Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 25. Januar.

Die Kälte ist aufs höchste gestiegen. Wenige Nasen werden in der Sperlingsgasse herausgestreckt und, die es werden, laufen rot und blau an. Welch ein Künstler der Winter ist! Die Spatzen färbt er gelb und den freien Deutschen macht er ausrufen: Mein Haus ist meine Burg!

Was kann ein Chronikenschreiber bei so bewandten Umständen Besseres tun, als sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu machen und die große Welt draußen, die allgemeine Gassengeschichte, gehen zu lassen, wie sie will?

Im Jahre der Gnade 1619 verbrannten sie zu Rom einen Gottesleugner, genannt Julius Cäsar Vanini, der hob, auf seinem Scheiterhaufen stehend, einen Strohhalm zwischen den Holzklötzen auf und sagte lächelnd: »Wenn ich auch das Dasein Gottes leugnen würde, dieser Halm würde es beweisen!« – Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte – Gottes! Wohin führt uns das? Kehren wir schnell um und steigen wir die Treppen hinunter in das unterste Stockwerk.

Da sitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirts und Tischlermeisters Werner eine weißhaarige, gebückte Frau in ihrem Lehnstuhl hinter dem Ofen, spinnend vom Morgen bis zum Abend. Das ist die alte Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des Hauses, welche den Grundstein legen und den Knopf auf die Giebelspitze setzen sah und mit dem Hause und seiner Geschichte verwachsen ist durch und durch.

Manche Leiche hat sie in den langen Jahren ihres Lebens hinaustragen sehen: ihre Eltern und alle ihre Geschwister, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf eins, die Anna, die Frau des jetzigen Besitzers. Sie hat den Sarg Mariens mit schmücken helfen und den Sarg Franzens; sie hat ihre Freundin, meine alte Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof, wo dieselbe begraben ward an der Seite ihrer Herrin, und manchen andern vom Dachstübchen bis zur Kellerwohnung.

Einst war sie das schönste Mädchen der Gasse – wie sie jetzt noch die schönste alte Frau ist –, und als der Hausknopf geschlossen werden sollte und jedes Glied der damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hineintat, legte sie errötend und unbemerkt ein kleines Blättchen hinzu, welches aus fernem Land gekommen war und die Überschrift trug:

»Dieses kleine Briefelein kommt an die
Herzallerliebste in Herz und Liebe.«

und schloß:

»... meiner Liebsten noch einen Gruß und Kuß, und hoff ich zu kommen im Frühling mit den Schwalben und Hochzeit zu feiern freudiglich mit meinem Schatz, den grüßt und küßt in Gedankensinn sein herzlieber

Gottfried Karsten,
Tischlergeselle.«

Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirschen und kreischen läßt, mag sie wohl an das Blättchen im Knopf darunter denken und an den, der's schrieb und der nun auch schon so lange tot und begraben ist.

An wie manches Kindbett im Hause aber auch ist die alte Margarete Karsten gerufen, und wie manches junge Leben hat sie aufblühen sehen im Hause Nr. sieben in der Sperlingsgasse!

Wer weiß soviel Wiegenlieder wie sie? Wer weiß soviel Märchen, die alle anfangen: »Es war einmal« und damit enden, daß jemand in ein Faß mit Nägeln und Ottern gesteckt und den Berg hinabgerollt wird? Wer im Hause hat zu allen Tageszeiten so viele Kinder um sich, die den Geschichten lauschen, dem schnurrenden Rade zusehen und abends mit der zunehmenden Dämmerung immer dichter an den großen Lehnstuhl sich drängen? Wie oft habe ich einst da die kleine Elise mit Rezensent an ihrer Seite gefunden, andächtig lauschend, und wie oft, wenn ich mit der besten Absicht kam, sie heraufzuholen zu Bett, bin ich selbst sitzengeblieben, den Schluß einer Historie abwartend, bis endlich auch noch Martha herabkam und es uns fast ging wie dem Herrn, welcher den Jochen ausschickte, den Pudel zu holen.

