Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 10. Dezember.

Es ist jetzt vollständig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt der verspäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hören könnte. Es ist tiefe Nacht.

Was ist das für ein bleiches, verfallenes Gesicht, welches da vor mir auftaucht? Ist das Franz – der lebensmutige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einst kannte?

Drei Monate waren hingegangen, seit man die tote Marie zu ihrer stillen Ruhestätte hinausgetragen hatte. Ich saß neben meinem Freunde, der, auf die graugrundierte Leinwand vor ihm starrend, plötzlich begann:

»Höre, Johannes, ich muß dir eine Geschichte erzählen. Es wird gut sein, daß du sie kennst; auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind sie erfahren müßte. Letzteres will ich dann dir überlassen, Johannes.

Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unsere früheste Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ahnungslose Kinder waren. O Johannes, laß mich sie zurückrufen, diese seligen Tage! Klingt es dir nicht auch bei jeder Erinnerung daran wie das Läuten jener im Wald verlorenen Kirche? O, mein Jugend-Waldleben! – Wie ich es jetzt vor mir sehe, dieses alte, braune, verfallende Jägerhaus mitten in der grünen, duftenden Einsamkeit! Vorbeiplätschernd der klare Bach, der dann tiefer im Walde den stillen Teich bildet, den die Sage so wundersam umschlungen hat! Wie oft bin ich, das Kinderherz voll geheimnisvollen Bebens, an funkelnden Mondscheinabenden, wenn die Bewohner des Jägerhauses vor der Tür saßen und der alte Burchhard das Waldhorn – du weißt wie schön – blies, dem durch das Dunkel glitzernden Bach nachgeschlichen, dem stillen Wasser zu, das Treiben der Nixen und Elfen zu belauschen. Wie fuhr ich zusammen, wenn eine Eidechse im Grase raschelte oder ein Nachtvogel schwerfälligen Flugs über den glänzenden Spiegel des Teichs hinflatterte, indem ich dachte, jetzt müsse das wundersame Geheimnis ans Licht treten und sein Wesen und Weben beginnen um die volle Scheibe des Mondes, die in der klaren, stillen Flut widergespiegelt lag. Erst später erfuhr ich, woher der tiefe, geheime Zug in mir nach diesem Waldwasser stamme.

Wie oft bin ich, wenn der Sturm in den Bäumen rauschte, hinaufgestiegen in eine hohe Tanne, um mich, die Arme fest um den rauhen, harzigen Stamm geschlungen, das Herz gepreßt von Angst und unsäglicher Seligkeit – hin und her schleudern zu lassen vom Winde. Und dann, wenn draußen die heiße Julisonne, die in diese Waldnacht nur vorsichtig neugierig hineinzulugen wagte, auf der Welt lag: welch ein Träumen war das! Welch eine Wonne war's, im Grase zu liegen, während der Rauhbach an meiner Seite rauschte und murmelte und seine Kiesel langsam weiterschob, während die Sonnenlichter an den schlanken Buchenstämmen oder über den Wellchen des Baches spielten und zitterten, die Wasserjungfer über mich hinschoß, ringsumher die Glockenblumen ihre blauen Kelche der Erde zuneigten und der stolze Fingerhut sich trotzend in seiner Pracht erhob, als spreche er jeden verirrten Strahl der Sonne für sein Eigentum an.

Welche Winterabende waren das, wenn ich dem alten, weißbärtigen Mann, den ich Oheim nannte, auf dem Knie saß, mit den Quasten seiner kurzen Jägerpfeife spielte und seinen Geschichten und Sagen lauschte, während die Hunde zu unsern Füßen schliefen und träumten und nur von Zeit zu Zeit aufhorchten, wenn der alte Karo draußen anschlug.

Es war ein glückliches Leben, dieses Leben im Walde, und es ist von großem Einfluß auf meine spätere künstlerische Entwicklung gewesen. Noch gar gut erinnere ich mich des Tages, an welchem ich mein erstes Kunstwerk an der Stalltür zustande brachte. Es war ein Porträt unseres alten Burchhards und seines getreuen Begleiters, des kleinen Dachshundes, der die Eigentümlichkeit hatte, gar keinen Namen zu besitzen, sondern nur auf einen besondern Pfiff seines Herrn hörte.

Der folgende Zeitraum meiner Geschichte, Johannes, ist dir fast so gut als mir bekannt, und ich könnte schneller darüber weggehen, wenn es mich nicht überall, wo ihr Bild auftaucht, so gewaltig festhielte.

