An der Außenseite des Tuchs hing der Strahl mit seinen Kindern, bleich und angegriffen; drinnen aber tönte es fort:

›Ein schöner Herr, ein holder Jüngling,
Mit mildem, liebendem Aug
Umflattert mich, mit schmeichelnder Zunge! ...‹

Schnell und schneller sank jetzt der Strahl herab, und eben berührte er die Erde, da – erwachte ich, und Gustav, dicht vor mir, den Kopf auf beide Fäuste gestützt, grinste mich an. – (Au! Nein, du hast mich nicht angegrinst?) Eine dicke schwarze Wolke stand vor dem Mond, und mein Traum war zu Ende, mein Märchen ist zu Ende!«

Das Märchen war zu Ende, aber noch nicht unser Mondscheinabend damals.

»Und nun, Gustav, Quälgeist ... hier ... da« ...

Mit diesen Worten greift Elise in das Wasserbecken neben ihr und schleudert eine Handvoll blitzender Tropfen ihrem nichts ahnenden Gefährten ins Gesicht. Erschrocken und prustend springt dieser zur Seite, worauf die Übeltäterin, böse Folgen ahnend, sogleich, um das Becken herum, die Flucht ergreift.

»Ihr seid Zeugen, daß sie angefangen hat!« ruft Gustav, ebenfalls die Hand ins Wasser tauchend und Elisen nacheilend.

»Tante! Tante! – Onkel, Hülfe!« schreit diese, mit der abgebundenen Schürze den Verfolger im Rennen abwehrend und ihn mit der andern, freien Hand unaufhörlich bespritzend.

»Warte, Wasserjungfer!« ruft Gustav und bemächtigt sich der Schürze. »Das sollst du büßen, Verräterin!«

Mit einem Schrei läßt Elise ihre Ägide fahren, und – wie ein Reh ist sie seitwärts im Gebüsch hinter den Holundersträuchen verschwunden, doch nicht, ohne ihren durchnäßten Verfolger auf den Fersen zu haben.

»Diese Wildfänge!« seufzt die Tante Helene, auf eine Bank sinkend, während ich Taschentuch, Arbeitskörbchen und umherrollende Äpfel, welches alles das Frauenzimmer, den Ausgang ihres Attentats vorhersehend, sogleich zu Boden geworfen hat, aufsuche, wie es einem guten Onkel und Vormund geziemt. »Hören Sie nur, wie das Mädchen kreischt!«

Indem wir noch der wilden Jagd zwischen den Büschen lauschen, belebt sich plötzlich die Szene, und andere Figuren kommen durch die Monddämmerung. Mädchen- und Männerstimmen, kichernd und summend und Opernmelodien pfeifend! Jetzt treten die Kommenden aus dem Schatten in den hellern Lichtkreis um das Fontänenbecken: »Der Onkel Wachholder!« rufen verwundert mehrere Stimmen, und im nächsten Augenblick sind wir von den Nachtschwärmern und Abendfaltern umgeben und erkennen in ihnen wohlbekannte Freunde und Freundinnen von Gustav und Elise. Ein Gewirr von Begrüßungen und Fragen erhebt sich nun. Wo ist Fräulein Ralff, wo ist Lieschen, wo ist die Liese, wo ist Herr Gustav, wo steckt der Mensch? schwirrt das durcheinander und wird beantwortet, bis endlich Gustav und Elise zurückkommen von ihrer wilden Jagd, keuchend und rot, die Haare in Unordnung, Elise mit einem großen Riß im Kleide, aber beide Arm in Arm wie artige, verträgliche Kinder. – Jetzt geht der Jubel erst recht an! »Das ist schön, das ist prächtig, das ist ausgezeichnet; guten Abend, Natalie; guten Abend, Ida; ich grüße Sie, mein Fräulein; wo kommt ihr her, ihr Herumtreiber, usw. usw.«

Wie ist doch die Jugend so schön; wie wenig bedarf sie, um glücklich zu sein! Ein bißchen Mondschein, ein paar klingende Wassertropfen, die Strophe eines Liedes, und die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie sie noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich, der alte Mann, welch ein Dichter, welch ein Maler müßte ich sein, wenn ich alle diese frischen, blühenden Gestalten, die da heute an diesem einsamen Abend wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren kleinen Sorgen und Freuden, ihren kleinen Sünden und Tugenden, mit ihren verstohlenen Seufzern, noch verstohleneren Zärtlichkeiten und ihren lauten Neckereien auf die Blätter dieser Chronik festbannen wollte! Wie abgeblaßt und schal sieht alles aus, was ich bis jetzt zusammengetragen und niedergeschrieben habe; wie farbenbunt und frisch erlebte es sich!

Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die dunkeln Wolkenmassen, die im Süden lange genug gedroht hatten, hatten sich unbemerkt herangewälzt; es grollte und murrte in der Ferne, und schwere warme Regentropfen schlugen vereinzelt in die lenes susurros sub noctem, in das leise Geflüster im Schatten der Nacht. Kennt ihr das »Rette sich wer kann!« bei einem plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt? Alle Gruppen lösen sich – Schürzen werden über den Kopf, Taschentücher über die Hüte gebunden; hier flüchtet ein Pärchen unter eine laubige Akazie, dort ein dicker alter Herr unter den Vorsprung eines Hauses; hier schlüpft leichtfüßig ein junges Mädchen dicht an den Häuserwänden hin, dort wandelt langsam und gleichmütig ein Naturmensch daher, nichts vor dem Regen schützend als seine glühende Zigarre.

Die Droschken scheinen sich zu vervielfältigen, und – »süß ist's, vom sichern Hafen Schiffbrüchige zu sehen« – an allen Fenstern erscheinen lachende Gesichter. Studenten, Referendare, junge Theologen usw. wischen ihre Brillen ab; Maler verlassen ihre Paletten und Staffeleien und machen Studien nach dem Leben; Tanten und Mütter schelten über Indezenz. – Platsch, platsch! Alle Dachrinnen senden wie hämische Ungeheuer ihre Wassergüsse der dahertrabenden Menschheit in den Nacken. Es ist lächerlich-schrecklich bei Tage, schrecklich bei Nacht!

»Siehst du, Lieschen, das hast du erst gewollt – so lange hast du mit dem Wasser gespielt! Das kommt davon!« ruft ärgerlich die Tante Helene. Gustavs Jubel erreicht den höchsten Grad, und lachend schleppt er seine Mutter nach, während diesmal ich mit Liesen vorauslaufe. Nach allen Seiten haben sich unsere Freunde und Freundinnen von vorhin zerstreut. Das Gewitter kommt immer näher, der Donner brummt ganz artig, und die Blitze sind gar nicht übel. Selbst Gustav meint: »Gottlob, da ist die Sperlingsgasse!« Welche Überschwemmung! – Gute Nacht und keine langen Worte! – Gustav verschwindet mit seiner Mutter hinter ihrer Haustür, und auch wir erreichen glücklich die unsrige.

»Gott, Herr Wachholder, was habe ich für 'ne Angst gehabt!« ruft die alte Martha uns von der Treppe entgegen.

Lieschen pustet und ächzt und lacht, hält Arme und Hände weit ab vom Leibe und wird so schnell als möglich ins Bett geschickt. Gustav ruft natürlich von drüben noch einige Fragen herüber, auf welche wir aber nicht antworten, und der Mondschein-Spaziergang ist zu Ende.


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