Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Wer kennt nicht den Wasserhof? Hat ihn nicht Goethe im ›Faust‹ unsterblich gemacht? »Der Weg dahin ist gar nicht schön.« Welcher Weg um diese Stadt ist schön? Es lebe der Wasserhof! Da gibt es Schatten und kühle Lauben am Tage, Musik, bunte Lampen und fliegende Johanniswürmer am Abend; da gibt es Kellner mit einst weißen Servietten, die in der rechten Hosentasche stecken; da gibt es vor allem einen – prächtigen Tanzplatz im Grünen!

»Lieschen, heute morgen hast du mir einen Korb gegeben; ich will dir das verzeihen, wenn du mir jetzt keinen anhängen willst: Mein Fräulein, darf ich um den ersten Walzer bitten?«

»Laß uns erst ankommen, Vetter!« sagt Lieschen, die auf dem ganzen Wege stets die Vorderste wäre, wenn nicht Gustav gleichen Schritt mit ihr hielte. – –

Da sind wir! Heda, da sitzt schon der alte Meister Frey mit der langen Pfeife hinter einer Flasche Wein, behaglich dem lustigen Treiben zuschauend und lächelnd das schwarze Käppchen auf den langen weißen Haaren hin und her schiebend. Schon aus der Ferne winkt er uns, als wir uns durch die Menge drängen, und ruft uns sein »Willkommen« entgegen. Hurra, da ist das »Atelier mit seinen Schwestern«, wie Gustav sagt, und die sechs Nichten des Professors. Eine lustige Gruppe: lange Haare, schwarze Sammetröcke, Kalabreser mit gewaltigen Troddeln, dann wieder weiße Kleider, bunte Bänder, Strohhüte und Gustav und Elise natürlich sogleich mitten dazwischen. Beim heiligen Vocabulus, ist das nicht der lange Oberlehrer Besenmeier, der da, aptus adliciendis feminarum animis, der dicken Frau Rektorin Dippelmann einen Stuhl erobert? Wahrlich, er ist's, und da ist der Rektor selbst, der Ruten und Beile so vollständig abgelegt hat, daß ihn in diesem Augenblick jeder Sekundaner ohne böse Folgen um – Feuer für seine Zigarre bitten könnte. Wen haben wir hier? Darf ich meinen Augen trauen? Der königliche Professor der Gottesgelehrtheit, Hof- und Domprediger Dr. Niepeguck!? – Wirklich, er ist's; mit Frau und Kindern steuert er durch die Menge. »Weg die Dogmatik!« lautet das Studentenlied: warum sollte der alte Hallenser das an einem solchen prächtigen Abend nicht auch noch einmal in – das Doppelkinn summen dürfen? Wie die Universität vertreten ist! Professoren, Privatdozenten und Studenten von allen Fakultäten und Verbindungen! Dacht ich mir's doch, da sind auch die »unmoralischen Menschen«, die Freiwilligen! Natürlich durften sie nicht fehlen! –

»Guten Abend, Cäcilie, Anna! Guten Abend, Elise, Johanne, Klärchen, Josephine! Das ist ja prächtig, daß ihr auch da seid!« schwirrt und summt das durcheinander.

»Gott, wo bleibt mein Tänzer! Der abscheuliche Mensch wird mich doch nicht 'sitzen' lassen?!«

»Auf keinen Fall, mein Fräulein!« sagt der Auskultator Krippenstapel, sein ambrosisches Haupt über die Schulter der erschrockenen Sprecherin streckend und etwas von »nur Personalarrest« murmelnd.

»Lieschen, keinen Korb – bitte!« ruft Gustav, ein Paar wundersame Handschuh anziehend und eine Rosenknospe ins Knopfloch steckend.