Wieviel heimliche Tränen – der Oheim liebte das Weinen nicht – wischte ich mir aus den Augen, als der Tag kam, an welchem ich meiner grünen Waldesnacht Ade sagen mußte. Gern hätte ich mich an jeden Baum, an jeden Strauch, an welchem der Weg aus dem Walde heraus vorbeiführte, festgeklammert. Wie unermeßlich weit und groß kam mir die Welt vor! Wie eine Eule, die man aus ihrer dunkeln Höhle in den Sonnenschein gezerrt hat, schien ich mir anfangs in Ulfelden. Ich war unglücklich, wie ein Kind von zwölf Jahren es nur sein kann, ehe ich mich in das ungewohnte Leben hineinfand.

Wie deutlich steht mir der erste Abend in unserer Kindheitsstadt noch vor dem Gedächtnis! Der Oheim war zurückgekehrt in sein einsames Waldhaus, die Frau Rektorin wirtschaftete in der Küche, der alte Rektor saß oben in seinem kleinen Studierstübchen über dem Tacitus, seinem Lieblingsschriftsteller, wie ich später erfuhr, und – ich kauerte einsam mit verquollenen, tränenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hause und blickte in dumpfem Hinbrüten den vorbeischießenden Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas schmutziges Händchen mir einen angebissenen rotbackigen Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen sich unter meine Nase drängte und ein feines Stimmchen sagte:

»Nicht weinen ... Junge ... Mama auch Eierkuchen backen.«

Ich hatte damals große Lust, die kleine Trösterin zurückzustoßen, sie ließ sich aber nicht abweisen, und als ich über ihr Mitgefühl stärker zu schluchzen anfing, fing auch sie an zu weinen. Unter diesem Tränenstrom wurden wir von dem alten Rektor überrascht, welcher plötzlich in seinem rotgeblümten Schlafrock – ein Porträt von ihm gibt es dort unter meinen Skizzen – und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns stand.

»Nun, kleines Volk«, sagte er lächelnd, »das ist ja eine prächtige Freundschaft zwischen euch, die so mit Heulen anfängt! Wer hat denn dem andern etwas zuleide getan?«

Diese diplomatische Wendung der Sache brachte auf einmal meinen Tränenstrom zum Stehen, und auch die kleine Marie lächelte sogleich wieder durch die hellen Tropfen, die ihr über beide Backen rollten.

»Wird schon gehen, wird schon gehen!« brummte der alte Scholarch, fuhr mit der Hand über meine Haare und ging dann zurück ins Haus, um seiner Frau beim Eierkuchenbacken zuzusehen.

Die kleine Marie aber führte mich zu ihrem Garten im Winkel, grub eine keimende Bohne hervor, zeigte sie mir jubelnd und versprach mir ein ähnliches Feld für meine Tätigkeit. Dann zogen wir uns in die Geißblattlaube zurück, wo der Tisch gedeckt war. Da fand ich neben dem Nähzeuge der Frau Rektorin ein Buch auf der Bank – ein Bilderbuch, welches mich den Wald, das Jägerhaus, den Ohm, den alten Burchhard, mein ganzes Heimweh zuerst vergessen ließ. Es war ein zerlesener und zerblätterter Band des welt- und kinderbekannten Bertuchschen Werks. Welch eine neue Welt ging mir da auf! – Und die kleine Marie lehnte neben mir, lachte, erklärte und kitzelte mich mit Strohhalmen; dann kam die Frau Rektorin mit dem Eierkuchen, und der Rektor verließ seinen Tacitus; die Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden Sonntag ein – ich hatte mich gefunden! – Erinnerst du dich wohl noch, Hans, dieses Sonntagmorgens, der auf meinen ersten Tag in Ulfelden folgte? Weißt du wohl noch, wie du mir in der Kirche zunicktest und beim Nachhausegehen unsere Freundschaft ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche du mir in die Haare warfest? Weißt du wohl, Johannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem tollsten, verwegensten Schlingel der ganzen Gegend heranwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie aus ihren großen Augen so traurig ansah? Es war eine prächtige Zeit, und – das Latein war durchaus keine so böse Krankheit wie das Scharlachfriesel – ich hatte diese Vorstellung aus dem Walde mitgebracht –, sondern höchstens ein leichter Schnupfen, der bald wieder auszuschwitzen war.

Dann kamen die Zeichenstunden bei dem alten Maler Gruner, der mir zuerst die Welt des Schönen deutlicher vor die Augen legte, der in seiner trockenen, kaustischen Weise das Leben, welches er sehr wohl kannte, an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich hinaussehnte in diese so schön blühende Welt, wo man nur die Hand auszustrecken brauchte, um Glück, Ruhm und Reichtum zu erfassen.