Heute freilich treffe ich die kleine Liese nicht auf der Fußbank am Lehnstuhl sitzend, auch die alte Martha kommt nicht mehr herunter, uns beide abzuholen; aber einen anderen treffe ich häufig genug seit Mitte des vorigen Herbstes, und dieser andere ist kein geringerer, als unser Freund und Nachbar, der Karikaturenzeichner Strobel. In der Werkstatt bei Meister und Gesellen, in der Küche bei der Hausmutter, überall ist der Zeichner ein willkommener Gast. Die Gesellen porträtiert er für ihre respektiven Schätze, mit dem Meister politisiert er, die Meisterin lehrt er neue Gerichte fabrizieren – er hat unter seiner Bibliothek ein dickes Kochbuch – und der Großmutter – hört er zu.

So traf ich ihn heute abend, als ich herunterkam, einen geborgten Leimtopf wieder abzuliefern. Da es Feierabend war, so war die ganze Familie in der Stube versammelt, der Zeichner hatte alle seine Gesprächselemente beieinander und plätscherte mit Wonne darin herum.

»... Also Meister«, sagte er, als ich eintrat, »wer, meinen Sie, kriegt dabei die Prügel?«

»Der Russe nicht!« antwortete nach einer kleinen Pause bedächtig der Meister, der mit der Brille auf der Nase die Zeitung hinter das Licht hielt, um besser zu sehen.

»Also die Alliierten?«

Der Meister nimmt eine Prise, und da seine Erinnerungen nur bis zu den Befreiungskriegen gehen, sieht er verwundert auf, es scheint ihm auch das unwahrscheinlich. Plötzlich aber besinnt er sich:

»Donnerwetter, da sind ja jetzt auch die Franzosen bei!« ruft er. »Himmel! das hat sich ja auf einmal ganz umgedreht!«

»Richtig, Meister«, sagt der Zeichner, den Tischlermeister auf die Schulter klopfend. »Richtig! Alles in der Welt dreht sich von Zeit zu Zeit um.«

»Meisterin, die Kartoffeln brennen an!« unterbricht Anton, der Lehrjunge, die Politik.

»Wir kommen gleich!« ruft Strobel lachend. – »Ich gehe auch mit, Meisterin, und die Kinder auch! Vorwärts! En avant! On with you, boys! Hinaus in – die Küche!«

So werden die Kartoffeln gerettet, der Meister studiert seine Zeitung weiter, und das Spinnrad summt und schnurrt im Winkel wie immer. Endlich kommen Strobel, die Frau Anna und die Kinder zurück, und die Alte fragt:

»Also der Franzos ist auch wieder dabei? Ist das derselbe, der Anno sechs hier war?«

»Nein«, sagt Strobel, »jetzt trägt er rote Hosen.«

»Und der Napoleon – ich meine, der ist lange tot?«

»Ja, Mutter«, sagt der Meister, von seiner Zeitung aufsehend, »das ist auch ein anderer.«

»Gott«, sagt die Großmutter, »wenn ich noch daran denke, wie das kleine, gelbe, schwarze Volk hier war und in den Straßen kauderwelschte, und eine Sorte hatte in ihren Hüten große Kochlöffel stecken, und acht hatten wir hier im Haus.«

Strobel, der jetzt die Alte da hat, wo sie ihm interessant wird, rückt einen Schemel an ihren Lehnstuhl und sagt: »Großmutter, es ist noch früh, erzählen Sie uns noch etwas von den achten; wenn der Meister seine Zeitung liest, ist gar kein Auskommen mit ihm. Kommen Sie, Wachholder, rücken Sie her. Burschen, seht, wo ihr Plätze findet, und haltet das Maul, die Großmutter will von den acht Franzosen in Numero sieben erzählen!«

Die Alte lächelt und bringt ihr Rad wieder in Gang: »Solchen gelehrten Herren soll ich erzählen? Die haben ja alles viel besser in Büchern gelesen; von allen achten weiß ich auch nichts.«

»Großmutter, was ich in Büchern gelesen, habe ich gottlob nun bald wieder vergessen«, sagt der Zeichner, »und wenn Sie von allen achten nichts wissen, so sind wir auch mit vier zufrieden oder mit so viel, als Sie wollen; erzählen Sie nur.«

»Nun, wenn Sie's denn wollen, so muß ich mich mal besinnen. – Gut!