»Nun, Vetter, – wenn's denn nicht anders sein kann – so komm schnell, die Musik fängt schon an.«

»Höre, Peter van Laar«, sagt Gustav schon im Rennen zu einem wohlbeleibten Kunstjünger, »wenn du mich wieder auf den Fuß trittst wie neulich, stecke ich dich morgen mit der Nase in dein Terpentinfaß! Komm, Lieschen!« –

Prr – davon sind sie: »Mutwillige Sommervögel.«

Ich habe unterdessen mit der Tante Helene Platz am Tische des Meister Frey genommen, der eben unter schallendem Gelächter eine Schnurre aus seinem italischen Wanderleben beendet. Der Domprediger redet über die Wirkungen des Weißbiers auf seine Konstitution, während Petrus und Paulus, seine Sprößlinge, sich unter dem Tisch wälzen und balgen und die Frau Domprediger sich darüber aufhält, daß die Kellner sich mit der Hand schneuzen.

»Es ist immer noch besser als in die Serviette!« sagt der Rektor Dippelmann, eine Prise nehmend und in der Zerstreuung die Dose der Tante Helene anbietend. An ein und demselben Punkt werden nun zwei Gespräche angeknüpft: die Weiber plumpsen in die große Wäsche und der Domprediger mit dem Rektor Dippelmann in die – Theologie.

»Kommen Sie, Wachholder«, sagt der Professor Frey, »wir wollen lieber den Kindern beim Tanzen zusehen! Mir wird wässerig und schwül zugleich.«

Da ich wirklich etwas Ähnliches in mir spüre, nehme ich den Vorschlag mit Freuden an, und wir wandeln durch die Gänge mit den bunten Lampen und Laubgewinden dem Tanzplatz zu. Da ist ein lustiges Treiben.

»Welche prächtigen Reflexe!« ruft der alte Maler ganz enthusiasmiert. »Sehen Sie, Wachholder, da kommt der Berg, aus dem ich Ihnen trotz seiner sporadischen Bummelei und Liederlichkeit doch noch einen echten Künstler mache. Nun, fanello«, wendet er sich an den Herbeieilenden, »ich hoffe, Ihr werdet meine Mädchen nicht ›dörren‹ lassen – wie sie sagen!«

Der denkende Künstler grinst auf eine unbeschreibliche Weise:

»Wir tun unser möglichstes, Herr Professor. Sehen Sie nur den Peter Laar! Segelt er nicht wie ein wahrer Fapresto mit Fräulein Julie dahin? Hier können Sie sich doch wahrlich nicht beklagen, daß er keine Fortschritte mache. Sehen Sie nur, wie er weiterkommt. Sehen Sie, wie – buff! Dacht ich's doch! Da bohrt er den Auskultator Krippenstapel mit seiner Donna zu Grund! Alle Wetter! Das gibt Skandal! Da muß ich retten!«

»Herr!« schreit der königliche Auskultator wütend aufspringend und seine Tänzerin trostlos-lächerlich auf ihrem »séant« sitzen lassend. »Herr, können Sie nicht sehen, haben Sie keine Augen im Kopfe, Sie ...«

»Halt, Krippenstapel!« fällt hier Gustav ein, den gefallenen Engel des Juristen aufhebend. »Sie sollen fürchterlich gerächt werden, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort! Peter Holzmann, Bamboccio, Ungetüm! ein schreckliches Los harrt morgen deiner! – Mein Fräulein, Sie haben sich doch nicht weh getan? Wollen Sie eine kalte Messerklinge auflegen, das soll gut sein gegen Beulen? – Fräulein Julie, geben Sie doch gefälligst dem dicken Ungeheuer an Ihrer Seite einen tüchtigen Nasenstüber als Vorgeschmack! – Krippenstapel, sei'n Sie ein guter Kerl und fangen Sie keinen Lärm an; kommen Sie, lassen Sie sich von Ihrer Dame eine Stecknadel geben, ehe Sie weiterschweben. Vergessen Sie's nicht, es ist wichtig; ich als Ästhetiker muß das wissen!«

Ein allgemeines Gelächter löst die Sache in Wohlgefallen auf. Krippenstapel schleicht mit seiner Stecknadel ingrimmig ins Gebüsch; seine Dame verkündet hinter ihrem Taschentuch, keine kalte Messerklinge anwenden zu wollen; Peter Holzmann stolpert mit Fräulein Julie zu einem Sitz, und alle übrigen Paare ordnen sich zu einem neuen Tanz.

