Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 21. März. Abend.

Es gibt ein Märchen – ich weiß nicht, wer es erzählt hat – von einem, der nach großem Unglück sich wünschte, die Erinnerung zu verlieren, und dem in einer dunkeln Nacht sein Wunsch gewährt ward. Er empfand von da an keinen Schmerz, keine Freude mehr; er verlernte zu weinen und zu lachen; es ward ihm einerlei, ob er Blumenknospen oder Menschenherzen zertrat: alles das hübsche Spielzeug, welches das Leben seinen Kindern mitgibt auf ihrem Wege von der Wiege bis zum Grabe, zerbrach ihm in den Händen mit der Erinnerung. Das ist eine schreckliche Vorstellung! Ihr Weisen und Prediger der Völker, nicht der Gedanke an Glück oder Unheil in der Zukunft ist's, der liebevoll, rein, heilig macht; nie ist dieser Gedanke rein von Egoismus, und über jede Blüte, die das Menschenherz treiben soll, legt er den Mehltau der Selbstsucht: die wahre, lautere Quelle jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung ist die traurig süße Vergangenheit mit ihren erloschenen Bildern, mit ihren ganz oder halb verklungenen Taten und Träumen. Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß er einst selbst sich an die Mutterbrust geschmiegt, daß ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erinnerung ist das Gewinde, welches die Wiege mit dem Grabe verknüpft, und mag das dunkle, stachlichte Grün des Leidens, des Irrtums noch so vorwaltend sein, niemals wird's hier und da an einer hervorleuchtenden Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flüstern können: »Wie lieblich und heilig ist diese Stätte!«

Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume wieder über den Blättern meiner Chronik. Das, was die ältliche, freundlich-schöne Frau, die mir heute den Strauß junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen ihrer Melodien sich schaukeln läßt, kann ich ja nur auf diese Weise festhalten. – Ich habe bis jetzt Bilder gezeichnet aus unserer Kinder Kinderleben, heute will ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zauberspiegel voll blühenden Lebens, voll süßen Flüsterns, voll träumenden Sehnens und lächelnden Träumens – ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrühlings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe!

»O, daß sie ewig grünen bliebe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe!«

sang der Dichter, und überall treffen wir den Spruch an, auf Kaffeetassen, in Stammbüchern und auf Pfeifenköpfen. Das soll kein Spott sein! Was das Volk erfaßt hat, will es auch vor sich sehen, es spielt mit ihm, es spricht den gereimten Gedanken, den es zu seinem Eigentum gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf den Lippen aus, aber es trägt ihn darum doch tief im Herzen. Das Volk steigt nicht zu dem Wahren und Schönen hinauf, sondern zieht es zu sich herab, aber nicht, um es unter die Füße zu treten, sondern um es zu herzen, zu liebkosen, um es im ewig wechselnden Spiel zu drehen und zu wenden und sich über seinen Glanz zu wundern und zu freuen. Über der Wiege des ewigen Kindes »Menschheit« schweben die guten Genien, die großen Weltdichter, schütten aus ihren Füllhörnern die goldenen Weihnachtsfrüchte herab und sind mit ihren Wiegenliedern stets da, wenn häßliche schwarze Kobolde erschreckend dazwischengelugt haben.

Schön ist die Zeit der jungen Liebe! Sie ist gleich der Morgendämmerung, wo der Himmel im Osten leise sich rötet, wo Knospen, Blumen und alles Leben dem kommenden Tage in die Arme schlummern und nur hin und wieder eine Lerche, den Tau von den Flügeln schüttelnd, jubelnd, glückverkündend emporsteigt. Noch bedeckt der Nebelduft zauberhaft, geheimnisvoll alle Abgründe und öden Stellen des Lebens; die jungen Herzen glauben nur Blumen und flatternde Schmetterlinge und bunte nesterbauende Vöglein unter dem Schleier der Zukunft verborgen.