Also es war Anno sechs, als der Franzos im Lande rumorte und drunten schrecklich hausen sollte, denn er hatte einen großen Sieg erfochten und glaubte, das Recht dazu zu haben. Die Leute fürchteten sich alle sehr, gruben ihre Löffel weg und näheten ihren Kindern jedem ein Goldstück in den Rocksaum, auf den Fall, daß sie abhanden kämen oder mitgenommen würden. Aber mein Seliger tat gar nicht, als ob ihn das was anginge. – ›Wenn sie kommen, sind sie da‹ – sagte er, und dabei blieb er, und wenn die Nachbarn kamen und klagten und jammerten, sagte er nur: ›Einmal wir, einmal sie!‹ Und wenn sie ihm die Ohren zu voll schrieen, zog er eine weiße Zipfelmütze, die er zu meiner Verwunderung seit kurzer Zeit immer in der Tasche führte – darüber und tat, als ob er einschliefe. Es war immer ein sonderlicher Mann, Annchen, dein Vater.

Gut. Eines Morgens erhub sich ein Lärm: Sie sind da! Heiliger Gott, mir fuhr's ordentlich in die Kniee; meine Jungen (Gott hab sie selig) in allen Gassen, Gott weiß wo, und nur mein Annchen hatt' ich in der Wiege; mein Alter hatte mal wieder die Zipfelmütze hervorgekriegt und übergezogen und sägete im Hofe.

›Gottfried, Gottfried!‹ schreie ich, ›sie sind da! sie sind da!‹ Er tat, als ob er's nicht hörte, obgleich ich dichte bei ihm stand. In meiner Angst und auch vor Ärger riß ich ihm die dumme Mütze ab, warf sie auf die Erde und schrie wieder: ›Und die Jungen sind auf der Straße – heiliger Vater! – und unsere Löffel – Mann! – Mann!‹

Er hob ganz ruhig seine Mütze auf, klopfte die Sägespäne an ihr ab, setzte sie ruhig wieder auf und sagte: ›Ja – wenn's so ist, werden sie wohl durchs Wassertor kommen, daher geht der Weg von Jena.‹ Ich glaube, so hieß es. Dann sägt' er weiter.

Richtig, da trommelte es schon die lange Straße vom Wassertor her herunter – mir zitterte das Herz immer mehr! –

›Meister Karsten! Meister Karsten! Schnell, schnell!‹ schrieen plötzlich mehrere Nachbarn, die in den Hof stürzten im besten Sonntagsstaat. ›Ihr sollt kommen, Ihr sollt mit zur Depentatschon an den französchen General!‹

›So?!‹ sagt mein Gottfried, stellte seine Säge hin und ging langsam in das Haus, gefolgt von den Nachbarn, dem Herrn Sekretär Schreiber, dem Herrn Rat Pusteback, dem Schornsteinfeger Blachdorf und dem Schmied Pruster und andern. Alle zogen mit meinem Alten in die Stuben, weil sie dachten, er würde nun gleich in den Bratenrock fahren und mitrennen. Aber proste Mahlzeit! – An den Tabakskasten ging mein Alter, stopfte sich eine Pfeife, schlug langsam Feuer und sagte:

›Nun, so kommt, meine Herren!‹

Die standen alle mit offenen Mäulern da, aber mein Gottfried ließ sich nicht irremachen. In Schlafrock und Pantoffeln marschierte er ruhig – ich sehe ihn wie heute – voran bis an die nächste Straßenecke. Da blieb er stehen und die Nachbarn um ihn herum, zeigte mit der Pfeifenspitze auf einen Zettel, der da klebte und auf welchem stand:

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!

oder so was – ich hab's vergessen –, klappte seinen Pfeifendeckel zu, drehte sich langsam um und ging ins Haus zurück. Meine beiden Jungen brachte er mit, worüber ich seelenfroh war. ›Da, Mutter‹, sagte er, als er sie in die Türe schob. ›Heb sie mir auf‹, sagte er, ›wir brauchen sie einst mal.‹

Ich wußte damals nicht, was das heißen sollte; später erfuhr ich's!«

Hier traten der alten Frau die Tränen in die Augen, und ihr Spinnrad hörte auf zu schnurren. Es herrschte eine tiefe Stille im Zimmer.


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