Schon während des Verlaufs dieser Szene habe ich mich gewundert, nirgends Elisens Lockenkopf hervorlugen zu sehen, nirgends ihr helles Lachen zu hören; als nun ein neuer Tanz beginnt und sie auch jetzt nicht erscheint, wird mir die Sache bedenklich.

»Gustav, heda hier! Wo hast du denn meine Liese gelassen?«

»Ich? – Onkel, fragen Sie lieber: wo hat dich die Liese gelassen. Sie behauptet böse zu sein und ist mit Fräulein Henriette Frey weggelaufen, nachdem sie mich einen – einen ›Teekessel‹ genannt hat.«

»So? – Was habt ihr denn wieder vorgehabt?«

»Ich kann mich auf weiteres nicht einlassen!« sagt der »denkende Künstler«, zieht ein wehmütig-sein-sollendes Gesicht und verschwindet unter der Menge.

»Wenn die Sachen so stehen«, lacht der alte Frey, »so werden die Mädchen jetzt wohl bei der Wäsche und Theologie sitzen. Kommen Sie, wir müssen uns doch erkundigen, was der Friedensstifter (machte er seine Sache nicht prächtig?) da für Unheil und Unfrieden angestiftet hat!«

»Ich kann's mir schon vorstellen«, brumme ich in den Bart, und so schlagen wir uns seitwärts ins Gebüsch und gelangen zu unserm Tisch zurück.

»Richtig, da sitzen die Turteltäubchen!« ruft der Professor. »Wie andächtig sie dem Oberlehrer Besenmeier zuzuhören scheinen und doch ganz wo anders sind! Kurre, kurre, kurre, Fräulein Elise, mein Täubchen, was hat Ihnen denn ein gewisser – hm – gewisser ›Teekessel‹ getan?«

»Wer?« fragt Lieschen, die sich dicht an die Tante gedrängt hat und von ihr mit einem gewaltigen Tuche umwickelt ist, während Henriette an ihrer andern Seite emsig sich mit ihrer Teetasse beschäftigt.

»Wer? fragst du!« nehme ich das Wort. »Nun, wir begegneten eben jemand, der ziemlich nahe am – ›Überkochen‹ war.«

»Ach, du meinst den Vetter! – Pah – der

»Nun, was hat's gegeben? Tante Helene, hat sie Ihnen vielleicht schon ihr Herz ausgeschüttet?«

»Nein!« sagt die Tante. »Haben sie sich wieder gezankt?«

»Es scheint so! Fräulein Henriette, Sie wissen gewiß etwas Näheres davon?«

»Soll ich's sagen, Lieschen?« fragt kichernd Henriette, ihre Freundin am Ohr zupfend.

»Meinetwegen!« sagt Elise, mit einem Gesicht wie Menschenhaß und Reue einen Nachtschmetterling verscheuchend, der ihr um den Kopf flattert und mit aller Gewalt sich in ihren Locken fangen will.

»Er hat – Herr Gustav hat gesagt: – wenn er ihr nicht die Tänzer schicke und Propaganda (ich glaube, so heißt's) für sie mache, so würde sie – ihr Lebtag außer ihm keinen kriegen. Sie müsse daher hübsch dankbar und zuvorkommend gegen ihn sein und« –

Ein Ausruf des Entsetzens entringt sich allen.

»Abscheulich!« ruft die Tante Berg. »Finis mundi!« lacht der Rektor Dippelmann. »Schändlich!« ächzt die Frau Rektorin; »Gräßlich!« die Frau Dompredigerin. »Beim Himmel, das ist stark!« meint ihr Gemahl. »Das hätte ich nicht gedacht!« brumm ich. »Das soll er büßen«, ruft der Professor Frey, »und...«

»Er büßt es schon!« sagt eine Stimme, und der Übeltäter guckt durch das Gebüsch hinter Elisens Platze. »Teilweise hat er es sogar schon gebüßt!«