Den Wald hatte ich fast ganz vergessen; ich sehnte mich gar nicht zurück; hinaus wollte ich in die Welt, Maler werden, tausend Träume hatte ich, und in allen schwebte Mariens holdes Bild!

Da wurde ich eines Tages zurückgerufen in das einsame Jägerhaus und fand meinen alten Oheim auf dem Sterbebette. Eine Erkältung, die er sich zugezogen und nicht beachtet, hatte bei seinem vorgerückten Alter eine tödliche Wendung genommen. Alle ärztliche und geistliche Hülfe verschmähend hatte er nur nach mir verlangt. Eine schreckliche Enthüllung erwartete mich am Bette des Mannes, an dessen Seite ich nur den alten Burchhard traf, während die Waldgrete, die bejahrte Magd des Försterhauses, ab- und zuging.

Als ich – jetzt ein neunzehnjähriger Jüngling – an das Lager meines Ohms trat, sah mich dieser, eben aus einem kurzen, unruhigen Schlummer erwachend, starr an.

»Er gleicht ihm immer mehr«, murmelte er. Als ich mich über ihn beugte, küßte mich der alte, strenge Mann und sagte mit erloschener Stimme:

»Franz, – du siehst, es ist vorbei mit mir: ich brauche den Jagdranzen nicht zu füllen und nicht für Schießzeug zu sorgen für den Gang, den ich jetzt gehen muß. Heule nicht, Junge; weißt, ich hab's nie leiden können. Ist Weibermode! Ich möchte dir aber noch etwas sagen, eh ich abmarschiere vom Anstand; kannst dann daraus machen, was du willst. Setze dich und höre zu! Schau, da hinten« – der Alte zeigte durch das offene Fenster, in welches grüne Zweige schlugen und die Abendsonne zitterte, während ein Buchfink davor sang –, »da hinten hinter dem Walde kommst du in die große Ebene, wo du tagelang gehen kannst, ohne einen Berg zu sehen. Die Leute nennen's ein schönes Land; – mag sein, hab's aber nie leiden können und mag den Wald lieber. Einen Hügel aber gibt's doch da, mitten in dem flachen Lande und den Kornfeldern, mit einem Schloß, Seeburg geheißen, und am Fuße des Hügels ein Dorf desselbigen Namens. Daher stammt unsere Familie, da bin ich geboren, da ist auch Burchhard her.«

Der Letzterwähnte nickte hier mit dem Kopfe und brummte vor sich hin: »Beides 'ne gute Art, die Ralffs und Burchhards!«

»Hast recht, Alter«, fuhr mein Oheim fort, »hoffe auch, der da (er wies auf mich) soll nicht aus der Art schlagen, wenn er gleich unrecht Blut in den Adern hat. Höre weiter, Junge: War ein stolz Volk, die Grafen Seeburg, die da seit alter Zeit auf dem Neste saßen. Hab's gelesen in alten Chroniken, wie sie die Leute plagten und die Kaufleute fingen. Trieb's auch die neue Art, die damals in seidenen Strümpfen und Schuhen ging, nicht viel besser, wenn auch anders. Halt's Maul, Burchhard, weiß, was du sagen willst. – Ich war damals ein schmucker Bursch, wußte trefflich mit der Büchse umzugehen, und war Andreas Ralff bekannt als Meisterschütze auf Kirchweihen und Vogelschießen weit und breit, wie deine Mutter, Franz, meine Schwester, als das schönste Mädchen im Lande. Sagte mir damals der junge Graf, der eben von Reisen zurückkam: ›Hör, Andreas, tritt in meinen Dienst, will dich gut halten, und soll es dein Schaden nicht sein.‹ Da faßte mich der Satan, daß ich's für mein Glück hielt und einschlug.«

Der Alte stöhnte hier laut auf und barg den Kopf in den Kissen, während Burchhard aufstand und leise eine Jägerweise aus dem Fenster pfiff. Ich beschwor den Ohm, seine Erzählung abzubrechen und zu verschieben.

»Hab das nie getan«, sagte der alte, eiserne Mann, »ist nicht rechte Jägermanier, eine Kreatur angeschossen umherlaufen zu lassen. Reine Büchse, reiner Schuß. Schuf's der böse Feind, daß der Graf die Luise zu sehen kriegte, und – Burchhard, erzähl's dem Jungen weiter...«


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