»Süßes Geliebtsein, süßeres Lieben!« hat ein anderer Dichter einmal ausgerufen, und ich, ein alter, einsamer Mann, bedecke die Augen mit der Hand, denke an die Gräber auf dem Johanniskirchhof, denke an den Stern meiner Jugend: »Maria!« – – – Würde ich diese Erinnerung mit all ihrem Schmerz für der ganzen Welt Macht, Reichtum, Weisheit lassen? – – – Ich glaube nicht. –

Der Mond kommt wieder hervor über die Dächer und vermischt sein weißes Licht mit dem kleinen Schein meiner Lampe; über und durch den alten immergrünen Efeu aus dem Ulfeldener Walde schießt er seine blanken Strahlen, seltsame Schatten auf den Fußboden und an die Wände werfend. Mit sich bringt er das heutige Blatt der Chronik der Sperlingsgasse.

Dort auf dem Stühlchen im Fenster zeichnet sich die feine, liebliche Gestalt Elisens dunkel in der Monddämmerung eines lange vergangenen Abends ab, während auf einem andern Stuhl niedriger neben ihr eine andere Gestalt sitzt. Was haben die beiden so heimlich, so leise sich zuzuraunen, was haben sie zu kichern? Ein Garnknäuel, das von Lieschens Nähtisch fällt und über den Boden rollend um Stuhl- und andere Beine sich schlingt, ein verirrter Nachtschmetterling, eine vorbeischießende Fledermaus, ein Ball, der von der Straße ins Zimmer fliegt und über dessen Herausgabe Gustav mit dem unvorsichtigen Besitzer kapituliert, alles, alles wird in dieser Mondscheindämmerung zu einem Märchen, zu einem Traum. Ist nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen; ist nicht die Zeit der jungen Liebe die Zeit des Traums? –

»Liebe kleine Elise!« flüstert Gustav, in das mondbeglänzte, zu ihm sich herabbeugende Gesicht schauend. »Lieber großer Junge!« lächelt Elise, indem sie dem vormaligen Taugenichts der Gasse die Locken aus der Stirn streicht. Sie sagen einander weiter nichts, aber diese abgebrochenen Worte enthalten alles, was das Menschenherz in seinen heiligsten Augenblicken bewegt.

»Ich liebe dich so!« flüstert Gustav wieder, worauf Elise nichts erwidert, sondern den Kopf in die Blätter ihres Efeus verbirgt. Der Mond kann sich in diesem Augenblick wahrscheinlich in einem flimmernden Perlentröpfchen, das in einem blauen Auge hängt, spiegeln, und als das Köpfchen sich wieder erhebt aus dem grünen Blätterwerk, ist an Gustav die Reihe, Elise die Locken aus der Stirn zu streichen.

»Sieh, wie der Mond da oben schwimmt«, sagt Elise. »Warum macht er uns oft so tiefes Heimweh, als ob wir hier auf der Erde gar nicht recht zu Hause wären, Gustav? Sieh, da ist nur noch ein einziger kleiner Stern, mutterseelenallein, wie ein goldener Funken. Sieh – rechts vom Monde!«

»Ich sehe noch zwei!« sagt Gustav, »ganz nah und habe darum auch gar kein Heimweh und – willst du wohl wieder die Augen aufmachen, Blondkopf! – Sieh, das hast du davon; was ich noch Weises sagen wollte, hab ich nun rein vergessen!«

»Dann war's gewiß eine Lüge, Braunkopf!« meint Elise lachend. »Und nun steh auf, der Onkel und die Tante sitzen da den ganzen Abend im Dunkeln; – es ist sehr unrecht, daß wir uns gar nicht um sie bekümmern. Komm, wir müssen wirklich zusehen, ob sie nicht eingeschlafen sind.«

Gewiß waren sie nicht eingeschlafen. Nur das Spinnrad der alten Martha hatte aufgehört zu schnurren, und schlummernd saß sie in ihrem Winkel.

»Soll ich euch Licht anzünden, oder – sollen wir wieder einmal einen Mondscheingang machen?« fragt Elise, mir den Arm um die Schulter legend.