Mit diesen Worten windet sich der Blasphemist vollends hervor, schiebt sich ganz sachte zwischen seine Mutter und Elise, die schnell nach der andern Seite rückt, wohin er ihr ebenso schnell folgt. Seinen Arm um sie legend, hält er folgende Rede: »Lieschen, englische Kusine Ralff, ich beschwöre dich, höre mich! – Glaubst du etwa, ich habe, nachdem du jenem Schauplatz eitler Freuden den Rücken gewandt, weitergewalzt? Du irrst! Du irrst! Gute Werke habe ich getan, meine Schuld zu sühnen: den edlen Holzmann – Holzmann, komm mal her und gib mir die Schachtel mit den feurigen Tränen! –, den edlen Holzmann habe ich aus den Klauen des racheschnaubenden Krippenstapels gerettet; Fräulein Thekla Stichel habe ich aus der amüsantesten aller Lagen, oder vielmehr Sitzungen, emporgezogen; als mitten im Contretanz dem Freiwilligen Breimüller der Steg riß und ihm die Unnennbare bis zum Knie hinaufschnurrte, habe ich ihm eine Droschke herbeigepfiffen; kurz überall, wo Tränen zu trocknen waren, war auch ich – wie gesagt, nur um meine Schuld zu büßen. Und hier, Lieschen (Holzmann, gib mir die Schachtel), nicht allein getrocknet habe ich Tränen, auch gesammelt habe ich welche! – Sieh, Lieschen!«

Einen Ausruf der Verwunderung und Freude stößt Elise trotz ihrem Groll aus, als ihr der Bösewicht den Inhalt seiner Schachtel in den Schoß schüttet und unzählige funkelnde, leuchtende Johanniswürmer um sie herum kriechen und schwirren.

Die Lampen sind weit genug entfernt, daß die Tierchen in ihrem ganzen Glanz erscheinen können, und es ist wirklich ein hübscher Anblick – diese besternte Elise!

»Das sind meine Reuetränen, und du – kriegst Tänzer leider zu viel – ohne mich! – und ich bin ein Teekessel und et cetera – Lieschen?! – Lieschen, gucke mich mal an!«

»Taugenichts!« sagt Elise, dem Sünder in die Haare greifend, und – der Friede ist geschlossen! –

War denn der alte Meister Frey an diesem Abend ganz aus Rand und Band? Auf einmal verkündete er, daß er seinen morgenden 69sten Geburtstag (es war der letzte seines Lebens) jetzt feiern wolle, da bei solchen Gelegenheiten das Improvisieren den wahren Genuß und Jubel hervorbringe. Das halbe Atelier machte er halb betrunken, die ganze weibliche Welt ganz angeheitert. Ein Kranz wurde ihm aufgesetzt trotz allem Sträuben – ein Kranz, der nur so sein mußte. Der Domprediger hielt eine Rede, die »verehrter Greis« anfing und ähnlich endete, und Reden wurden losgelassen und Toaste ausgebracht bis zwölf Uhr. Dann erhob sich das alte bekränzte Geburtstagskind, beklagte sich über Nachtkühle und Nachtfeuchte, und – das Fest war vorbei.

Vorbei! Wo sind heute alle die, welche es feierten?

Tot ist der alte Meister Frey, zerstreut in alle Welt sind seine Schüler. Peter Holzmann, genannt Peter van Laar, oder auch Bamboccio, ist 1849 in einer römischen Villa von französischen Plünderern erstochen, als er eine Raphaelsche Madonna vor ihrer Zerstörungswut schützen wollte. Der Domprediger ist noch immer nicht zum Mormonentum übergetreten, und der Oberlehrer Besenmeier hat Fräulein Julie Frey geheiratet und steht – »mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei« – fürchterlich unter dem Pantoffel. Die Frau Rektor Dippelmann knüpft noch wie immer alle Morgen ihrem Gemahl die Halsbinde um, steckt ihm das Butterbrot, in die gestrige Zeitung gewickelt, in die Rocktasche und sieht ihm stolz nach aus dem Fenster, wie er über die Friedensbrücke nach dem Schimmelstädtischen Gymnasium wandelt.

Und Gustav und Elise? – – – Ich werde nachher dieses Blatt der Chronik hinübertragen zu jener schönen ältlichen Frau in Nr. zwölf der Sperlingsgasse, deren Fortepianoklänge sich schon den ganzen Nachmittag über in meine Gedanken verwoben haben. Dann werden wir von Gustav und Elise sprechen!


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