»Euch?« fragt die Tante Helene. »Warum denn nur 'euch' Licht anzünden?«

»Das will ich dir sagen, Mama«, mischt sich Gustav ein. »Du kannst bekanntlich keine Mäuse sehen, und da es seit einiger Zeit hier beim Onkel Wachholder ordentlich von ihnen wimmelt, so sind wir deinetwegen so aufopfernd, im Dunkeln zu sitzen.«

»Waren das etwa Mäuse, was wir da am Fenster knuspern und pispern hörten?« frage ich.

»Ich habe nichts gehört!« sagt Lieschen treuherzig, während Gustav: »Versteht sich!« ruft und den Inhalt eines Obstkörbchens in seine Taschen ausleert.

»Was machst du da, Mäusekönig?« fragt seine Mutter.

»Ich verproviantiere mich zu unserer Mondscheinfahrt, Mama; Lieschens Frage war natürlich höchst überflüssig. Da, Liese, nimm den Rest – ich kann nicht mehr fassen.« Elise läßt sich das nicht zweimal sagen und scheint in der Tat ihre Frage für unnötig zu halten. Nach einigen Einwendungen der Tante wegen kalter Abendluft usw. machen wir uns auf, hinaus in die Sommermondscheinnacht!

Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden, das Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel, die flüsternden Gruppen in den Haustüren und an den Straßenecken, alles wird nun zu einem Bilde für Gustav, zu einem Märchen für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den wundersamsten Gestalten; auf den Ecksteinen lauern zusammengekauert grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Torwegen der alten Patrizierhäuser treten seltsame Gesellen mit nickenden Federn und weiten Mänteln, und schöne Damen besteigen weiße Zelter, in die Nacht davonreitend; Söldner im Harnisch, die Partisanen auf den Schultern, ziehen über den Markt; Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem Domportal und – alles liegt morgen in den hübschesten Skizzen festgebannt auf Elisens Nähtischchen oder treibt sich auf dem Fußboden umher. Natürlich sind Gustav und Elise uns immer einige Schritte voraus, und nur von Zeit zu Zeit kann ich abgerissene Sätze ihrer Unterhaltung erfassen. Ich denke an Paul und Virginie unter den Palmbäumen von Isle de France; ich denke an die beiden süßern Gestalten des deutschen Märchens, an Jorinde und Joringel, von denen es heißt: »Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.« – Nachdem wir manche Straße durchstreift und vor dem erleuchteten Opernhause die ein- und ausströmende Menge, die harrenden Equipagen, die Blumen und Zuckerwerk verkaufenden Kinder betrachtet haben, finden wir uns zuletzt auf dem Schloßplatz an dem Becken des lustig im Mondschein sprudelnden Springbrunnens zusammen. Von den Rasenplätzen bringt ein warmer Luftzug den Duft der Nachtviolen, der Holunder- und Goldregenbüsche zu uns herüber; am südlichen Himmel wetterleuchtet eine dunkle Wolke prächtig in die Mondnacht hinein, und neben uns plätschert und murmelt – als wolle er sich selbst in den Schlaf sprechen – der Springbrunnen. Es ist eine herrliche Sommernacht!

Woran denkt Elise? Wie nachdenklich sie, das Kinn in die Hand gelegt, dem schwatzenden Wasserspiel zuschaut!

»Lieschen, woran denkst du?« fragt die Tante Helene.

»Ihr würdet lachen«, antwortet Elise. »Es ist ein Traum und ein Märchen.«

»Erzählen! erzählen!« ruft Gustav, den Arm ihr um die Hüfte legend.

Was soll ich anfangen heute an diesem einsamen Abend? Ich ergreife ein Heftchen von blaßrotem Papier, bedeckt mit mädchenhaft zierlichen Schriftzügen, durchwoben mit hübschen feinen Federzeichnungen. Da ist's. So erzählte Elise an jenem fernen Abend, als der Brunnen neben uns plätscherte:


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